Brandenburger Tor am 17.09.23 (Archivbild)
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Brandenburger Tor am 17.09.23 (Archivbild)

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Historikerin: "Würdiger Gebrauch unseres Nationaldenkmals"

Mit einem Tweet zur Farb-Attacke der "Letzten Generation" auf das Brandenburger Tor, hat die Historikerin Hedwig Richter auf X, ehemals Twitter, für Aufsehen gesorgt. Ihre Position weiß sie gegen den Shitstorm zu verteidigen.

Über dieses Thema berichtet: kulturWelt am .

Hedwig Richter sieht nicht aus, als wäre sie geknickt über den Sturm der Empörung, den ihr Kommentar bei X – ehemals Twitter – ausgelöst hat. Ja, sagt sie, das Brandenburger Tor sei der richtige Ort, um auf ein so dringliches Problem wie den Klimawandel aufmerksam zu machen: "Es ist ja in gewisser Weise auch eine Wunde. Und diese Wunde, die man hier am Brandenburger Tor angebracht hat, ist eine Erinnerung an die Zerstörung, die die Menschen tagtäglich vollbringen."

Wird der Demokratie die Grundlage entzogen?

Die Frage an die Historikerin lautet allerdings, ob eine solche Aktion auch tatsächlich dazu beiträgt, dass die gesellschaftliche Zustimmung zum Klimaschutz steigt. Richter, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte, hat 2020 ein Buch über die deutsche Demokratie veröffentlicht, das vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart reicht. Als Demokratieforscherin sei sie der Meinung, dass mit der Zerstörung des Planeten, mit einer ungebremsten Klimaerwärmung, dem Artensterben usw. auch der Demokratie die Grundlage entzogen würde.

Dennoch bleibt ein Dilemmma, dass auch Menschen, die von der Notwendigkeit des Klimaschutzes überzeugt sind, den Aktionen der "Letzten Generation" skeptisch gegenüber stehen. Kartoffelbrei auf ein Gemälde von Monet, Ankleben an Raffaels Sixtinische Madonna und jetzt die Einfärbung des Brandenburger Tors.

Historikerin: Radikale Gruppe legitimiert weniger radikale

Hedwig Richter führt die Theorie vom "Radical flank effect" an. Sie entstand in den 1970er- und 80er-Jahren bei der Erforschung der Frauen- und Bürgerrechtsbewegung. "Radical flank theory bedeutet", so erklärt Richter: "Eine radikale Gruppe wird aktiv und legitimiert durch ihre Radikalität und ihre Unbeliebtheit die weniger radikale Gruppe. Das wäre bei uns 'Fridays for Future', sodass die Auftrieb bekommen durch die Last Generation."

Allerdings, die letzte Großdemonstration von "Fridays for Future" verlief in Berlin drei Tage vor der Aktion am Brandenburger Tor ohne allzu großes Medienecho – obwohl 250.000 Menschen gekommen waren. Sind also spektakuläre Aktionen zwingend, um die Politik "wachzurütteln"?

Richter: Umweltschutz zur bürgerlichen Tugend erklären

Richter sieht zum einen die Regierung in der Pflicht: Als Demokratie-Historikerin plädiert sie für ein Eingreifen der Regierung: In einer liberalen Demokratie sei die Regierung unwahrscheinlich wichtig. Und in einer repräsentativen Demokratie könne die Regierung sehr, sehr stark auch Dinge tatsächlich exekutieren. Demokratie sei nicht Demoskopie, sie müsse nicht darauf schielen, was Mehrheiten bringe.

Zum anderen schlägt sie vor, den Schutz der Erde zur selbstverständlichen bürgerlichen Tugend zu erklären. "Also, dass wir uns dessen bewusst werden, wie zutiefst unanständig das ist, ein großes Auto zu haben. Mit dem durch die Gegend zu fahren, zu fliegen. Fleisch zu essen. Das würde ich total wichtig finden."

In ihrer Forschung geht Richter auch der Frage nach, wie der Umgang mit dem Körper Hinweise auf die Qualität von Demokratie liefert. Das Festkleben, das Sitzen, das Blockieren interpretiert die Wissenschaftlerin als eine Geste der Verzweiflung: Sie empfinde das sehr stark, dass diese Menschen sich auslieferten und dass sie dadurch auch sehr stark ein Zeichen setzten, wie sehr unsere Körper ausgeliefert seien. Der Klimawandel und das Artensterben, die Transformationen, die wir beobachten, führten uns - so Richter - noch einmal ganz deutlich vor, wie stark wir körperlich von der Umwelt abhängig seien. So würden zum Beispiel Ernten wahrscheinlich durch die Hitze geringer.

Akademiemitglieder fordern Tempolimit

Die Spuren des stummen Protestes der "Letzten Generation" am Brandenburger Tor sind inzwischen weitgehend verschwunden. Dafür tauchen jetzt an der Fassade der Akademie der Künste direkt neben dem Brandenburger Tor Statements von Akademiemitgliedern zum Klimaschutz auf: "120 auf der Autobahn" fordert der Schriftsteller Uwe Timm. Und die Komponistin Iris ter Schiphorst mahnt: "Hören Sie auf, die Bevölkerung zu polarisieren".

Richter, nach ihrem Statement zum Klimaschutz gefragt, antwortet: "Wahrscheinlich tatsächlich ganz optimistisch, wir können das, aber wir müssen es jetzt auch wirklich machen."

Dieser Artikel ist erstmals am 27. September auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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