Bayern 2 - Kulturjournal


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Der eingefrorene Krieg Juri Andruchowytsch über die Ukraine und Europa

Juri Andruchowytsch ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Ukraine. Der eingefrorene Krieg im Osten des Landes ist für ihn ein geopolitischer Konflikt, gegenüber Russland wünscht er sich eine konsequente Haltung der Europäer.

Stand: 26.10.2016

Juri Andruchowytsch | Bild: picture-alliance/dpa / Karl Schöndorfer / picturedesk.com

Wenn es um den Konflikt in der Ost-Ukraine geht, ist Juri Andruchowytsch parteiisch: Die Verantwortung lasse sich nicht beiden Seiten zuschreiben, es gebe mit Russland einen Aggressor und mit der Ukraine ein Land, das seinen eigenen Weg in die Zukunft zu verteidigen habe. Andruchowytsch hat die Proteste auf dem Maidan, die am Anfang dessen standen, was später ein Krieg wurde, im Winter 2013/14 miterlebt, er war dabei, als Zehntausende gegen die Gewalt demonstrierten, mit der die Janukowitsch-Regierung ihre Macht erhalten wollte. Der Widerstand richtete sich zunächst gegen die Weigerung Janukowitschs, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, wurde aber immer mehr zum Protest gegen den Präsidenten selbst. Und zunächst sah alles nach einem Sieg aus der Demonstranten aus: Janukowitsch trat zurück, eine Übergangsregierung übernahm die Amtsgeschäfte.

Eine europäische Perspektive für die Ukraine?

Doch die Hoffnung bei denen, die auf eine Annäherung des Landes an Europa gesetzt hatten, wurden bitter enttäuscht: Putin nutzte die fragile Situation aus und besetzte die Krim mit Truppen. Und die Europäer, die wohl zu spät begriffen, wie provokant ihre Annäherung an die Ukraine für Russland war, müssen sich seither diplomatisch zum Konflikt verhalten: Sie haben Interessen auf beiden Seiten. Für Juri Andruchowytsch ist die kriegerische Konfrontation historisch und global bedeutsam - und nicht weniger wichtig als etwa das, was in Syrien und anderen Krisenherden auf der Welt derzeit passiert. Und der Westen müsse unbedingt seine Sanktionen gegen Russland aufrechterhalte, so sein Appell.

"Ein Land wollte seinen Weg finden, unabhängig von der Sowjetunion und ein integraler Teil der europäischen Gesellschaft werden. Das betrachtet man im ehemaligen imperialen Zentrum als tödliche Gefahr. Ich denke, das ist ein Fehler."

Juri Andruchowytsch im Gespräch mit Niels Beintker

Andruchowytsch nennt den Osten der Ukraine eine "Zone von Tod und Grausamkeit", doch in den Nachrichten kommt sein Heimatland nur noch gelegentlich vor. Und in der Frage eines EU-Beitritts spürt Andruchowytsch etwas, was er selbst sehr diplomatisch eine "Art leichter Abgrenzung" nennt: Noch vor zehn Jahren schien eine europäische Perspektive für die Ukraine nicht unmöglich, nun sei diese Frage auch für die fernere Zukunft von der Tagesordnung verschwunden. Dabei zeige sich in Umfragen immer wieder, dass es eine Mehrheit im Land für den EU-Beitritt gebe.

Literarischer Vermesser postsowjetischer Welten

Juri Andruchowytsch wurde 1960 in Iwano-Frankiwsk in der Westukraine geboren. Er war Redakteur einer Zeitschrift, veröffentlichte erste Gedichte und übersetzte Literatur aus dem Russischen, Polnischen, Englischen und Deutschen. 1985 gehörte er zu den Gründern der legendären poetischen Performance-Gruppe "Bu-Ba-Bu", deren Name für Burleske, Balagan (Rummel) und Buffonade (Possenreißer) stand. Die Auftritte der Dichter fanden schon mal auf offener Straße statt, der Ästhetik des Sozialistischen Realismus setzte man Lautpoesie und Satire entgegen.

Andruchowytschs Prosadebüt war der Geschichtenband "Links, vom Herzen", inspiriert durch die Erfahrung des Militärdienstes. Bekannt wurde der Schriftsteller mit seinen Romanen "Moscoviada" (1993), "Perversion" (1996) und "Zwölf Ringe" (2003), mit denen Andruchowytsch zu einem der wichtigsten Vertreter der ukrainischen Gegenwartsliteratur wurde. Sie sind geschult an Erzählverfahren der Postmoderne, arbeiten mit Überzeichnungen, Verschachtelungen, Anspielungen und Collagen, und sie schöpfen für ihre anarchische Wucht einiges aus den mal grotesken, mal tragischen Spannungen der postsowjetischen Ära. Auch über Europa denkt der Schriftsteller schon lange nach: Zusammen mit seinem polnischen Kollegen Andrzej Stasiuk veröffentlichte er 2004 einen Band mit dem Titel "Mein Europa", in dem beide Autoren ein literarisches Porträt der Gegend zwischen den Beskiden und der Bukowina entwarfen. In seinem Essay zum Band folgt Andruchowytsch den Spuren seines deutschen Urgroßvaters, der vor dem Ersten Weltkrieg aus Böhmen nach Galizien kam, und entdeckt die versunkene Geschichte der kleinen Metropolen.

"München beginnt gleich hinter Moskau"

Unter dem Titel "Euromaidan" gab Andruchowytsch 2014 eine Sammlung eindrücklicher Erlebnisberichte von Schriftstellern und Aktivisten über die dramatischen Tage auf dem Maidan heraus, zusammen mit Analysen von Historikern und Politikwissenschaftlern. Das jüngste Buch des Autors, "Kleines Lexikon intimer Städte", erzählt von seinen ganz persönlichen Beziehungen zu 44 Städten auf drei Kontinenten. Er reiste nach Bukarest und Novi Sad, Odessa und Paris, Stuttgart und Venedig. München war die erste deutsche Stadt, die der Schriftsteller aus der untergehenden Sowjetunion besuchte, deshalb stellt er fest: "München beginnt gleich hinter Moskau, das Alphabet harmoniert mit der Zeit." Als Gast der Villa Waldberta schrieb Andruchowytsch ganz in der Nähe, am Starnberger See, seinen Roman "Moscoviada".

Kulturjournal

Für das Kulturjournal hat Niels Beintker auf der Frankfurter Buchmesse mit Juri Andruchowytsch über die komplizierte Situation in seiner ukrainischen Heimat gesprochen.
Zu hören ist das Interview in der Sendung am Sonntag, den 30. Oktober, ab 18:05 Uhr


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