Bei einer Begegnung im November 2023 im Kreml
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Neuer Verteidigungsminister Beloussow bei Putin

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"Verrückte Fantasien": Droht Putins Armee "Desorganisation"?

Russische und US-Medien berichten von schweren Auseinandersetzungen im Kreml, im Verteidigungsministerium gehen die Festnahmen weiter: Putin habe "den Glauben" an die Fähigkeiten des russischen Militärs verloren und greife deshalb rabiat durch.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Nach der "Versetzung" des russischen Verteidigungsministers Sergej Schoigu in den Sicherheitsrat, die der Kreml keinesfalls als "Degradierung" verstanden wissen will, gehen die "Aufräumarbeiten" an der früheren Arbeitsstätte weiter: Der Leiter der Personalabteilung des Ministeriums, der gleichzeitig Staatsschutz-Experte und – so will es die Ironie – Antikorruptions-Beauftragter war, wurde festgenommen. Juri Kusnesow wird "schwerwiegende" Bestechlichkeit mit Luxusartikeln vorgeworfen.

Gleichzeitig traten drei stellvertretende Verteidigungsminister "aus freiem Willen" zurück, nachdem zuvor ein vierter wegen Korruption in großem Stil verhaftet worden war. All diese Vorgänge stehen für eine große Unruhe in der russischen Sicherheitspolitik, die naturgemäß für eine hektische Debatte sorgt.

"Gefährlich, Führungskraft zu sein"

So berichtete der US-Nachrichtendienst Bloomberg unter Berufung auf mehrere Informanten [externer Link], Putin habe Schoigu geschasst, weil er "den Glauben verloren" habe, dass das Verteidigungsministerium in der Lage sei, den Krieg fortzuführen. Insbesondere die Nachschubprobleme habe Schoigu nicht in den Griff bekommen. Offiziell hieß es, Nachfolger Andrej Beloussow solle dafür sorgen, dass die Rüstungswirtschaft effektiver werde und sich in die wirtschaftlichen Strukturen einpasse. In der britischen "Financial Times" wurde analysiert, Putin setze seine Hoffnungen jetzt ganz auf die Rüstung, um die Armee "so lange wie möglich" am Laufen zu halten.

In russischen Blogs war zu lesen, der endgültige Vertrauensbruch zwischen Putin und Schoigu sei im April vollzogen worden, als der Ex-Verteidigungsminister nach dem Terroranschlag in Moskau ohne Genehmigung mit seinem französischen Amtskollegen Sebastien Lecornu telefonierte. Danach hatte Schoigu öffentlich verkündet, Russland sei jederzeit bereit für Verhandlungen. Das hatte für erhebliches Aufsehen gesorgt.

Der Kolumnist des russischen Wirtschaftsblatts "Kommersant", Dmitri Drise, hatte sich gefragt, wie das wohl zu verstehen sei und geschrieben: "Heutzutage ist es gefährlich, eine Führungskraft zu sein; kollektive Entscheidungen sind sicherer. Wenn Sie auf etwas antworten, dann besser alle zusammen. Inzwischen ist es noch zu früh, Schlussfolgerungen zu ziehen; die Situation entwickelt sich weiter."

Propagandist: "Verrückte Fantasien von Feinden"

Kremlsprecher Peskow betonte pflichtschuldigst, vor einer "Desorganisation" im Verteidigungsministerium habe der Kreml "keine Angst". Der kremlnahe Propagandist Sergej Markow tadelte solche Informationen als "verrückte Fantasien von Feinden" und kritisierte Meinungen, wonach es wegen der Säuberungsaktionen "unweigerlich zu Auflösungserscheinungen an der Spitze der russischen Armee" kommen werde.

Markow sprach von "irrsinnigen Leuten" im Westen, die glaubten, dass Russland wegen der neuen US-Waffenlieferungen ohnehin nur noch zwei Monate Zeit habe für die laufende Offensive, und diese kostbare Zeit mit "internen Problemen" verschwenden werde.

Ab jetzt werde der Krieg von Putin persönlich und dem Generalstab geleitet, kommentierte ein weiterer Blogger: "Es gibt in der Geschichte viele Beispiele dafür, dass Staatsoberhäupter von ihrem eigenen Militär gestürzt wurden." Das Problem mit dem neuen Verteidigungsminister Beloussow sei, dass "99 Prozent der Soldaten keinen Zivilisten auf diesem Posten" sehen wollten: "Und wie wir wissen, ist die Sichtweise an der Front für eine faire Machtbalance ausgesprochen wichtig." Im Übrigen habe der gelernte Ökonom und Top-Manager Beloussow für eine von ihm früher geleitete Stiftung US-Gelder angenommen.

"Streit im Kreml über Nachschubprobleme"

In der Nacht auf den 1. Mai habe es im Kreml einen "ernsthaften Streit" zwischen Putin und Schoigu über die Kriegsaussichten gegeben, so ein gewöhnlich gut unterrichteter Telegram-Kanal [externer Link]. Grund dafür: Der damalige Noch-Verteidigungsminister hatte öffentlich die Nachschubprobleme angesprochen. Sauer sei Putin auch auf seinen Vorgänger im Präsidentenamt, Dmitri Medwedew, der regelmäßig aggressive Posts ins Netz stellt und sich eigentlich um die Rüstungswirtschaft kümmern soll. Die Geheimdienst-Ermittlungen im Verteidigungsministerium hätten das dortige "Betriebsklima" erheblich beeinträchtigt.

"Wie in einer Kunstkammer"

Aus der Sicht des Exil-Politologen Anatoli Nesmijan will Putin seine allzu selbstbewusst gewordenen Generäle zur Demut erziehen: "Die Generäle sitzen jetzt hoch zu Ross wie die Ärzte während der Pandemie und halten sich daher möglicherweise für geeignet, bedeutendere Machtpositionen einzunehmen. Es ist also an der Zeit, sie auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und sie einzuladen, den Platz, der ihnen gebührt, nicht zu vergessen."

Der ebenfalls im Ausland arbeitende Politikwissenschaftler Wladimir Pastuchow schrieb ironisch, der verstorbene Söldnerführer Jewgeni Prigoschin habe als "kahlköpfiger Teufel" endlich seinen Lieblingsfeind Schoigu aus dem Jenseits "erledigt". Die ehemalige "Wagner"-Truppe hatte Schoigu mit wüsten Schmähungen überzogen, auch wegen der Nachschubprobleme: "Der Zar entzog Schoigu dem menschlichen Auge und schob ihn hinter den Vorhang des Sicherheitsrats, eines bekannten Staubfängers, wo in den Regalen, wie in einer Kunstkammer, verschiedene Exponate und exotische Persönlichkeiten vor sich hindämmern, deren Unterhalt bei Hofe zu teuer geworden ist."

Der russische Politik-Kommentator Georgi Bovt sprach von einem "allgegenwärtigen Herbst", der über Russland hereingebrochen sei: "Es sieht so aus, als ob in der Region Moskau eine durchgreifende Säuberung bevorsteht. Nur ein sehr reiches Land kann es sich leisten, zu kämpfen und gleichzeitig Generäle Gelder abstauben zu lassen. Aber nicht auf unbestimmte Zeit."

Wirtschaftsfachmann: Putin muss 2027 nachgeben

Der viel zitierte russische Wirtschaftsfachmann Igor Lipsitz argumentiert, die Rüstungswirtschaft sei keineswegs Putins Hauptproblem. Die "Putinomics" würden schon irgendwie funktionieren. Ihm würden vielmehr bald die Soldaten ausgehen, denn anders als zu Sowjetzeiten seien die Reihen der Reservisten stark gelichtet: "Daher glaube ich, dass die männliche Bevölkerung irgendwann einfach erschöpft sein wird. Und selbst für viel Geld werden die Menschen zweifeln, ob sie in den Krieg ziehen sollen."

Lipsitz wagte sogar eine sehr konkrete Prognose. 2027 werde Putin keine andere Wahl haben, als einzuknicken: "Ich denke, dass ein solcher Krieg in seiner jetzigen Intensität noch höchstens drei bis fünf Jahre andauern kann. Jetzt hält Russland noch die Front und rückt sogar vor, aber nur, weil die [westliche] Hilfe für die Ukraine nicht sehr groß ist." Eine zweite Mobilisierung werde Putin nicht wagen, bei noch mehr westlicher Unterstützung der Ukraine gerate die russische Armee "aus den Fugen".

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