Jürgen Wiebicke Gedanken zum Tag
Die Stunde der Ethik schlägt dann, wenn sich nichts mehr von selbst versteht. Wenn sich angesichts der Vielzahl von Optionen ein Gefühl der Überforderung einstellt.
03. September
Dienstag, 03. September 2024
Die Stunde der Ethik schlägt dann, wenn sich nichts mehr von selbst versteht. Wenn sich angesichts der Vielzahl von Optionen ein Gefühl der Überforderung einstellt. Dann werden Philosophen danach gefragt, wie man richtig und falsch unterscheiden kann. Allerdings lauert hier eine klassische Falle, in der sich Ethiker in zweieinhalbtausend Jahren schon häufig verfangen haben. Dann nämlich, wenn sie ihrerseits überfordert haben. Wenn ihre Grundsätze zu weit entfernt waren von den moralischen Kapazitäten jedes Einzelnen, also eher für Engel gedacht waren. Dann hatten sie ihren Platz hinterher in der Bibliothek, aber nicht im wirklichen Leben. Vielleicht könnte es in der heutigen Situation hilfreich sein, sich klarzumachen, dass auch das Nicht-Tun eine kluge Entscheidung sein kann. Optimierungsangebote kann man auch ausschlagen. Das könnte der Ethik einen Teil ihrer Schwere nehmen. Aber eine Last ist niemandem von uns mehr zu nehmen. Wir müssen es immer selbst tun. Die Zeiten sind vorbei, in denen man die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben an moralische Autoritäten delegieren konnte. Wer ethisch mündig werden will, steht nun vor der folgenden Aufgabe: Verwandele die Frage "Dürfen wir bleiben, wie wir sind?" in die Ich-Form.
Entnommen aus: Jürgen Wiebicke "Dürfen wir so bleiben, wie wir sind? Gegen die Perfektionierung des Menschen - eine philosophische Intervention", Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2013