Humanitäre Visa statt Massengrab Mittelmeer Das könnte die Revolution in der Flüchtlingspolitik werden
2016 war das tödlichste Jahr für Flüchtlinge bisher. Mehr als 5000 Menschen sind im Mittelmeer gestorben. Jetzt fordert ein Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs, Flüchtlinge legal nach Europa zu bringen: mit humanitären Visa.
Von: Fumiko Lipp
Stand: 08.02.2017
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Von Libyen nach Italien ins sichere Europa sind es 300 Kilometer über das Mittelmeer. Eine Reise, die viele Flüchtlinge nicht überleben. Letztes Jahr haben mehr als 5000 Menschen Europa nur tot erreicht, angeschwemmt an den Küsten. Das ist leider nichts Neues. Das Europäische Parlament, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und verschiedene Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch fordern deshalb schon lange legale und damit sichere Fluchtwege. Möglich wäre das durch sogenannte humanitäre Einreisevisa.
Bisher kann ein Asylantrag nur auf europäischem Boden gestellt werden. Das humanitäre Visum könnten Flüchtlinge überall auf der Welt beantragen. Geht der Antrag durch, könnten sie einfach in ein Flugzeug steigen und sicher bei uns landen. Bezahlen müssen sie die Reise natürlich selbst – was trotzdem billiger wäre als die Preise, die Schleuser oft für die lebensgefährliche Überfahrt verlangen.
EU-Grundrechte sollen auf der ganzen Welt gelten
Paolo Mengozzi, Generalanwalt am EuGH
Bild: Paolo Mengozzi - EuGH
Paolo Mengozzi, Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH), fordert humanitäre Visa für die, die wirklich Hilfe brauchen. Er sagt, ohne treibe es die Menschen „in die Arme jener, gegen die die EU derzeit vor allem im Mittelmeer mit großen operationellen und finanziellen Anstrengungen vorgeht“ – in die Arme der Schlepper.
Mengozzi will dafür die Grundrechte, die bei uns in der EU gelten, über die Grenzen des Staatenbunds erweitern – heißt: Das europäische Asylrecht soll quasi auf der ganzen Welt gelten. Natürlich aber nur für die, die auch bei uns Anspruch auf Asyl hätten. Diese Menschen müssten dann aber nicht noch einmal ihr Leben aufs Spiel setzen, um erst auf europäischem Boden Asyl zu beantragen.
EU-Mitgliedsstaaten wären laut Mengozzis Gutachten dann dazu verpflichtet, Flüchtlingen ein humanitäres Visum auszustellen, wenn sie Folter oder anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt wären könnten. Das wäre eine neue Auslegung des Visakodexes, Artikel 4.
Die Chancen stehen gut
Gerade wird der Eilantrag einer syrischen Familie aus Aleppo verhandelt. Sie ist mit drei kleinen Kindern aus Syrien geflohen. In Beirut stellten sie in der belgischen Botschaft einen Asylantrag. Der wurde abgelehnt. Die Familie meldete sich dann beim Rat für Ausländerstreitsachen in Belgien und jetzt will das zuständige belgische Gericht eben vom EuGH wissen, ob und in welchen Fällen Flüchtlingen ein humanitäres Visum ausgestellt werden muss.
14 EU-Länder haben eine Stellungnahme zu dem Fall ans EuGH geschickt – auch Deutschland. Und die ähneln sich: Sie wollen keine juristische Regelung. Ob ein Land oder die ganze EU ihre Grundrechte auch außerhalb des Staatsgebiets gelten lässt, soll eine politische Entscheidung bleiben. In den meisten Fällen folgen die Richter des EuGH allerdings dem Gutachten des Generalanwalts. Geht Mengozzis Vorschlag durch, würde er die Abschottungs-Politik der EU in der Flüchtlingsfrage einmal komplett umkehren. Das Urteil wird in den nächsten Wochen erwartet.
Ein paar Fragen bleiben offen
Noch ist nicht klar, wo und wie Flüchtlinge ein humanitäres Visum vor Ort beantragen können sollen. Eine Möglichkeit wäre, dies Botschaften und Konsulaten zu ermöglichen. Auch wenn vielen Flüchtlingen der oft tödliche Weg über das Mittelmeer dadurch erspart bliebe, ist das für viele keine Option. Oft gibt es in den betroffenen Ländern keine offene EU-Botschaft oder Konsulate. Wo also sollen sie den Antrag stellen? In Syrien war es beispielsweise auch zeitweise nicht möglich, aus dem Land zu kommen, um zum Beispiel zu den EU-Botschaften in Libyen zu reisen.