Selbstversuch Zehn Tage ohne Spiegel
Bei jeder Gelegenheit checken wir unser Aussehen, die meisten Fotos, die wir machen, sind Selfies. Wir sind Narzissten. Alle. Aber können wir auch anders? PULS Autorin Nadine Miller macht den Selbstversuch.
Auf narzisstische Menschen trifft man überall – sei es im realen Leben oder in der digitalen Welt: eitel, arrogant und selbstverliebt. Der Begriff "Narzissmus" geht zurück auf den griechischen Mythos von Narziss. Der Erzählung nach sieht er sich im Wasser und verliebt sich in sich selbst. Beim Versuch sich zu umarmen, kippt er ins Wasser und ertrinkt. So schlimm muss es nicht enden. Trotzdem spricht man heutzutage in der Psychologie schnell von einer "Narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ – und die kann krank machen.
Ich frage mich: Wie viel Selbstverliebtheit steckt denn wirklich in uns? Oder noch viel wichtiger: Wie viel Selbstverliebtheit steckt eigentlich in mir? Ich muss leider gestehen: Ich glaube, zu viel. Ich starre in jede reflektierende Fläche – egal ob Schaufenster, Spiegel, Tramscheibe oder Verkaufstheke. Wenn mein Instagram-Account reden könnte, würde er mir sagen: "Hör endlich auf, dich dauernd selbst zu fotografieren." Ich will sehen, ob ich das Ganze auch wieder abstellen kann. Deswegen heißt es für mich jetzt: 10 Tage, ohne mich auch nur einmal selbst anzuschauen.
Tag 1:
Schon die ersten zehn Minuten meines Experiments überfordern mich. Zähne putzen ohne Spiegel? Nun gut, dreimal übers Gesicht wischen und hoffen, dass niemand Zahnpasta-Reste in meinem Mundwinkel findet. Aber schminken? Unmöglich – also lass ich’s. Die Folge: Ich fühle mich doch ein wenig nackt im Gesicht. Sogar etwas verletzlich. Mir macht es zwar an sich nichts aus, ungeschminkt zu sein, doch fühle ich mich mit Schminke irgendwie selbstbewusster. Als wäre die Gesichtsbemalung eine Art Schutzschild.
Außerdem merke ich, wie schnell so etwas Selbstverständliches wie ein Spiegel fehlen kann. Und in wie vielen Flächen man sich spiegelt, wenn man versucht, sie bewusst zu vermeiden. Nicht nur die Spiegel zu Hause werden zum Feind – auch jede gläserne Fläche in der Stadt. Sogar das Handy und der Laptop drohen mein Experiment schon am ersten Tag zu zerstören. Aber ich widerstehe.
Tag 2:
Mein Selbstversuch scheitert fast in der Straßenbahn: Ich kann nicht nach draußen schauen, ohne mich im Fenster zu spiegeln. Bevor es zu spät ist, starre ich schnell mein Gegenüber an. Der schaut zuerst peinlich berührt weg, dann hält er meinem Blick stand und wirkt ein wenig irritiert. "Schaut der angewidert?" denke ich. Habe ich einen Pickel und ich bemerke es nicht? Oder glaubt der am Ende noch, ich stehe auf ihn, nur weil ich keine Möglichkeit habe, mich selbst anzugaffen? Wahrscheinlich ist der Arme einfach nur unsicher, warum ich ihn die ganze Zeit anschaue.
In der Arbeit werde ich mit folgenden Worten begrüßt: "Geht es dir gut? Du schaust krank aus." Herzlichen Dank – ich bin nur ungeschminkt. Jetzt, wo ich weiß, dass ich für andere heute wohl schlechter aussehe als sonst, fällt es mir noch schwerer, nicht mal kurz einen Blick auf mich zu werfen.
Tag 3:
Ich dachte, nach zwei Tagen ohne Schminke und Spiegel hätte mich daran gewöhnt. Ist aber nicht der Fall. Überall, wo ich auch nur eine reflektierende Oberfläche erahne, muss ich mich immer noch krampfhaft zwingen, nicht hinzuschauen. Ich bin in der Stadt unterwegs. Ich kann mich wegen der Challenge schließlich nicht zu Hause einschließen. Bei jedem Fenster halte ich mir die Augen zu – und remple an dem Tag mehrmals Leute an. Aber: Ich bekomme heute sogar ein paar Komplimente, dass ich gut aussehen würde. Und das ohne Schminke. Geil! Das Gefühl nicht zu wissen, wie meine Haare aussehen oder mein Outfit harmoniert, ist mir an diesem Tag völlig egal. Was mich aber immer noch fuchsig macht, ist nicht zu wissen, ob ich etwas zwischen den Zähnen habe. Petersilie, Zwiebeln, der Kräuter-Mix vom Salat? Das fand ich schon immer eklig – auch bei anderen.
Tag 4:
Ich fühle mich wie Ted Mosby aus "How I Met Your Mother". In einer Folge will er auf keinen Fall über den Ausgang des Super Bowls gespoilert werden. Deshalb baut er sich seine eigene Brille namens "Sensorischer Deprivator 5000". Mit Scheuklappen torkelt er durch die Stadt und versucht, nicht auf den Fernseher zu schauen.
Funktioniert nicht bei ihm. Und bei mir auch nicht.
Nach 96 Stunden ist mein Experiment zu Ende. Was passiert ist? Ich bin bei der Arbeit auf die Toilette gegangen, habe mir gedankenverloren die Hände gewaschen – und nach ein paar Sekunde gemerkt, dass ich mich dabei die ganze Zeit selbst angestarrt habe. Verdammt! Ich war traurig, dass ich die Challenge nicht durchziehen konnte und gleichzeitig auch erleichtert, weil ich im Spiegel gesehen habe, dass ich gar nicht so scheiße aussah, wie ich mir in den letzten Tagen manchmal vorkam.
Was nach meiner Challenge übrig bleibt? Ich achte nun bewusst darauf, wie oft ich mich anschaue und wie viel Wert ich darauf lege. Ja, ich bin eitel – habe aber auch gemerkt, dass ich ganz gut ohne Schmink-Chichi kann. Vier Tage ohne Spiegel haben mir meine narzisstische Ader nicht ausgetrieben, aber ich kann jetzt etwas reflektierter mit ihr umgehen und eher merken, wenn’s zu viel wird.
In Maßen kann Narzissmus ja auch ziemlich gut tun. Bis zu einem gewissen Grad stärkt er das Selbstbewusstsein. Negativ wird es erst – wie mit so einigem – wenn es zu viel wird. Und die Gefahr ist vor allem in den sozialen Netzwerken oft groß, wenn der Narzissmus mit Likes gefüttert - oder vom Neid auf die Likes der anderen, so richtig angestachelt wird. Und darauf habe ich jetzt definitiv keine Lust mehr.