Operation gelungen, Patient tot. Was als Redewendung lustig klingt, ist im Krankenhaus ernst. Damit dieser Fall nicht eintritt, gibt es die so genannte Mindestmengenregelung: In deutschen Krankenhäusern dürfen gegenwärtig sieben komplexe Eingriffe nur dann durchgeführt werden, wenn ein Mindestmaß an Erfahrung vorhanden ist. Denn dass bei komplexen Operationen das Überleben des Patienten gefährdet ist, wenn die nötige Routine fehlt, das belegen Studien immer wieder.

Ob und wie viele Mindestmengen-Eingriffe ein Krankenhaus durchgeführt hat, muss es regelmäßig in seinen Qualitätsberichten veröffentlichen. BR Data, das Datenjournalisten-Team des Bayerischen Rundfunks, hat rund 5.700 Qualitätsberichte deutscher Krankenhäuser analysiert, die von 2008 bis 2016 veröffentlicht wurden und Angaben zu Mindestmengen-Eingriffen beinhalten. Das Ergebnis:

Die Mindestmengenregelung, die Patienten schützen soll, wurde in den vergangenen Jahren immer wieder unterlaufen.

Vorgaben verfehlt, trotzdem operiert

Im Jahr 2016 gab es nach Angaben der Krankenhäuser deutschlandweit rund 170.000 operative Eingriffe, die unter die Mindestmengenregelung fielen. Fast zwei Prozent davon – das sind rund 3.000 Operationen – wurden in Krankenhäusern durchgeführt, die die Mindestvorgaben nicht erreicht hatten. Tritt dieser Fall ein, dürfen Kliniken den Eingriff nicht weiter durchführen.

Ausnahmen davon sind nur möglich, wenn beispielsweise ein Notfall vorliegt oder das Krankenhaus einen neuen Operateur eingestellt hat. Und dennoch: Auch nach Abzug der Ausnahmefälle wurden jedes Jahr hunderte OPs durchgeführt, ohne dass ein Ausnahmetatbestand angegeben war. 2016 waren es 923.

Mindestmengen-Eingriffe in Deutschland

insgesamtunter Mindestmengeunter Mindestmenge
ohne Ausnahmetatbestand
2008167.5933.394694
2010176.6523.5981.151
201232.4001.828735
201329.8931.640588
201431.2441.503440
2015151.0333.8621.146
2016171.4452.919923

Aufgrund eines Gerichtsprozesses war ein Teil der Mindestmengen zwischenzeitlich ausgesetzt. Das spiegelt sich in der Zahl der Eingriffe in den Berichtsjahren 2012-2014 wider. Quelle der Daten: Qualitätsberichte der Krankenhäuser

Der ehemalige Generalsekretär der deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Prof. Hartwig Bauer, kritisiert die Unterschreitung von Mindestmengen, denn die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigten, dass sich durch höhere Mindestmengen in einigen Bereichen die Sterblichkeit halbieren ließe.

Die Mindestmengen sind dort am dringendsten notwendig, wo es sich um komplexe OPs mit hoher Sterblichkeit handelt. Da kommt es nicht nur auf die Erfahrung des Operateurs an, sondern auf das gesamte Umfeld. Denn die Leute sterben nicht primär an der Operation, sondern die Leute sterben an den nicht beherrschten Komplikationen.

– Prof. Hartwig Bauer, ehemaliger Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie

Und doch tauchen OPs, die eigentlich nicht hätten durchgeführt werden dürfen, in den Qualitätsberichten von Krankenhäusern aus ganz Deutschland auf. Für Bayern hat BR Data die veröffentlichten Zahlen genauer analysiert. Auch hier lagen im untersuchten Zeitraum von 2008 bis 2016 etwa zwei Prozent aller Mindestmengen-Eingriffe unter den Vorgaben. Und von denen wiederum war – wie in ganz Deutschland auch – bei jedem Dritten kein Ausnahmetatbestand angegeben. Das waren bayernweit 912 Operationen in Häusern, die nicht über die nötige Routine verfügten und ohne triftigen Grund operiert haben.

Mindestmengen-Eingriffe in Bayern

insgesamtunter Mindestmengeunter Mindestmenge
ohne Ausnahmetatbestand
200828.60975171
201030.270764214
20124.574232113
20134.42717983
20144.52616249
201525.168615264
201630.354407118

Aufgrund eines Gerichtsprozesses war ein Teil der Mindestmengen zwischenzeitlich ausgesetzt. Das spiegelt sich in der Zahl der Eingriffe in den Berichtsjahren 2012-2014 wider. Quelle der Daten: Qualitätsberichte der Krankenhäuser

Intransparente Absprachen, fehlerhafte Angaben

Aus den Qualitätsberichten geht hervor: 39 von rund 400 Kliniken in Bayern haben zwischen 2008 und 2016 eine Mindestmenge ohne Ausnahmetatbestand unterschritten. 18 von ihnen verstießen sogar in mehreren Jahren gegen die Mindestmengenregelung. Warum haben sie Operationen durchgeführt, die nicht zulässig waren?

Auf Anfrage verweisen einige Krankenhäuser darauf, dass sie die Mindestmengen-Regelung zwar nicht erreicht hätten, dies jedoch mit den Krankenkassen abgesprochen gewesen sei.

Die durchgeführten Eingriffe in dem von Ihnen definierten Zeitraum waren Begleiteingriffe bei anderen OP's [...] Aus diesem Grund wurden auch keine Ausnahmetatbestände angeführt. Alle diese Maßnahmen waren mit den Krankenkassen besprochen, genehmigt und vereinbart worden.

Dem damals gültigen Verfahren entsprechend wurden die jeweiligen Unterschreitungen gemeinsam mit einer objektiven Schätzung der Fallzahlentwicklung für das Folgejahr an die Kostenträger gemeldet. Da von Kostenträgerseite aus kein Widerspruch zu unseren Einschätzungen eingegangen ist, wurde die Leistung weiter erbracht und von Kostenträgerseite aus auch vergütet.

Auf BR-Anfrage bestätigen mehrere Krankenkassen in Bayern, dass es solche Absprachen gibt. Andere Kliniken gaben an, die Daten falsch in die Qualitätsberichte eingetragen zu haben.

In den von Ihnen geschilderten Fällen kam es dabei zu einem Übertragungsfehler, der auch durch die Prüfung nach dem 4-Augen-Prinzip unerkannt blieb.

Die Angaben zu den Mindestmengen wurden offensichtlich nicht überprüft und blieben ohne Korrektur, die Daten aus 2015 wurden so im Bericht 2016 fälschlicherweise erneut publiziert.

– Stellungnahmen bayerischer Krankenhäuser

Und noch etwas fällt bei der Analyse der Qualitätsberichte auf: 18 bayerische Krankenhäuser haben in mindestens drei der sieben analysierten Berichtsjahre Zahlen angegeben, die der geforderten Mindestmengen-Grenze sehr nah kommen, sie also nur knapp über- oder unterschreiten oder sogar punktgenau erreichen. Dass gezielt auf Mindestmengen hingearbeitet wurde, bestätigte dem BR gegenüber kein Krankenhaus.

Nach Auskunft des zuständigen Chefarztes gibt es keine vorausschauende Planung in diesem Bereich.

– Stellungnahme eines bayerischen Krankenhauses

Keiner will verantwortlich sein

Individuelle Absprachen zwischen Krankenhäusern und Kassen, ungeprüfte Angaben, falsche Zahlen - für den Patienten nachvollziehbar ist das alles nicht. Er kann sich nur auf die Angaben in den Qualitätsberichten verlassen. Was sagt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) zu den Ergebnissen der BR-Analyse? Das Gremium ist vom Gesundheitsministerium damit beauftragt, die Mindestmengenregelung für deutsche Krankenhäuser festzulegen und zu regeln.

Eine zweiwöchige Antwortfrist lässt der G-BA zweimal verstreichen, erst dann folgt ein zehnseitiges Schreiben, das viele Allgemeinaussagen beinhaltet. Auf einen Punkt wird mehrfach hingewiesen:

Für die berichtspflichtigen Krankenhäuser bietet sich [...] damit die Gelegenheit, ihr jeweiligen Leistungsspektrum nach Art, Anzahl und Qualität selbst und eigenverantwortlich darzustellen. Folglich liegt die Verantwortung für die inhaltliche Richtigkeit der Angaben in den Qualitätsberichten auch bei den berichtspflichtigen Krankenhäusern.

– Stellungnahme des G-BA

Der G-BA verweist darauf, dass angesichts der Komplexität des Themas nur die vollständige Antwort des G-BA den Sachverhalt umfassend und sachgerecht darstellt. Hier finden Sie die komplette Antwort. Aus datenschutzrechtlichen Gründen sind einige Stellen geschwärzt.

Forderung: Mehr Operationen an weniger Standorten

Damit die Mindestmengen besser eingehalten werden, fordern Experten wie Prof. Hartwig Bauer, ehemaliger Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, eine stärkere Zentralisierung der Eingriffe. Seiner Meinung nach sollten komplexe Operationen an weniger Krankenhäusern stattfinden, die dafür über mehr Routine verfügen.

Vor allem Kliniken im ländlichen Räumen argumentieren dagegen mit dem Anspruch auf eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung. Für Hartwig Bauer ist das in Bezug auf planbare Mindestmengen-Eingriffe kein haltbares Argument:

Wir reden nicht von Notfalleingriffen. Bei einem planbaren Eingriff ist es zumutbar, dass ich auch mal 50,60 Kilometer in ein Zentrum fahre. Kein Chirurg würde – wenn es ihn selbst betrifft – in eine Klinik gehen, in der der Eingriff nur zwei Mal im Jahr gemacht wird, sondern der wird natürlich dort hingehen, wo er die höhere Erfahrung im Umgang mit diesem Krankheitsbild vermutet. Und das würde er auch Angehörigen oder Freunden empfehlen.

– Prof. Hartwig Bauer, ehemaliger Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie

60 Kilometer Fahrt, um dafür in einer Klinik mit mehr Erfahrung operiert zu werden, ist aus Sicht des Fachmanns zumutbar und nach Auswertung der Qualitätsberichts-Zahlen auch möglich.

Beispiel Bayern: Hier wurden im Jahr 2016 knapp 2.000 komplexe Eingriffe an Speiseröhre und Bauchspeicheldrüse vorgenommen – mehr als 5 Prozent davon in Krankenhäusern, die die Mindestmengen nicht eingehalten haben. Dabei wäre ein Krankenhaus mit mehr Erfahrung nicht weit entfernt gewesen. Besonders in Ballungsräumen wie München oder Nürnberg liegen die Kliniken mit wenig und viel Routine oft nur einige Kilometer voneinander entfernt.

Hier wurden 2016 in Bayern Mindestmengen erreicht () bzw. nicht erreicht ()

Speiseröhre

Bayern-Speiseröhre-2016

Bauchspeicheldrüse

Bayern-Bauchspeicheldrüse-2016

Besserung in Sicht?

Nach einer Gesetzesänderung hat der G-BA im November 2017 eine grundlegende Überarbeitung der Mindestmengenregelung beschlossen. Krankenhäuser müssen von nun an jeweils zum 15. Juli eines Kalenderjahres exakt darlegen, wie viele Mindestmengen-Eingriffe sie für das Folgejahr prognostizieren. Ein ähnliches Prognose-Verfahren gab es zwar bereits vor der Überarbeitung, jedoch wesentlich allgemeiner gefasst. Das hatte zur Folge, dass den Krankenhäusern bei Verstößen gegen die Mindestmengenregelung praktisch keine Sanktion drohte:

[...] Gleichwohl ist festzustellen, dass die Mindestmengenregelungen für bestimmte Leistungen seit deren Einführung nicht den erhofften Effekt auf Versorgungsstrukturen haben. Unter anderem lag dies an fehlenden Sanktionsmöglichkeiten der Krankenkassen bei Nichterfüllung durch die Kliniken, aber auch an der zum Teil fehlenden Flankierung durch die Landesbehörden.

– Stellungnahme einer bayerischen Krankenkasse auf BR-Anfrage

Den Krankenkassen fehlte bisher also der rechtliche Rückhalt, Krankenhäuser bei Nicht-Einhaltung der Mindestmengenregelung zu sanktionieren. Das soll sich nun ändern. Die AOK hat bereits im Dezember 2017 angekündigt, bestimmte Klinik-Leistungen fortan nicht mehr zu vergüten, wenn die entsprechenden OP-Mindestmengen pro Jahr nicht eingehalten werden und keine Ausnahmeregelung vorliegt. Zudem soll künftig auch mit Unterstützung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung „die inhaltliche Richtigkeit von Informationen der Krankenhäuser sowie die Einhaltung von Qualitätsanforderungen verstärkt kontrolliert werden können“, schreibt der G-BA auf BR-Anfrage (hier die gesamte Antwort).

Ob die beschlossenen Änderungen der Mindestmengenregelung Wirkung zeigen, ist aufgrund von Übergangsbestimmungen frühestens ab dem Jahr 2020 nachprüfbar.

Begriffserklärung

Symbolbild eines Klemmbretts

Die Mindestmengenregelung besagt, dass einige komplizierte Eingriffe nur durchgeführt werden dürfen, wenn das Krankenhaus über genügend Routine verfügt. In Deutschland existieren deshalb seit 2004 Mindestmengen, aktuell für folgende sieben Bereiche:

  • Prozedur (Mindestmenge)
  • Lebertransplantation, inkl. Teilleber-Lebendspende (20)
  • Nierentransplantation, inkl. Lebendspende (25)
  • Komplexe Eingriffe am Organsystem Ösophagus / Speiseröhre (10)
  • Komplexe Eingriffe am Organsystem Pankreas / Bauchspeicheldrüse (10)
  • Stammzelltransplantation (25)
  • Kniegelenk-Totalendoprothesen (50)
  • Versorgung von Früh- und Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von <1250g (14)

Aktueller Katalog der Mindestmengen-Prozeduren in Deutschland.

Derzeit sind zwei weitere Bereiche im Gespräch für eine Mindestmengenregelung. Die chirurgische Behandlung von Brustkrebs und Lungenkrebs. Bis 2020 etwa kann laut G-BA mit Ergebnissen gerechnet werden.

Symbolbild eines Klemmbretts

Wie viele Mindestmengen-OPs deutsche Krankenhäuser jährlich durchführen, müssen sie seit 2005 regelmäßig in ihren Qualitätsberichten veröffentlichen. Die Berichte geben einen Überblick über die Strukturen und Leistungen der Krankenhäuser, beispielsweise zum Diagnose- und Behandlungsspektrum und zur Personalausstattung. Die Angaben in den Qualitätsberichten finden sich unter anderem in Krankenhaus-Suchmaschinen wieder, mit denen Patienten Kliniken gezielt nach bestimmten Kriterien auswählen und hinsichtlich bevorstehender Eingriffe miteinander vergleichen können.

Qualitätsberichte haben aus Patientensicht einen großen Vorteil: Sie sind kostenlos und in der Regel über die Krankenhaus-Homepage abrufbar. Im Gegensatz dazu sind viele andere Krankenhaus-Datensätze nicht für die breite Öffentlichkeit verfügbar oder aber mit teilweise hohen Kosten verbunden.

Zentral gesammelt und veröffentlicht werden alle Qualitätsberichte beim Gemeinsamen Bundesausschuss in Berlin. Er ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und Krankenkassen in Deutschland. Als Entscheidungsgremium mit Richtlinienkompetenz legt er innerhalb des vom Gesetzgeber bereits vorgegebenen Rahmens fest, welche Leistungen der medizinischen Versorgung von den gesetzlichen Krankenversicherungen übernommen werden. Er ist damit auch für die Mindestmengenregelung zuständig.

Methodik

Um die Qualitätsberichte deutschlandweit für den größtmöglichen Zeitraum analysieren zu können, haben wir über den G-BA die Berichte im XML-Format angefordert. Im Teil C-5 eines jeden Qualitätsberichts haben Kliniken Art und Anzahl der durchgeführten Mindestmengen-Eingriffe im jeweiligen Berichtszeitraum angegeben. Falls Ausnahmetatbestände vorlagen, waren diese ebenfalls dort aufzuführen.

Wenn ein Krankenhaus einen Wert unter der Mindestmenge angegeben hat, haben wir das als unter Mindestmenge gezählt. Falls zusätzlich kein Ausnahmetatbestand angegeben war, haben wir das als unter Mindestmenge ohne Ausnahmetatbestand gezählt. Krankenhäuser mit mehreren Standorten müssen einen Bericht pro Standort sowie einen Gesamtbericht abgeben. Die Gesamtberichte haben wir nicht berücksichtigt. Allerdings haben manche Krankenhäuser Einzelberichte abgegeben und diese fälschlicherweise als Gesamtbericht gekennzeichnet. Diese Berichte haben wir als Einzelbericht berücksichtigt.

Einige Krankenhäuser haben in sämtlichen ihrer Standort-Berichte die Angaben des Gesamtberichts eingetragen. In diesem Fall haben wir nur einen Bericht berücksichtigt. Einige Berichte, die völlig unrealistische Einträge beinhalteten, haben wir nicht berücksichtigt: Beispielsweise hat ein Krankenhaus drei Jahre in Folge 100.000 komplexe Eingriffe angegeben.

An den Datei-Namen der Berichte lassen sich das Institutionskennzeichen des Krankenhauses sowie die Art des Berichts ablesen: Einzel-, Standort- oder Gesamtbericht. Das Bundesland kann an der dritten und vierten Stelle des Institutionskennzeichens abgelesen werden.