Wahlrecht für Menschen mit Behinderung Auch Bayern führt demnächst das inklusive Wahlrecht ein
Bisher dürfen Menschen mit Behinderung, die eine Totalbetreuung brauchen, nicht an Wahlen teilnehmen. Nach einer Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht ändert der Freistaat Bayern jetzt das Wahlrecht.
Wer eine "Betreuung in allen Angelegenheiten benötigt" – der durfte in Deutschland bislang nicht wählen. So eine "Totalbetreuung" kann von einem Gericht angeordnet werden, wenn ein Mensch nicht mehr in der Lage ist, Entscheidungen für seinen Alltag selbst zu treffen. In Bayern sind das ungefähr 20.000 Menschen, darunter auch Menschen mit Behinderung.
Diese Regelung ist verfassungswidrig, urteilte im Februar das Bundesverfassungsgericht. Das Gesetz verstoße gegen den Grundsatz der Allgemeinheit und das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung. Schon zur kommenden Europawahl am 26. Mai darf es diese Diskriminierung nicht mehr geben.
In der UNO-Behindertenrechtskonvention ist das Wahlrecht für Menschen mit Behinderung verankert. Die gilt in Deutschland bereits seit 2009, mit Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein führten die ersten Bundesländer 2016 das „inklusive Wahlrecht“ für Kommunal- und Landtagswahlen ein. Seit diesem Jahr gilt das auch in Brandenburg, Bremen und Hamburg. Andere Bundesländer wie Bayern müssen spätestens mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nachziehen.
Und die Entscheidungsfähigkeit?
Die Bewertung, ob jemand in der Lage ist, eine vernünftige Entscheidung zu treffen, ist unmöglich. Zu diesem Ergebnis kam eine Gruppe von Experten vor 25 Jahren. Aber sind Menschen, die eine Totalbetreuung brauchen, überhaupt wahlfähig?
Beim Münchner Verein "Helfende Hände" werden mehrfachbehinderte Erwachsene betreut. Hier ist man skeptisch. Denn: Die Menschen, die hier leben, können nicht sprechen und haben ein eher niedriges kognitives Entwicklungsniveau. Dementsprechend schwierig oder sogar unmöglich ist es, ihnen so abstrakte Begriffe wiePolitik zu erklären, sagt die Sonderpädagogin Eva Maria Trautwein. Sie ist sich nicht sicher, ob ihre Bewohner überhaupt verstehen können, was eine Wahl bedeutet. Außerdem bringt ihrer Meinung nach das Wahlrecht für Menschen mit Vollbetreuung ein weiteres Problem mit sich:
"Die rechtlichen Betreuer haben ja die Vollmacht, in allen Belangen stellvertretend handeln zu können und können die Briefwahl beantragen ohne Rücksprache. Und das lässt sich nicht kontrollieren aus meiner Sicht. Ihrem betreuten Menschen können Sie es nicht erklären, das Kreuz kann irgendwer gemacht haben."
Eva Maria Trautwein, Sonderpädagogin
Es lässt sich also nicht nachvollziehen, ob das Kreuzchen auf dem Wahlzettel tatsächlich von dem Menschen mit Behinderung gemacht wurde - oder von dessen rechtlichem Vertreter. Die Betreuten können nicht lesen und schreiben und sind oft auch körperlich nicht in der Lage, ein Kreuzchen zu setzen.
Das Wahlrecht für Menschen mit Vollbetreuung hält Trautwein deshalb zumindest für bedenklich. Trotzdem möchte sie nicht ausschließen, dass es auch Menschen gibt, die unter voller Betreuung stehen und trotzdem in der Lage sind, eine Wahlentscheidung zu treffen. Positiver sieht man die Entwicklung im Franziskuswerk in Schönbrunn: Von einem "längst überfälligen Schritt" sprach dessen Geschäftsführerin Michaela Streich in der Süddeutschen Zeitung.
Bayern bringt Gesetz auf den Weg
Inzwischen arbeitet auch Bayern an einer entsprechenden Änderung des Wahlrechts. Das teilte das Innenministerium auf Anfrage des Evangelischen Pressedienstes mit. Man warte noch den genauen Gesetzestext vom Bund ab. Dann wird der Landtag "zeitnah" eigene Änderungen machen, damit Menschen mit Totalbetreuung nicht nur zur kommenden Europawahl, sondern auch 2020 bei den bayerischen Kommunalwahlen mitbestimmen dürfen.
Sendung: PULS vom 01.04.2019 ab 15 Uhr