Corona vs. Gleichberechtigung Wie sich Corona auf Gender Equality auswirken könnte
Krisen können Chancen beinhalten. Auch für die Geschlechtergerechtigkeit. Warum die Corona-Pandemie die Gleichberechtigung ordentlich pushen könnte, erläutern die Wissenschaftlerin Michèle Tertilt und die Autorin Laura Späth.
Wir befinden uns im Ausnahmezustand. Das spürt nicht nur, wer plötzlich auf menschenleeren Straßen steht. Das spüren gerade vor allem diejenigen in sogenannten "systemrelevanten Branchen". Die an der Kasse beim Supermarkt stehen oder Klopapier-Regale neu befüllen. Denen in der Notaufnahme die Atemschutzmaske nach einer 12-Stunden-Schicht tief ins Gesicht schneidet oder die Menschen betreuen, die sonst niemanden haben.
Diesen Leuten wird plötzlich vom Balkon aus applaudiert. Und es sind zum Großteil Frauen, die buchstäblich in Deutschland "den Laden am Laufen halten", wie es Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Fernsehansprache im März formuliert hat. Der Frauenanteil in den systemrelevanten Berufsgruppen liegt bei knapp 75 Prozent. Gleichzeitig werden sie meist schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Das zeigt zumindest eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind weltweit 70 Prozent Frauen im Gesundheits- und Sozialwesen tätig.
Eine Chance für die Gleichberechtigung?
Während das Virus gesundheitlich vor allem Männer gefährdet, sind Frauen wirtschaftlich gesehen momentan stärker bedroht, sagt Entwicklungsökonomin Michèle Tertilt von der Uni Mannheim: "Wenn ich mir beispielsweise die Einkommensverluste anschaue, sind in dieser Krise Frauen mehr betroffen als Männer." Tertilt zeigt in ihrer neuesten Studie "The Impact of COVID-19 on Gender Equality", warum sich die Pandemie vor allem auf die Beschäftigungsmöglichkeiten von Frauen auswirkt. Eine Studie des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung hat zudem belegt, dass Mütter öfter auf ihre Erwerbsarbeit verzichten als Väter. Die Frauen sind der Umfrage zufolge unzufriedener mit den neuen Umständen als Männer. Mal ganz abgesehen vom Problem der ansteigenden häuslichen Gewalt, die der Situation gerade geschuldet ist.
1,5 Milliarden Kinder nicht in der Schule
"Was Frauen auch mehr betreffen wird oder schon betrifft, ist das Kinderbetreuungsproblem", sagt Tertilt. Weltweit sind laut UNESCO rund 1,5 Milliarden Kinder nicht in der Schule und müssen betreut werden. Und dieser Job hängt nach wie vor hauptsächlich an den Müttern, so Tertilt – "auch, wenn beide Elternteile von zuhause aus arbeiten". Das alles sind kurzfristige Folgen, erklärt die Wirtschaftsprofessorin.
In der Studie von Tertilts Team gehen die Forschenden aber auch auf mögliche längerfristige Folgen ein. Dazu vergleichen sie die Covid-19-Pandemie mit Krisen aus der Vergangenheit, nach denen es größere (wirtschaftliche) Umbrüche und Rezession gab:
Schaut man sich die Veränderungen am Arbeitsmarkt nach dem Zweiten Weltkrieg an, in dem zum Beispiel viele Frauen Männerjobs übernahmen, in Fabriken schufteten und in die Werften strömten, während die Männer in den Krieg zogen, waren im Anschluss mehr Männer arbeitslos. Auch während anderer weltweiter wirtschaftlicher Krisen wie 2008 seien eher "Männerjobs" von der Krise betroffen gewesen, hätten Baustellen statt Kitas schließen müssen.
"Verdrehte Rollen" bieten Perspektiven, sagen die Forschenden
"Das ist jetzt anders", sagt Tertilt. "Gerade sind es die Frauen, die um ihre Jobs fürchten und Männer, die in Bereichen arbeiten, die ganz gut vom Home Office aus machbar sind." Doch genau darin sieht das Team langfristig betrachtet einen Lichtblick: In einigen der für die Studie befragten Familien gibt es "verdrehte Rollen". Die Mutter ist also "an der Front", kämpft als Ärztin oder Schwester im Krankenhaus um das Leben von Corona-Patient*innen. Der Vater hingegen ist beispielsweise als Manager in der Telekonferenz im Home Office. "Da muss man in der Familie gar nicht erst verhandeln. Da ist eigentlich ziemlich klar: Der Mann kümmert sich. Und solche Familien gibt es einige aktuell." In den USA seien es etwa zehn Prozent. Tertilt geht von einer ähnlichen Lage in Deutschland aus.
Und noch etwas könnte sich für Frauen im Arbeitsmarkt positiv entwickeln, sagt sie: Es tue sich gerade etwas in den Köpfen einiger Chefs von Unternehmen, die es beispielsweise kurzfristig ermöglichen mussten, von zuhause aus zu arbeiten. "Die Arbeit aus dem Homeoffice kann sich etablieren – auch über die Zeit der Corona-Krise hinaus. Mütter können von dieser neuen Flexibilität in Zukunft stärker profitieren", sagt Tertilt.
Frauen müssen jetzt Forderungen stellen, sagt Autorin Laura Späth
Rollenbilder sind aber auch ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und haben sich über Jahrhunderte etabliert. Deswegen glaubt die feministisch aktive Autorin Laura Späth aus München nicht, dass die Pandemie so schnell etwas verändert: "Wir Frauen sind damit groß geworden, diese Care-Arbeit zu verrichten, meistens unbezahlt." Doch worin sie Tertilt zustimmt: "Corona hat auf jeden Fall gezeigt, dass gesellschaftlich wesentlich mehr möglich ist, als wir dachten. Und da anzusetzen, lohnt sich auf jeden Fall." Welche Arbeit Frauen unbezahlt oder unterbezahlt leisten, sei demnach bereits deutlich sichtbarer geworden. "Und aus dieser Position der Sichtbarkeit heraus können wir jetzt Forderungen stellen. Und zwar: Einerseits nach besserer Bezahlung, aber auch nach besseren Bedingungen, oder dass überhaupt mal Care- und Pflegearbeit, die zuhause geleistet wird, nicht mehr so selbstverständlich ist und Frauen auch die Möglichkeit haben zu sagen: Nein, ich leiste die Arbeit nicht mehr, wenn es kein gesellschaftliches Entgegenkommen gibt."
Späth wünscht sich, dass sich die Krise langfristig positiv auf die Gleichberechtigung auswirkt: "Das Problem dabei ist nur, dass die Leute, die jetzt von der Krise betroffen sind, danach keine Kapazitäten haben, sich zu organisieren und groß Forderungen zu stellen. Deswegen braucht es Unterstützung von den Leuten, die jetzt gerade in privilegierten Positionen sind." Also alle, die nicht von Jobverlust, sozialem Abstieg oder doppelter Belastung durch die Kinderbetreuung betroffen sind. Ein "Worst Case Szenario", so Späth, wäre jetzt einfach nichts zu tun. Und stattdessen alles, was beispielsweise Krankenschwestern, Kassiererinnen oder berufstätige Alleinerziehende im Home Office geleistet haben, so auch in Zukunft vorauszusetzen. Nach dem Motto: Während Corona habt ihr es ja auch irgendwie gepackt.
PULS vom 17. April 2020 – ab 15 Uhr