Ein Polizeiauto in der menschenleeren Münchner Fußgängerzone im Frühjahr 2020.
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Vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Coronapandemie im Frühjahr 2020, kontrolliert von der Polizei in München.

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Debatte über Corona-Aufarbeitung: Wie geht Bayern damit um?

Nachdem immer mehr Bundespolitiker eine Aufarbeitung der Corona-Jahre fordern, rückt auch das bayerische Vorgehen in den Fokus. Einig sind sich Vertreter der Parteien, dass aus heutiger Sicht Fehler gemacht wurden. Aber nicht darüber, was zu tun ist.

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Immer wieder bayerische Alleingänge: Wenn Bund und Länder in den Corona-Jahren um eine gemeinsame Linie rangen, dauerte es oft nicht lange, bis sich Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mit dem Kompromiss unzufrieden zeigte. "Reicht nicht", war von Söder dann häufig zu hören. Als Spitzenvertreter des "Teams Vorsicht" setzte er in Bayern besonders strenge Corona-Beschränkungen durch – ehe er nach gut eineinhalb Jahren zum "Team Augenmaß" überwechselte und gegen Ende der Pandemie zum Vorreiter von Lockerungen wurde.

Nachdem sich auf Bundesebene nun die Rufe nach einer umfassenden Aufarbeitung der Corona-Politik mehren, rückt auch das bayerische Vorgehen in den Blick. Die Gesundheitsexpertin der Freie-Wähler-Fraktion, Susann Enders, bekräftigt ihre Forderung nach einer politischen Analyse der Vorgänge im Freistaat. "Der Versuch, eine Gesellschaft vor einer unbekannten Krankheit zu bewahren, ist teilweise gelungen – und teilweise kläglich gescheitert", sagt sie BR24. Es seien gute und schlechte Entscheidungen getroffen worden. "Eine Aufarbeitung dieser Entscheidungen, der Abläufe, der Vorgänge in der Corona-Pandemie ist zwingend notwendig."

Corona-Verordnungen: Über 100 verschiedene Fassungen

Zwischen März 2020 und 2023 erließ das bayerische Gesundheitsministerium 17 Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen, die 87 Mal geändert wurden. Es gab im Freistaat also mehr als 100 verschiedene Fassungen dieser Verordnungen, die im Lauf der Zeit vielfältige Beschränkungen festlegten – von Ausgangsbeschränkungen, Kita- und Schulschließungen über Masken- und Testpflichten bis hin zu 3G- und 2G-Regelungen.

Mit Enders pocht eine Vertreterin der bayerischen Regierungsparteien auf eine breite Debatte über die Corona-Zeit. "Wir alle haben unsere Hausaufgaben zu erledigen – die Politik, die Wirtschaft, die Bürger und auch die Medien." Insbesondere das öffentliche Ausschlachten von persönlichen Gesundheitsdaten oder die Spaltung der Gesellschaft in "geimpft" und "ungeimpft" dürfe nie wieder passieren, mahnt sie.

Grüne: Gefahr der parteipolitischen Instrumentalisierung

Die Grünen hätten sich schon zu einem frühen Zeitpunkt der Pandemie eine begleitende Aufarbeitung gewünscht: Seine Fraktion habe bereits 2020 den Antrag gestellt, "dass man mittels Kommission fachübergreifend die Entscheidungen begleitet und evaluiert", sagt Grünen-Fraktionsvize Johannes Becher gegenüber BR24 - gerade weil es in einer solchen "Sondersituation" unwahrscheinlich schwierig sei, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Dies hätte laut Becher eine systematische Pandemieaufarbeitung erleichtert und den Freistaat auch auf künftige Krisen besser vorbereitet. Die Staatsregierung habe diesen Vorschlag damals abgelehnt, bedauert der Grünen-Politiker und fügt hinzu: "Und jetzt besteht die Gefahr, dass die Aufarbeitung im Nachhinein für parteipolitische Profilierung von der falschen Seite missbraucht wird."

AfD attackiert Söder

AfD-Fraktionschefin Katrin Ebner-Steiner geht mit der Corona-Politik der Staatsregierung hart ins Gericht. Sie wirft dem Ministerpräsidenten vor, die Bevölkerung bewusst unterdrückt zu haben, spricht von "unsinnigen Schulschließungen", "schikanösen Maskenpflichten" und einer "Hetze" gegen Maßnahmenkritiker.

Aus Sicht der AfD-Fraktionschefin braucht es "selbstverständlich" eine Aufarbeitung, auch in Bayern sei dies "bitter nötig": "Das zeigen ja trotz aller Schwärzungen die jetzt veröffentlichen Protokolle aus dem Robert-Koch-Institut." Ihre Fraktion habe schon im Sommer 2022 die Einsetzung einer Enquete-Kommission gefordert, die aus 18 Abgeordneten und 12 weiteren Mitgliedern gebildet werden solle.

Auch die AfD unterstützte anfangs harte Corona-Maßnahmen

Die AfD-Politikerin kritisiert, in der Pandemie seien demokratische Entscheidungsprozesse "ausgehebelt" und Freiheitsbeschränkungen aufgrund "reiner Spekulation" vorgenommen worden. Was Ebner-Steiner nicht sagt: Die harten bayerischen Beschränkungen zu Beginn der Pandemie im März 2020 – als noch wenig über das Virus bekannt war – wurden von allen Landtagsfraktionen mitgetragen, auch von der AfD. Deren damaliger Fraktionschef Ingo Hahn betonte in der Landtagsdebatte über die Maßnahmen: China habe "durch strikte Einschränkung der zwischenmenschlichen Kontakte gezeigt, dass man die Krise in den Griff bekommen kann".

Lange hielt die Einigkeit nicht, bald gingen die Meinungen über den richtigen Corona-Kurs auseinander – auch innerhalb von Parteien. Zwar konnte das Gesundheitsministerium Corona-Regeln per Verordnung auf den Weg bringen, also ohne Beteiligung des Parlaments, dennoch standen sie im Plenum immer wieder zur Debatte und auch zur Abstimmung. Söder hielt mehr als ein Dutzend Regierungserklärungen zu Corona, darüber hinaus gab es im Landtag Regierungsbefragungen.

SPD: Folgen der Schulschließungen ausdiskutieren

Die Pandemie und die Maßnahmen hätten große Belastungen für die Menschen mit sich gebracht, betont SPD-Fraktionschef Florian von Brunn. "Und natürlich sind auch Maßnahmen umstritten." Er habe beispielsweise nie verstanden, warum Söder den Menschen verboten habe, "gemeinsam mit ihrer Frau, ihrem Lebenspartner auf einer Parkbank zu sitzen".

Es sei auch noch nicht ausreichend darüber diskutiert worden, welche Folgen die Schulschließungen für Kinder, Mütter und Familien hatten. "Deswegen spricht einiges dafür, das aufzuarbeiten, es gibt sicherlich auch Gründe dagegen", sagt von Brunn. "Wir werden das in der Partei und in der Fraktion besprechen."

Holetschek: "Nicht zu handeln, wäre keine Option gewesen"

CSU-Fraktionschef Klaus Holetschek verweist darauf, dass "wir natürlich jetzt ein anderes Wissen haben". Die Studienlage sei eine ganz andere als in den ersten Monaten der Pandemie. Deswegen würde die Politik bei Kindern und Jugendlichen jetzt wohl auch anders handeln als damals, sagt er mit Blick auf Schulschließungen. Zugleich betont er aber, dass alle Entscheidungen unter der Prämisse gestanden hätten, Menschenleben zu schützen und zu retten. "Wir haben gehandelt. Nicht zu handeln wäre keine Option gewesen."

Holetschek stand als Gesundheitsstaatssekretär und später als Gesundheitsminister im Kampf gegen Corona selbst in der ersten Reihe. Er wendet sich gegen Behauptungen, die Politik habe ohne sachliche Grundlage entschieden. "Wir haben uns abgesprochen mit Expertinnen und Experten. Im Bund wurde intensiv diskutiert – Entscheidungen, die wir dann in den Ländern auch übernehmen mussten und auch noch mal auslegen und abwägen mussten." Die Belastungen für die Menschen sind ihm bewusst: "Wir haben natürlich den Menschen viel zugemutet." Insgesamt aber sei Bayern vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Auf die Frage der Aufarbeitung geht Holetschek nicht direkt ein.

Natürlich müssten aus der Corona-Zeit Lehren gezogen werden, sagt der CSU-Politiker. Das geschehe in Bayern längst. "Das Gesundheitsministerium arbeitet natürlich daran: Was ist denn zu tun, um gut vorbereitet zu sein auf zukünftige Ereignisse?" Daraus sei beispielsweise ein Pandemie-Zentrallager entstanden, die Digitalisierung der Gesundheitsämter sei vorangetrieben worden.

Corona-Maßnahmen wurden von Gerichten überprüft

Viele Corona-Beschränkungen wurden nach und nach von Gerichten überprüft. In zahlreichen Verfahren wurden Maßnahmen bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht stufte beispielsweise die "Bundesnotbremse" aus dem Frühjahr 2021, die Maßnahmen und Infektionszahlen verknüpfte, als rechtens ein.

Mehrfach wurden Beschränkungen aber auch als rechtswidrig eingestuft. So kippte in Bayern der Verwaltungsgerichtshof die 15-Kilometer-Grenze für Bewohner in Corona-Hotspots, die 2G-Regel im bayerischen Einzelhandel, das Übernachtungsverbot für Menschen aus Corona-Hotspots, das bayernweite Grillverbot, die Corona-Testpflicht für Grenzgänger und die vorgezogene Sperrstunde ab 22 Uhr für die Gastronomie. Die Corona-Ausgangsbeschränkung vom Frühjahr 2020 stufte auch das Bundesverwaltungsgericht als unverhältnismäßig und unwirksam ein.

Juristin fordert "Eingestehen von Fehlentscheidungen"

Ein Großteil der rechtlichen Aufarbeitung sei schon durch Gerichte erfolgt, sagt Eva Julia Lohse, Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Bayreuth. Jenseits dieser Entscheidungen hält sie eine "transparente Aufarbeitung durch den Staat und ein Eingestehen von Fehlentscheidungen" für nötig.

Studien zeigten, dass die Bereitschaft, Gesetze zu befolgen, abnehme, "wenn Menschen schlechte Erfahrung mit der Staatsmacht gemacht haben oder wenn Regeln unsinnig erscheinen". Beides treffe auf Corona-Maßnahmen zum Teil zu. Dies führe bis heute dazu, dass Menschen Gesetze oder den Staat als solchen ablehnten.

Für eine umfassende Aufarbeitung kommen der Expertin zufolge eine Enquete-Kommission oder ein Untersuchungsausschuss des Landtags infrage. "Als kleine Variante wäre sicher auch zunächst eine Kleine Anfrage zum Beispiel der Oppositionsparteien im Landtag eine Möglichkeit, bei der alle Mitglieder des Kabinetts einschließlich des Ministerpräsidenten zu einer Stellungnahme zu den damaligen Maßnahmen aufgefordert werden könnten."

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