Der Misanthrop - Kulturgeschichte des Menschenfeinds
Misanthropen werden vielfach kritisiert, doch sie schaffen durch Irritationen eine reflexionsfördernde Distanz zu etablierten Denkweisen. Von Rolf Cantzen (BR 2019)
VON: Rolf Cantzen
Ausstrahlung am 27.3.2024
SHOWNOTES
Credits
Autor dieser Folge: Rolf Cantzen
Regie: Irene schuck
Es sprachen: Katja Amberger, Stefan Wilkening, Andreas Neumann
Technik: Christiane Gerheuser-Kamp
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Dr. Ulrich Horstmann, emeritierter Professor für Anglistik, Schriftsteller, Essayist,
Prof. Dr. Michael Pauen, Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR 1: (boshaft)
Timons Hass geweiht
Sei künftighin der Mensch und alle Menschlichkeit.
ERZÄHLERIN:
Timon ist bei Shakespeare der Protagonist des Menschenhasses.
O-TON 1: Prof. Dr. Ulrich Horstmann (flüsternd)
„Pssst, jetzt lassen wir zusammen die Sau raus.“
ERZÄHLERIN:
… zusammen mit Ulrich Horstmann.
MUSIK AUS
Er ist Professor für englische Literaturwissenschaft, Schriftsteller und Verfasser der philosophischen Streitschrift „Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht“.
O-TON 3: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Menschenflüchtiges Denken lebt aus dem Pathos der Distanz.
ERZÄHLERIN:
Bei der Menschenflucht und beim Menschenhass geht es vor allem darum, Abstand zu gewinnen und Distanz herzustellen – zu den Menschen, unter denen man leidet, weil sie einem selbst oder anderen Menschen Schlimmes angetan haben oder auch, weil man ihre Nähe nicht mehr aushält. Dann kommen sie – böse, menschenfeindliche Gedanken:
O-TON 3: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Ausflüge in das Nicht-Erlaubte, eigentlich Nicht-Tolerierbare, in die Randbezirke dessen, was uns durch den Kopf geht, in den abgeschlossenen, abgesperrten Hinterstübchen. …
ERZÄHLERIN:
Gelegentlicher Menschenhass könne Entlastung bieten, meint Ulrich Horstmann:
O-TON 4: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Solche Ausflüge waren immer attraktiv, wenn nicht jemand daraus Handlungsanweisungen und Imperative ableitet.
ERZÄHLERIN:
Es geht also bei menschenflüchtigen oder menschenhassenden Ausflügen nicht darum, etwas zu tun, es geht darum, sich bestimmte Gedanken zu gestatten, vielleicht auch, damit wir es nicht tun: Ein gedankliches Korrektiv, das prophylaktisch wirkt. Obwohl – geben wir es ruhig zu – uns unliebsame Besucher oder Menschen im Allgemeinen schon gewaltig auf die Nerven gehen können:
O-Ton 5: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Die Möglichkeit das eigentlich Unaussprechliche herauszulassen und einem Stellvertreter zuzuhören, der das artikuliert, was man selbst nicht sagen darf, das ist der Köder und den schlucken wir von Zeit zu Zeit alle liebend gern.
ERZÄHLERIN:
Stellvertreter können die Protagonisten in Büchern, im Theater, in Filmen sein. Ein Auslöser für menschenhasserische Impulse können auch Situationen sein, in denen wieder einmal von uns erwartet wird, menschenliebenden Appellen und Tugenden beizupflichten, wenn uns positive Menschenbilder beruhigen, wenn optimistische Philosophien und der Glaube an den Fortschritt uns beglücken sollen ...
MUSIK:
ZITATOR 2: (hier und im Folgenden ironisierend)
Die Welt ist gut!
ZITATOR 1:
… und wenn unsere Welt noch nicht gut ist, wird sie es.
MUSIK:
O-Ton 6: Prof. Dr. Michael Pauen
Wenn man sich das ein bisschen genauer anschaut, sieht man einerseits, dass die optimistischen Theorien einfach unter dem Eindruck bestimmter theologischer oder metaphysischer Vorannahmen stehen, also vor allem unter der Annahme, dass diese Welt von einem guten, verständigen, wohlmeinenden und allmächtigen Gott geschaffen worden ist. Das heißt, so ein Gott kann keine andere als eine gute Welt schaffen. Und wer das bestreitet, der vergeht sich an seinen fundamentalen religiösen und theologischen Annahmen. Und dann muss diese Welt eben gut sein.
ERZÄHLERIN:
… auch die Menschen sind gut, die auf dieser Welt herumlaufen. Klar, sie morden millionenfach, vergewaltigen, ruinieren die Natur, doch letztlich gilt:
MUSIK:
ZITATOR 2:
Der Mensch ist gut!
ZITATOR 1:
… oder wird es.
MUSIK aus
O-Ton 7: Prof. Dr. Michael Pauen
Sinnstiftende Theorien haben es an sich, dass sie negative einzelne Erfahrungen erklären können.
ERZÄHLERIN:
Michael Pauen ist Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität. In einem seiner Bücher zeigt er, wie es vielen Philosophen immer wieder gelingt, alles schön zu reden und dass eine philosophische Minderheit es schwer hat, ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen:
O-Ton 8: Prof. Dr. Michael Pauen
Das bedeutet, wenn dann dieser höhere Sinn letztlich darauf hinausläuft, dass wir in einer guten Welt oder möglicherweise der besten aller möglichen Welten leben, dass dieses Leid an Bedeutung verliert.
MUSIK:
ZITATOR 2:
Alles ist gut, alle sind glücklich oder könnten es sein!
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
Das wird zu einer philosophisch legitimierten Lebenslüge. Misanthropen – Menschenfeinde, Menschenhasser, Menschenverächter, es gibt verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten – Misanthropen spielen da nicht mit, weil sie mit Menschen nicht die besten Erfahrungen gemacht haben oder einen anderen Blick auf die Menschheit werfen:
O-Ton 9: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Misanthropen sind natürlich Freaks, Misanthropen sind randständige Figuren, das sind Figuren, die diese Randständigkeit ausnutzen.
ERZÄHLERIN:
Sie leben auch oft am Rand, sind Einzelgänger, fügen sich nicht nahtlos ein in die Gesellschaft, obwohl auch sie die Gesellschaft brauchen – und sei es, um sich von ihr abzugrenzen.
MUSIK:
ERZÄHLERIN: („Timon“ immer deutsch aussprechen.)
… Die Geschichte des Menschen- und Menschheitshassers Timon von Athen.
ZITATOR 1: (boshaft)
Timons Hass geweiht
Sei künftighin der Mensch und alle Menschlichkeit.
ERZÄHLERIN:
Über die Jahrtausende hinweg blieb die Lebensgeschichte von Timon von Athen das Motiv für zahlreiche Theaterstücke und vor allem: die Diskussionsgrundlage, an der Philosophen ihre Gedanken zur Misanthropie entwickelten.
Timon war zunächst reich, großzügig und freundlich, sammelte viele Menschen um sich, von denen er meinte, sie seien seine Freunde. Dann ging ihm das Geld aus. Er erwartet nun im Gegenzug von seinen Freunden Unterstützung, wird aber in Stich gelassen und hasst nun nicht nur die falschen Freunde, sondern die gesamte Menschheit.
ZITATOR 1:
Weg mit der Menschheit!
ERZÄHLERIN:
Auch als er zufällig wieder zu Geld kommt, ändert sich – in Shakespeares Bearbeitung des Stoffs – an seinem Menschenhass nichts: Er bleibt unversöhnt.
O-TON 10: Prof. Dr. Ulrich Horstmann (flüsternd)
Ihr könnt euch vorstellen, was in mir vorgeht.
ZITATOR 1: (aggressiv, boshaft)
Glatt lächelnde, verächtliche Schmarotzer,
Höfliche Mörder, sanfte Wölfe,
Kratzfüßige Sklaven, Dünste, Wetterfahnen! –
Alle Krankheiten von Mensch und Vieh
Solln euch mit Grind bedecken!
ERZÄHLERIN:
Shakespeare gestattet sich in seinem Stück „Timon von Athen“ nicht nur deftige Flüche, Timon treibt sein Menschenhass zu Vernichtungsphantasien.
Alkibiades gibt er Geld, damit er Athen zerstört, der Hure Timandra, damit sie alle mit Syphilis ansteckt:
ZITATOR 1:
Mach alle krank, die ihre Lust dir lassen,
Mach reif die Jugend für die Hungerkur der Seuche.
ERZÄHLERIN:
Kurzum: Shakespeare lässt in seinem Protagonisten Timon – umgangssprachlich formuliert – die Sau raus. Er gestattet sich menschenfeindliches Denken.
ZITATOR 1:
Alles glatte Schurkerei. Drum seid gemieden,
Feste, Gelage, menschliches Gewimmel!
Timon verabscheut sein Ebenbild, sich selbst!
Weg mit der Menschheit!
MUSIK aus
O-TON 11: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Wenn ich die Menschheit hasse, muss ich natürlich als Element dieser kollektiven Größe eigentlich auch mich selbst hassen, darf mich selbst nicht ausnehmen. So ist Timon gestrickt. Das macht er.
ERZÄHLERIN:
Von seinem extremen Menschenhass kann sich Timon nicht selbst ausnehmen: Er hasst sich selbst und bringt sich wahrscheinlich – bei Shakespeare ist das nicht eindeutig – selbst um.
O-TON 12: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Der Wille, bei seinen Mitmenschen, wie wahrscheinlich auch bei sich selbst tabula rasa zu machen.
MUSIK:
ZITATOR 1:
… eine Jauchegrube
Sei dann euer aller Grab!
Musik aus
ERZÄHLERIN:
Der Philosoph Platon – die Tragödien antiker Autoren vor Augen ¬– analysiert die Geschichte von Timon eher vorsichtig:
ZITATOR 2: (Zitat gekürzt)
Menschenfeindschaft entsteht, wenn man einem zu sehr vertraut und einem Menschen für durchaus wahr, gesund und zuverlässig gehalten hat, bald darauf aber denselben als schlecht und unzuverlässig findet, und dann wieder einen; und wenn einem das öfter begegnet und bei solchen, die man für die vertrautesten und besten Freunde hält, so hasst man dann endlich alle, und glaubt, dass an niemandem irgendetwas Gesundes ist.
ERZÄHLERIN:
Menschenfeindschaft wegen mehrfacher Enttäuschung! Platon diskutiert, ob das nicht auch an dem Enttäuschten selbst liegt: Vielleicht ist er zu naiv bei der Wahl vermeintlicher Freunde. Einem vernünftigen Menschen passiert das wahrscheinlich nicht und er verallgemeinert auch nicht vorschnell schlechte Einzelerfahrungen. Bei Platon ist die Misanthropie nicht der bösen Menschheit anzulasten, sondern dem beschränkten oder verwirrten Misanthropen. Das heißt:
MUSIK
ZITATOR 2: (unbeschwert)
Im Wesentlichen sind Welt und Mensch in Ordnung!
ZITATOR 1:
… mit Vernunft und Moral wird alles gut.
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
Der römische Philosoph Cicero pathologisiert die Misanthropie zu einer Art psychischem Defekt:
ZITATOR 1:
Misanthropie ist eine Krankheit der Seele, die aus einer gewissen Furcht vor denjenigen entsteht, die sie fliehen und hassen.
ERZÄHLERIN:
Cicero sieht in der Misanthropie einen psychischen Defekt. Das heißt: Nur Anormale, die ihr seelisches Gleichgewicht verloren haben, hassen die Menschen. Mit einer solchen Definition erübrigt es sich, ernsthaft über Menschenhass zu diskutieren. Menschenhass oder Menschenfeindlichkeit ist dann kein ernsthaftes philosophisches Problem, sondern – heute würde man sagen – ein psychopathologisches.
O-Ton 13: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Das bedeutet eigentlich, dass ich den Misanthropen zurückverfrachte in die Zwangsjacke des Normalen, des Sozial-Akzeptablen, dessen, der seine Zunge im Zaum hält und sich so benimmt, dass er bei seinen Mitmenschen keinen Anstoß erregt.
MUSIK:
ZITATOR 2: (insistierend)
Der Mensch ist gut.
ERZÄHLERIN:
… und man muss ihn lieben: Immer! Schließlich ist er ein Geschöpf Gottes!
MUSIK aus
ZITATOR 1:
Nächstenliebe! Du sollst deinen Nächsten lieben!
ERZÄHLERIN:
… hassen tut ihn der Teufel. Und wer Menschen hasst, ist des Teufels. Im christlichen Mittelalter hatte man kein Verständnis für Misanthropie.
MUSIK
ERZÄHLERIN:
In der Renaissance erinnerte sich Machiavelli an die Misanthropie-Diskussion der Antike. Er empfahl den Mächtigen, die Menschen nach Strich und Faden zu manipulieren:
ZITATOR 2:
Denn von den Menschen lässt sich im Allgemeinen so viel sagen, dass sie undankbar, wankelmütig und heuchlerisch sind, voll Angst vor Gefahr, voll Gier nach Gewinn.
ERZÄHLERIN:
… und deshalb gibt es keinen Grund, den Menschen Respekt und Achtung entgegen zu bringen. Im Gegenteil: Ihre Boshaftigkeit und Dummheit rechtfertigen jede Unterdrückung:
ZITATOR 2:
Wenn der Fürst auch genötigt wäre, das Blut eines Untertanen zu vergießen, mag er es ruhig tun …
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
In der Aufklärung ging die Menschenfreundlichkeit dann wieder so weit, dass man jede Misanthropie, Einzelgängerei und Eigenbrödlerei verbannte und oft die Menschenliebe zum alleinigen Maßstab machte.
ZITATOR 1:
Die praktische Menschenliebe ist aller Menschen Pflicht.
ERZÄHLERIN:
… „moralisierte“ Kant und hält den Menschenhass für teils hässlich, teils verächtlich. Auch andere Philosophen verdammten Menschen, die sich einen anderen – einen negativen – Blick auf den Menschen und seine Geschichte gestatteten. Der Mensch sollte sich positiv mit der Menschheit identifizieren, sich nicht negativ von ihr und der Welt abgrenzen.
O-Ton 14: Prof. Dr. Michael Pauen
Ich glaube, Hegel ist da das beste Beispiel. Also, die hegelsche Geschichtsphilosophie steht noch in der Tradition dieser optimistischen Aufklärungsphilosophie. Letztlich Hegels Vorstellung, dass Geschichtsphilosophie eine Art von Theodizee sein, also Rechtfertigung Gottes, und damit letztlich ein Nachweis, dass diese Welt gut ist, das ist für Hegel noch unbestritten.
MUSIK
ZITATOR 2: (unbeschwert)
Die Welt ist gut …
ZITATOR 1:
… und der Mensch ist es auch, weil er sich immer weiter zum Guten entwickelt!
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
Mord und Totschlag, das Leiden, das sich Menschen gegenseitig zufügen, sind unbedeutende Kollateralschäden. Damit muss die Menschheit leben.
O-Ton 15: Prof. Dr. Michael Pauen
Da ist offensichtlich eine Vernachlässigung der individuellen Perspektive zu Gunsten der Perspektive des Ganzen, aus der sich wieder angeblich alles zusammenfügt. Ob sich das tatsächlich zusammenfügt, ist dann gar keine Frage, weil das einfach vorausgesetzt wird.
ERZÄHLERIN:
Diese Vernachlässigung des individuellen Leids – überhaupt: die Vernachlässigung des individuellen Menschen und negativer Erfahrungen – führen, so der Philosophieprofessor Michael Pauen; dazu, dass einige Dichter und Denker aus der verordneten Menschenliebe ausbrechen.
ZITATOR 2:
Gerade so ging es mir …
ERZÄHLERIN:
… schreibt Friedrich Schiller an einen Freund.
MUSIK
Erzählerin:
Er spürt wie die Menschenliebe umschlägt...
ZITATOR 2:
… alle Menschen werden Brüder …
ERZÄHLERIN:
Schiller spürt, wie die Menschenliebe umschlägt in Menschenhass:
ZITATOR 2:
Ich hatte die Welt mit der glühendsten Empfindung umfasst, und am Ende fand ich, dass ich einen kalten Eisklumpen in den Armen hatte.
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
Der Mensch braucht den anderen Menschen, doch das ist kein Grund, die Menschheit nicht zu hassen. Man kann sogar einzelne Menschen lieben und das Kollektiv „Menschheit“ hassen:
O-Ton 16: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Das erinnert mich an einen ganz großen Satiriker, den viele auch für einen Misanthropen halten nämlich an Jonathan Swift. Der hat in einem Brief folgendes gesagt: „I love John, Jill and Jack, but I hartley detest mankind.“
ZITATOR 1:
Ich liebe John, Jill und Jack, aber zutiefst verabscheue ich die Menschheit.
O-Ton 17: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Und das ist ein Satz, in dem sehr, sehr viel Wahrheit steckt, nicht nur über Swift, sondern über das Phänomen der Misanthropie.
ERZÄHLERIN:
Jonathan Swift – er lebte um 1700 – lässt seinen Protagonisten Gulliver nicht nur nach Liliput und in die Welt der Riesen reisen, sondern auch zu den edlen Pferden, die sich ekelhafte Menschen als Haustiere halten. Die phantasievollen Reisen des Gulliver erlauben Swift eine Distanz zu den Menschen, die ihr Wesen transparent macht: Sie sind lasterhaft, gierig, dumm und sie stinken. Die edlen Pferde nutzen ihre Häute, um Segel daraus zu fertigen. In einem anderen Text, dem „bescheidenen Vorschlag“, rät er zum Kannibalismus:
ZITATOR 1:
Ein Kind wird bei einem Essen für Freunde zwei Gänge ergeben und wenn die Familie allein speist, so wird das Vorder- oder Hinterviertel ausreichen.
ERZÄHLERIN:
Der gebürtige Ire Swift wird oft als ‚Menschenhasser‘ bezeichnet, wegen solcher Texte. Der historische Hintergrund macht klar, er ist entsetzt von dem, was Menschen anderen Menschen antun: Die reichen Landbesitzer wandelten in Irland aus Profitgier Ackerland in Schafsweiden um.
Die Folge: Zehntausende von Bauern verhungerten. Swifts vermeintlich menschenhasserischer Ratschlag, doch einfach Kinder zu verspeisen, macht auf groteske Weise den Zynismus und die Unmenschlichkeit dieser Landbesitzer erkennbar. Die Verlogenheit ist, dass nicht die Verursacher des menschlichen Leid als Menschenhasser bezeichnet werden, sondern die, die darauf aufmerksam machen.
MUSIK
ZITATOR 2: (unbeschwert)
Der Mensch ist gut …
MUSIK aus
ERZÄHLERIN:
… wer das in Frage stellt, wer anders denkt, als es sich gehört, ist Menschenfeind, wie Swift oder etwa der Philosoph Philipp Mainländer:
ZITATOR 1:
Ich möchte alle windigen Motive zerstören, welche den Menschen abhalten können, die stille Nacht des Todes zu suchen.
ERZÄHLERIN:
Mainländer schrieb um 1870 seine „Philosophie der Erlösung“ ...
O-Ton 18: Prof. Dr. Michael Pauen
… da gibt es die Vorstellung, dass Erlösung noch darin bestehen kann, dass die Welt letztlich ihr Ende findet. Und damit eben das Leid ein Ende findet.
ERZÄHLERIN:
Mainländer will die Welt und die Menschen ausgelöscht sehen. Seine Überlegung: Leben ist Leiden, Gott ist gestorben und sein verrottender Leib ist die Schöpfung und deshalb sei es besser, mit all dem aufzuhören:
ZITATOR 1:
Alles, was ist, ist von Übel und auf das Übel hin bestellt: der Zweck des Weltganzen ist das Übel; die Ordnung und der Zustand, die Gesetze, der natürliche Gang des Universums sind durchaus von Übel. Gut ist nur, was nicht ist.
ERZÄHLERIN:
Mainländer sucht die Distanz nicht auf fiktiven Reisen, wie Swifts Gulliver, sondern in seiner Vorstellung, dass es ihn selbst, die Welt und die Menschheit nicht mehr gibt. Der Mensch als Krone der Schöpfung ist nur gut, wenn er nicht existiert.
O-Ton 19: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Misanthropie ist eine Luftnummer. Was meine ich damit? Normalerweise geht es beim Lieben und Hassen um interpersonale Interaktion …
ZITATOR 2:
Ich hasse dich, du hasst mich …
ERZÄHLERIN:
… und das belastet die Kommunikation. Doch die Menschheit ist keine Person, mit der ich kommuniziere, sondern ein Abstraktum. Das heißt für Ulrich Horstmann:
O-Ton 20: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Der Menschheit als Kollektivsubjekt ist es herzlich gleichgültig, ob sie geliebt wird oder gehasst wird. Insofern kämpft der Misanthrop mit Windmühlenflügeln.
ERZÄHLERIN:
Man tut der Menschheit also nicht weh, wenn man ihr skeptisch, feindlich oder mit Hass gegenübersteht, wenn man sie nicht mag:
O-Ton 21: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Ich bin auch heilfroh, dass es mir – pathetisch vergönnt war – im späten 20. Jahrhundert und frühen 21. Jahrhundert zu leben mit dem furchtbaren 20. Jahrhundert im Rücken, das mich in seiner Grausamkeit nicht mehr erreicht hat – Gott sei Dank …! Das war im wortwörtlichen Sinne eine Offenbarung.
ERZÄHLERIN:
Die Grausamkeiten im 20. Jahrhundert – Kolonialismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, um nur die schlimmsten zu nennen – waren keine Taten von erklärten Menschenhassern. Die Menschheitsverbrecher hatten eherne Ziele. Sie ‚liebten‘ angeblich die Menschheit und gaben vor, ihr zu dienen und nur ihr Bestes zu wollen.
ZITATOR 1:
… weil sie der Menschheit dienten, darum schnitten sie den Menschen die Hälse ab.
ERZÄHLERIN:
… schrieb Max Stirner, ein provokanter Philosoph des 19. Jahrhunderts. Die Liebe zur Menschheit kann tödlich sein für den einzelnen Menschen. Misanthropie kann ein Korrektiv sein zur mörderischen Menschenliebe, indem sie Distanz schafft und irritiert.
MUSIK
Ulrich Horstmann fasst es so zusammen:
O-Ton 22: Prof. Dr. Ulrich Horstmann
Ich halte diese Widerspruchskomponente, dieses „Nein, es ist ganz anders“ für einen Hirnschrittmacher.
ERZÄHLERIN:
Die Misanthropie wäre dann so etwas wie eine philosophische Therapie. Und psychologisch betrachtet stellen sich Fragen: Wie sollen Menschen mit Sympathie füreinander in dieser Wirklichkeit leben, wenn sie sich nicht ab und zu misanthropische Anwandlungen gönnen?
MUSIK aus