Historische Landkarte mit Flurnamen und Ahnenforscherin Dr. Yeshi Rösch
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Flurnamen · Ist Bayerns heimliches Gedächtnis in Gefahr?

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Flurnamen: Die Rettung des heimlichen Gedächtnisses von Bayern

Flurnamen drohen in Vergessenheit zu geraten, "Arschrinne" etwa, eine historisch gewachsene Landschafts-Bezeichnung. Doch hinter Flurnamen steckt jahrhundertealtes Wissen. Forscherinnen und Forscher versuchen, dieses bayerische Gedächtnis zu retten.

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Ein enges Tal zwischen zwei Hügeln, irgendwo in Franken: Was von der Topografie her entfernt an ein intimes Körperteil erinnert, nannte man früher unverhohlen beim Namen: "Arschrinne". Der Historiker und Vorsitzende des Verbands für Orts- und Flurnamenforschung Michael Henker erklärt: "Die Menschen, die da ursprünglich an der 'Arschrinne' saßen, denen war es wurscht. Darum haben sie es so genannt." Doch als der Name amtlich auftauchte, habe man es irgendwo "als anrüchig empfunden." So habe man die fränkische "Arschrinne" eingedeutscht, sie zu "Arztkinn" gemacht – und ihr so die Anstößigkeit genommen.

Flurnamen: Was aus der Bezeichnung "Arschrinne" wurde

Bei der "Arschrinne" jedenfalls handelt es sich um einen sogenannten Flurnamen. Das sind historisch gewachsene Bezeichnungen von Teilen einer Landschaft, die zum Beispiel in alten Karten eingetragen sind oder sogar nur mündlich von Generation zu Generation überliefert wurden.

Flurnamen sind eng mit der lokalen Geschichte und Kultur verbunden und bieten Einblicke in die Beziehung einer Gemeinschaft zu ihrer Umgebung, bestätigt auch Michael Henker: "Flurnamen kann man als heimliches Gedächtnis oder als eines der Gedächtnisse Bayerns bezeichnen, eben weil sich in ihnen so viel Geschichtliches widerspiegelt."

Darum ist das heimliche Namensgedächtnis Bayerns bedroht

Laut dem Historiker ist dieses Wissen um die Flurnamen aber bedroht. Man brauche dieses "Gedächtnis" heute im Grunde gar nicht mehr. Landvermessungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die darauffolgenden Umstrukturierungen und Umbenennungen in Bayern führten dazu, dass zahlreiche Flurnamen zunehmend in Vergessenheit gerieten.

So verstanden die Landvermesser etwa die diversen lokalen Dialekte nicht, oder die Namen waren ihnen schlichtweg zu vulgär, wie das obige Beispiel zeigt.

Flurnamen als immaterielle Zeugnisse von Geschichte und Kultur

Dabei ist die Bedeutung der Flurnamen heute unbestritten: Sie belustigen nicht nur mit ihrer manchmal obszönen Direktheit, sie helfen auch Archäologen, Geologen und Historikern bei der Arbeit. Zum Beispiel sind sie Zeugnisse einer Kultur, die im ländlichen Bayern einst präsenter war, als sie es heute ist: dem Judentum. Dementsprechend taucht auch der Eintrag "Judenweg" oder eine seiner Varianten, wie "Judenpfad", in alten bayerischen Karten Hunderte Male auf.

Die Judenwege zeugen von einer jahrhundertelangen jüdischen Siedlungsgeschichte - und von so manchen Grausamkeiten, die die Juden in Bayern erleiden mussten. Insbesondere in der Region Waldsassengau in Unterfranken, westlich von Würzburg, kommen sie häufig vor. Laut Yeshi Rösch, ehemals Jüdisches Museum Berlin, stellten sie wichtige Handelsrouten dar: "Juden wurden ja zu Mobilität gezwungen. Sie durften ab einem bestimmten Zeitraum keine Äcker mehr besitzen, keine Bauern sein. Sie wurden auf bestimmte Handelsberufe begrenzt." Gerade in Franken sei das vor allem der Viehhandel gewesen, der getrennt über die Judenwege lief.

"Judenwege" erinnern auch an grausame Pogrome

Doch diese Judenwege erzählen insbesondere auch von Hetze und Verfolgung, zum Beispiel in Röttingen. Ausgehend von dem Städtchen im Taubertal war es im 13. Jahrhundert aufgrund eines angeblichen Hostienfrevels [externer Link] zu mehreren Pogromen gekommen, so Yeshi Rösch: "Auf diesem Judenweg sollen angeblich nach einer Quelle von 1858 die Röttinger Juden verbrannt worden sein."

Dieser Pogrom in Röttingen habe dann eine Welle der Gewalt ausgelöst, die letztlich dazu geführt habe, dass ungefähr 5.000 Juden in etwa 130 Städten getötet worden seien.

UNESCO: Flurnamenforschung als Musterbeispiel

Die einzigen Überbleibsel, die vor Ort an die Opfer dieses Pogroms erinnern, sind ein alter Flurnameneintrag und einige Schilder mit der Bezeichnung "Judenweg". So ist es unter anderem an den Forschenden des Verbands für Orts- und Flurnamenforschung, dieses Wissen für kommende Generationen zu bewahren, im Sinne eines bewussten Umgangs mit Erinnerungskultur.

Sogar die UNESCO [externer Link] würdigte im Jahr 2016 die Tätigkeit des Verbandes als Musterbeispiel für die Arbeit am Immateriellen Kulturerbe Bayerns.

Der Verband für Orts- und Flurnamenforschung in Bayern ist dankbar für Hilfe aus der Bevölkerung. Hier gibt es weiterführende Hinweise zum Flurensammeln.

Dieser Artikel ist erstmals am 19.04.2024 auf BR24 erschienen. Das Thema ist weiterhin aktuell. Daher haben wir diesen Artikel erneut publiziert.

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