TV & Serie // "The Sinner" & "Alias Grace" "Nicht immer der, der zuschlägt, ist der alleinige Mörder"
"Alias Grace" und "The Sinner" sind zwei ungewöhnliche Crime-Geschichten über zwei Frauen, die schockieren, verwundern und nachdenklich machen. Zwei Serien auf der Suche nach dem "Warum?".
Zwei verdächtige Frauen, zwei Mordfälle, zweimal die Frage nach dem Warum: Die Protagonistinnen von "Alias Grace" und "The Sinner" trennen zwar 170 Jahre – ihr Geschichten ähneln sich trotzdem auf allzu tragische Weise.
"Alias Grace" spielt im Kanada des 19. Jahrhunderts. Es ist eine wahre Geschichte, die Autorin Margaret Atwood hat sie zum gleichnamigen Roman verarbeitet: Die 16-jährige Grace Marks wird 1843 für den Mord an ihrem Dienstherrn und seiner Hausdame verurteilt. Die beiden waren tot im Keller des verlassenen Hauses aufgefunden worden. Als Grace gefasst wird, kann sie sich nicht erinnern – das behauptet sie jedenfalls. Ihre Person fasziniert die feine Gesellschaft, die seitdem rätselt, ob das Dienstmädchen wirklich zu so einer Tat fähig gewesen sein konnte. 15 Jahre nach ihrer Verurteilung soll ein Nervenarzt diese Frage endgültig klären. Aber ob Grace eine Meisterin der Manipulation und eine Mörderin ist, das ist einem am Ende der sechs Folgen eigentlich völlig egal. Die Serie zeigt, dass sie genug Gründe gehabt hätte – ihre Mutter ist tot, ihr Vater gewalttätig und trunksüchtig und ihre neuen Dienstherren sind übergriffig und beschimpfen sie auf's Übelste.
Keine Hure, keine Heilige
Auch Cora Tannetti (überraschend toll gespielt von Jessica Biel) muss sich in "The Sinner" jahrelang anhören, eine Sünderin und Hure zu sein – von ihrer strenggläubigen Mutter. Die gibt Cora die Schuld an der schweren Krankheit ihrer Schwester, die seit ihrer Geburt bettlägerig ist. Die Hauptfiguren beider Serien leiden unter ihrer strengen religiösen Erziehung, ihr Selbstbild ist geprägt von Schuld und Sühne.
Im Sommer 2017 sitzt Cora mit ihrem Mann und ihrem Sohn beim Picknick am Strand. Als sie die Musik von ihren Platznachbarn hört, tickt sie plötzlich komplett aus: Mit dem Obstmesser sticht sie wieder und wieder auf den Mann ein, bis er regungslos und blutüberströmt im Sand liegt. Cora gesteht die Tat sofort, kann sie der Polizei aber nicht erklären – sie kennt ihr Opfer nicht mal. Detective Harry Ambrose ahnt, dass mehr hinter dem Mord steckt, als ein kurzer Aussetzer einer braven Ehefrau. Im Verhör deckt er Stück für Stück ihre lückenhaften und oft falschen Erinnerungen auf.
Die beiden Serien funktionieren erstaunlich ähnlich. Beide Frauen leiden unter Gedächtnisverlust. Cora und Grace sind hilflos, gefangen in ihren Umständen und haben nur noch eine Sache in der Hand: nämlich wie ihre Geschichte erzählt wird.
Ein entschieden weiblicher Blick
"Alias Grace" und "The Sinner" sind zwei ungewöhnliche Krimiserien, die schockieren, verwundern und nachdenklich machen. Beide Serien zeigen uns die Geschichten ihrer Hauptfiguren aus einer entschieden weiblichen Sicht – was die Kamera uns offenbart und was nicht, entscheiden die Erzählerinnen. Sie lenken den Blick auf ihren Körper, ihre Gesichter – die Männer, die sie begehren.
Das Leid, der Missbrauch und die Traumata von Grace und Cora werden nur angedeutet, der Horror entsteht in unseren Köpfen – und wir sind ihm genauso ausgeliefert, wie sie selbst. Die beiden mögen schuldig sein – aber wie Grace es so schön sagt: "Es ist nicht immer der, der zuschlägt, der alleinige Mörder."
"Alias Grace" und "The Sinner" gibt’s bei Netflix.
Sendung: Hochfahren vom 22.11.2017 - ab 7 Uhr