Gewalt gegen Frauen in der Türkei "Die Menschen suchen den Fehler beim Opfer"
Als in der Türkei im Frühjahr eine Studentin vergewaltigt und ermordet wurde, ging ein Aufschrei durchs Land. Eine Ausnahme: Denn Gewalt gegen Frauen wird ansonsten eher ignoriert. Die Journalistin Çiçek Tahaoğlu will das ändern.
PULS: In der Türkei ging im Frühjahr ein Aufschrei durch die Gesellschaft, als die junge Studentin Özgecan Aslan vergewaltigt und ermordet wurde. Tausende Menschen, darunter auch viele Männer, gingen auf die Straße und demonstrierten gegen Gewalt an Frauen. Auf Twitter lief #sendeanlat - zu deutsch: erzähl auch du - steil. Was ist ein halbes Jahr später übrig geblieben?
Çiçek Tahaoğlu: Das Bewusstsein, was Gewalt gegen Frauen angeht, wächst langsam. Die meisten Menschen in der Türkei erinnern sich natürlich noch an diesen Fall. Sie haben Özgecan Aslan nicht einfach vergessen. Aber sie zeigen bei anderen Mordfällen und Gewalttaten gegen Frauen nicht die gleiche Reaktion. Im selben Monat wurde noch ein Mädchen von einem Busfahrer vergewaltigt und ermordet, aber niemand hat davon gesprochen. Warum? Özgecan Aslan war ein spezieller Fall: Sie war Studentin. Sie lebte bei ihren Eltern. Und sie war gerade auf dem Nachhauseweg vom Einkaufen. Sie war also so eine Art "good girl" in den Augen vieler Türken. Eine Frau, die jeder in der Türkei akzeptieren kann.
Du meinst also, wenn das Opfer nicht in die Moralvorstellung der Menschen passt, dann sind sie auch nicht empört?
Genau. Wenn das selbe einer Prostituierten passiert oder einer Frau, die in einer Kneipe bedient, würde die breite Masse niemals so reagieren, wie sie es bei Özgecan Aslan getan hat. Denn viele Menschen schauen immer zuerst nach einem Fehler beim Opfer, dann können sie sagen: Okay, sie wurde vergewaltigt, aber sie hat ja auch nen Minirock getragen oder sie war nach Mitternacht noch unterwegs. Viele Menschen versuchen Gewalt immer mit Kultur und Tradition zu rechtfertigen. Und das geht einfach nicht. Wir können nicht sagen: Wir haben gewisse Geschlechterrollen, nur weil wir in der Türkei leben. Die Menschen benutzen das als Ausrede.
Du gibst seit vier Jahren einen monatlichen "Male Violence Report" heraus, eine Art Gewaltstatistik. Warum?
Weil es keinerlei offizielle Statistiken zum Thema männliche Gewalt gibt. Wenn ein Parlamentsmitglied zum Beispiel eine Anfrage ans Parlament stellt und wissen möchte, wie viele Frauen im letzten Jahr Opfer männlicher Gewalt wurden, dann bekommt er von jedem Ministerium eine andere Antwort. Das Innenministerium sagt etwas Anderes als das Familienministerium oder das Justizministerium. Daher versuchen wir, ein Bild der Gewalt aufzuzeigen und Bewusstsein für dieses Thema zu schaffen.
Wie kommst du an die Daten?
Meine Kollegen und ich durchforsten Zeitungen, Onlineseiten, alle Arten von Medienberichten nach Morden, Vergewaltigungen und anderen Gewalttaten. Nur die Fälle, die öffentlich gemacht wurden, können wir erfassen. Das sind also nicht die tatsächlichen Zahlen, aber immerhin können wir anhand von ihnen zeigen, dass um Beispiel fast die Hälfte aller ermordeten Frauen Opfer ihrer Ehemänner wurden, und 20 Prozent von ihnen wollten sich trennen. Wir erstellen aus unseren Berichten auch Grafiken oder Videos und schicken sie zum Beispiel an Schulen.
Gibt es Gegenden in der Türkei, in denen Gewalt gegen Frauen höher ist?
Eigentlich nicht. Sie betrifft leider das ganze Land gleichermaßen. Und auch jede Gesellschaftsschicht. Vergewaltigungen finden zum Beispiel sehr oft in Krankenhäusern statt, von Ärzten, das lese ich sehr oft.
Wie sind die Reaktionen auf deinen Monatsbericht?
Männer hassen diesen Bericht. Jeden Monat schreiben sie mir Emails: Ich bin kein Mörder und auch kein Vergewaltiger, wie kannst du sowas behaupten? Du diskriminierst uns Männer! Ich antworte ihnen meist nicht, denn was soll ich ihnen sagen? Alles was ich zu sagen habe, steht in dem Bericht. Ich habe keine Alternativantwort für sie. Manchmal wird der Bericht auch zensiert: Vor etwa einem Jahr hatten wir über einen Vergewaltigungs-Fall im "Recep Tayyip Erdoğan Krankenhaus" berichtet. Aber es gehört eben Recep Tayyip Erdoğan, und der ist unser Präsident. Also wurde der Bericht zensiert. Man kann ihn nicht mehr online finden.
Das heißt, man hat aus Image-Gründen die Statistik verfälscht?
Ja, leider. Aber genau das ist es: Erst wenn sich die Meinungsführer ändern, dann ändert sich auch die Gesellschaft.