Die Fluchttendenz des Schlagers Aber wehe, einer motzt!
Schlager ist für viele eine Art Ventil und Flucht aus dem Alltag. Das darf er auch sein. Aber oft ist die heile Schlagerwelt einfach zu perfekt - und lässt keinerlei Kritik zu.
"Der Schlager bietet seinen Hörern eine heile Welt, in die sie sich für drei Minuten eines Liedes oder für die zwei Stunden eines Helene-Fischer-Konzertes flüchten können."
- Schlagerforscher Ingo Grabowsky
Was Schlagerforscher Ingo Grabowsky mit "flüchten" meint, ist Eskapismus in Reinkultur. Hin und wieder den eigenen grauen Alltag vergessen, nur für ein paar Minuten, ist ja auch nicht schlimm. Machen wir alle. Ständig. Am Schlager stört nur das "Wie". Liebesgesäusel und Heimatverklärung, andere Themen kennt der Mikrokosmos von heute nicht mehr. Das sieht auch Schlagerforscher Grabowsky so:
"Es gibt eine sehr viel stärkere eskapistische Prägung heute im Schlager, als es meinetwegen in den Siebziger-Jahren der Fall war, wo man bei aller Unsicherheit in der Bundesrepublik Deutschland gut aufgehoben war und seinen Platz kannte. Und da gab es eine sehr viel größere Neigung dazu, sich zum Beispiel mit sozialen Problemen auseinanderzusetzen. Heute dient der Schlager in erster Linie wirklich dazu, den Hörer in eine etwas bessere Welt zu entführen."
- Ingo Grabowsky
Die Schlageradeligen von heute inszenieren sich als authentische junge Menschen von nebenan, mit denen man Pferde stehlen kann. Gleichzeitig bekommen die Schwiegereltern rote Ohren, wenn Helene und Andreas die Hüften schwingen. In Wahrheit sind sie natürlich Kunstfiguren, kreiert von erstklassigen Imageberatern.
Anders als Miley Cyrus oder Lady Gaga haben sie keine Makel, rocken alles von Bühne bis Familie, und retten nebenbei wahrscheinlich Tierbabies. Wonderwoman und Alpen-Ken. Glatt wie Plastik und perfekte Projektionsfläche. Kritik? Lächeln sie einfach weg.
Beispiel Gabalier: Auf einem Albumcover schwingt er sich in eine Körperhaltung, die der ein oder andere als Hakenkreuz erkennt. Wer das aber ausspricht, ist die linke Spaßbremse und kann sich schon mal für den Shitstorm der treuergebenen Fangemeinde wappnen.
Gabalier singt auch die österreichische Nationalhymne. Neben den Söhnen des Landes werden jetzt per Gesetzesbeschluss eigentlich auch die Töchter erwähnt. Dem Volks-Rock’n’Roller ist das egal. Auf Genderdebatten hat er laut eigener Aussage keinen Bock. Die Empörung in Österreich ist groß, die Rückendeckung größer. In Deutschland wird es gar nicht erst zum Thema. Volks-Rock'n'Roll: "Des is einfach bloß a riesen Gaudi."
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Schlager darf ein Ventil sein, ein Urlaubsort im Kopf. Niemand verlangt Schunkelnummern über Bankencrashs oder die Nahostkrise. Trotzdem wird beim Schlager allzu oft ein rückwärtsgewandter Traumpalast als Realität verkauft. Perfekte Menschen als Maß aller Dinge – wann hat das auf Dauer jemals gut getan?