Brasilien ein Jahr nach der WM "Die Leute hatten Angst zu demonstrieren”
Vor einem Jahr startete die Fußball-WM in Brasilien. Von den Protesten Hunderttausender Brasilianer, die uns damals beschäftigt haben, redet heute kein Mensch mehr. Chris Gaffney, einer der Protestanführer von 2014, erklärt, was passiert ist.
"Ganz Brasilien wird sich während der WM in einem Kriegszustand befinden" hat uns Chris Gaffney vor einem Jahr gesagt. Im Rückblick muss man sagen: Er hat nicht Recht behalten. Die Massenproteste, die im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2014 die Nachrichten beherrschten, verschwanden von unserem Radar, so bald der Ball rollte. Und kehrten seitdem nicht mehr ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit zurück. Chris Gaffney organisierte 2014 etliche Protestaktionen und forschte als Professor für Stadtentwicklung in Rio de Janeiro Jahre lang zu den Auswirkungen großer Sportevents. Jetzt, ein Jahr nach der Fußball-WM, haben wir noch einmal mit ihm gesprochen - über Polizeigewalt, weiße Elefanten und die FIFA.
PULS: 64 Protestaktionen hast du vor einem Jahr im Interview mit uns angekündigt - eine Aktion pro WM-Spiel. Während der WM wurde aber kaum protestiert. Wenn es Demonstrationen gab, waren nur ein paar hundert Leute da. Warum?
Chris Gaffney: Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen fanden am Eröffnungstag der WM Proteste in großen Städten wie Rio de Janeiro oder São Paulo statt, die von der Polizei gewaltsam niedergeschlagen wurden. Die Leute hatten danach Angst davor zu demonstrieren. Zum anderen habe ich die kulturelle Bedeutung der Weltmeisterschaft in Brasilien vielleicht etwas unterschätzt. Das ganze Land stand still, weil die Leute in den Urlaub gefahren sind oder sich mit Freunden und Familie getroffen haben, um die Spiele zu sehen.
Was ist mit den Stadien? Vor der WM warst du sicher, sie würden danach als “weiße Elefanten” verkümmern.
Das sind sie alle schon. Die Hälfte der Stadien haben heute keinen Nutzen mehr. Sie sind praktisch zu Shoppingmalls geworden. Es sind also “weiße Elefanten” im klassischen Sinne. Aber sogar die Stadien, die heute noch gut besucht werden, würde ich als “weiße Elefanten” bezeichnen. Ich nehme mal das Estádio Mineirão in Belo Horizonte als Beispiel. Das Stadion wurde mit öffentlichen Geldern umgebaut und gehört jetzt einem privaten Investor. Um es überhaupt rentabel zu machen, muss aber die Öffentlichkeit überteuerte Eintrittsgelder bezahlen. Man gibt also eine Menge öffentliches Geld aus, um privatwirtschaftliche Gewinne zu erzielen.
Organisatorisch war die WM aber doch ein Erfolg - alle Stadien waren rechtzeitig fertig, es gab kaum Sicherheitsprobleme.
Als PR-Event war die WM ein Erfolg für Brasilien. Zum Thema Sicherheit: Beim WM-Finale waren 25.000 Polizisten in Rio de Janeiro im Einsatz. Für mich ist das ein Sicherheitsproblem. Die Stadien waren mehr oder weniger fertig, aber insgesamt sind elf Leute auf den Baustellen der Arenen gestorben. Und heute ist ein Großteil der Arenen vollkommen nutzlos. Das Turnier an sich mag gut funktioniert haben - es sind keine Touristen auf den Straßen gemeuchelt worden und keine Flugzeuge abgestürzt. Das setzt die Messlatte für die brasilianische Regierung aber sehr niedrig, und ich hätte mehr erwartet.
Vor und während der WM hast du die FIFA öffentlich und in vielen internationalen Medien kritisiert. Hat die FIFA versucht, dich irgendwie davon abzuhalten?
Sie haben mich mehrere Male kontaktiert, um mich darauf hinzuweisen, dass meine Informationen falsch seien und ich dieses und jenes nicht hätte sagen sollen. Sie haben versucht, mich zum Essen einzuladen oder zu irgendwelchen Konferenzen zu fliegen, um mich umzustimmen. Aber ich habe das nur als gute Gelegenheit gesehen, um meine Kritik persönlich vorzubringen.