Ein Krater mit Trümmerteilen, im Hintergrund Menschen und eine zerstörte Skyline von Gaza-Stadt.
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In Gaza kämpft aktuell das israelische Militär, die IDF, im Krieg gegen die Hamas.

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"Besetzung des Gazastreifens produziert neue Hamas"

Gut ein Monat ist seit dem Massaker der Terrororganisation Hamas in Israel vergangen. Inzwischen kämpft das israelische Militär in Gaza, um die Hamas zu vernichten. Wie können dabei Zivilisten geschont werden und was passiert mit Gaza nach dem Krieg?

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

In Gaza kämpft aktuell das israelische Militär, die IDF, im Krieg gegen den Terror der Hamas. Wie geht die IDF vor, kann die Hamas überhaupt besiegt werden und was passiert mit den 2 Millionen Zivilisten in Gaza? Für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) hat BR24 mit Gustav Gressel gesprochen. Er ist internationaler Militärexperte vom European Council on Foreign Relations in Berlin und war vorher viele Jahre beim österreichischen Verteidigungsministerium und Bundesheer.

BR24: Herr Gressel, wir sehen die bedrückenden Bilder von den Ruinen in Gaza. Wird Gaza ein militärischer Albtraum für die israelische Armee?

Gustav Gressel: Jeder Krieg ist ein Albtraum. Aber Gaza ist insbesondere schwierig und auch schwer zu kämpfen. Es ist ein riesiges Schlachtfeld, es sind enorm große, ausgedehnte Siedlungen, stark untertunnelt und dazu noch Zivilisten zwischen den Kämpfern, die von Kämpfern kaum zu unterscheiden sind. Das macht das Vorgehen enorm schwierig.

Unterirdisches Gaza: das Herz der Hamas

BR24: Die angesprochenen Tunnel sind quasi das Herz der Hamas?

Gressel: Der Vorteil dieser Tunnelanlagen ist, dass sie aus der Luft kaum zu bekämpfen sind. Bunker-brechende Waffen dringen etwa zehn Meter tief ins Erdreich ein und explodieren dort. Wenn ich tiefer grabe, wenn meine Schächte tiefer liegen, dann habe ich mich dieser Waffenwirkung entzogen und lebe in diesen Tunnelanlagen relativ ungestört und kann dann auch Israel beschießen.

Es gibt dort eine regelrechte unterirdische Stadt, mit eigenen Produktionshallen für Munition, für Raketen, mit Notstromeinrichtungen, mit Kommandozentralen, von wo aus Überwachungskameras im ganzen Gazastreifen bedient werden. Man sieht also, wo sich die Israelis bewegen, wo sie sich nicht bewegen. Das ist ein riesiges Netzwerk an Schächten, zum Teil so groß, dass man sie befahren kann mit Fahrzeugen, zum Teil sehr schmal und eng. Das Problem der Israelis ist: Sie kennen dieses System nicht, es ist nicht kartiert.

Im Video: Krieg in Israel und Gaza – Wird Gaza zum militärischen Albtraum? Possoch klärt!

Kämpfe in fast 100 Metern Tiefe

BR24: Wie laufen die Kämpfe in diesen Tunneln ab?

Gressel: Es ist zu schätzen, dass einige der Schächte in Gaza hundert Meter tief liegen. Wenn der Gegner Sprengladungen in den Wänden versteckt hat, dann kann er nicht nur die Soldaten dort sprengen, wenn sie durchgehen, er kann auch Verbindungen kappen, sie einschließen und die Soldaten haben kaum Chance, da wieder rauszukommen.

Das Erdreich frisst ja auch elektromagnetische Wellen. Das heißt, Funk ist enorm schwer, Kommunikation ist enorm schwer. Die Hamas kommuniziert dort in erster Linie über Kabel, die verlegt worden sind. Die Israelis haben keine Kommunikationskabel in diesen Schächten. Man muss Stück für Stück da reingehen. Man weiß nicht, welche Schächte wirklich Schächte sind und welche nur Sprengfallen sind.

Der Infanteriekampf ist natürlich auch sehr unangenehm, weil man keine Feuerunterstützung durch Panzer hat, keine Unterstützung durch Luftwaffe, also im Grunde nur mit den Handgranaten und Handfeuerwaffen, die man in den Tunnel hinein und hinunterbringt, kämpfen kann.

Und das alles eben in einem System, das man nicht kennt, in dem es sehr viele verborgene Fallen, Sprengsätze, Minen und Ähnliches gibt. Das macht den Kampf in diesen Tunnelsystemen enorm schwierig für die Israelis.

Grafik: So tief liegen die Tunnel unter Gaza im Vergleich zur Münchner U-Bahn

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Der tiefste bisher ausgemachte Tunnel befindet sich 70 Meter unter der Erde. Das Münchner U-Bahn-Netz liegt etwa 28 Meter tief unter der Erde.

So gehen die "israelischen Verteidigungskräfte" (IDF) vor

BR24: Das Ziel für Israel: die Zerschlagung der Hamas, die, wie Sie beschreiben, aus diesen Tunneln heraus ja eindeutig einen Vorteil zu haben scheint. Wie geht das israelische Militär also dabei vor?

Gressel: Die vorrückenden Einheiten müssen im Grunde Haus für Haus und Block für Block säubern. Man geht in jedes Haus rein, muss Raum für Raum sichern und dann wird er im Anschluss, wenn er gesichert ist, von Spezialisten untersucht, mit Wärmebildkameras, mit seismischen Geräten und man schaut nach, was an Tunnelsystemen möglicherweise unter dem Haus vorhanden ist. Mit speziellen Spürhunden und Spürschweinen sucht man nach Munition, nach chemischen Vorprodukten für Sprengstoffherstellung etc., man sichert Spuren und wenn man das geschafft hat, dann tritt man mit kleinen Teams in die Tunnel rein.

Das Problem ist: Man muss im Grunde jedes Haus, das man auch schon gesichert hat, weiter sichern, weil man ja nicht weiß, ob nicht doch verdeckte Tunnel irgendwo auftauchen. Es ist auch unklar, ob die dortigen Einwohner Zivilisten sind oder eben doch Hamas-Kämpfer, das ist nie im ersten Augenschein klar.

Deshalb verschlingt so eine Operation enorm viel Infanterie. Pro Raum brauche ich drei Leute, um hineinzugehen und dann muss ich mich durchs Erdgeschoss übers Treppenhaus ins Obergeschoss vorarbeiten. Zumindest im Erdgeschoss muss ich pro Raum drei Leute abstellen, um das Gebäude weiter zu sichern. Und erst dann kann ich ins nächste Haus vorrücken.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council On Foreign Relations in Berlin.
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Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council On Foreign Relations in Berlin.

Gaza: "Ein riesiges 3D-Puzzle"

BR24: Also eine enorm zeitraubende und kräftezehrende Weise des Vorrückens.

Gressel: Vor allen Dingen müssen wir uns klarmachen: Gaza ist eine Riesenstadt, mindestens zwei Millionen Einwohner im Gazastreifen, die auf sehr dicht gedrängten Raum leben. Das ist wie ein riesiges 3D-Puzzle, das ich auseinandernehmen muss.

Während ich das tue, werde ich aus allen benachbarten Häusern beobachtet und beschossen, dann wird Artillerie und Luftunterstützung angefordert und die entsprechende Zerstörung sehen wir in den Bildern.

Können zivile Opfer vermieden werden?

BR24: Es geht dabei vor allem um die Leben von Zivilisten. Ist dieses Vorgehen des israelischen Militärs geeignet, um ihr Ziel – die Vernichtung der Hamas – zu erreichen und dabei möglichst zivile Opfer zu vermeiden?

Gressel: Zivile Opfer zu vermeiden ist enorm schwierig in diesem Krieg, weil die andere Seite ja in ihrer Strategie darauf abzielt, zivile Opfer zu erzeugen. Die Hamas schießt aus Wohngebieten heraus und weiß, dass das Gegenfeuer dann in den Wohngebieten einschlägt.

Die Evakuierung von Zivilisten hat die Hamas nicht nur nicht vorgenommen, man hat sie aktiv unterbunden. Die eigenen Kämpfer sind selten wirklich als Kombattanten gekennzeichnet, sondern tragen zivile Kleidung plus Waffen. Das macht es für die israelischen Soldaten enorm schwierig, diese von normalen, unschuldigen Zivilisten zu unterscheiden.

Für die Hamas ist das Erzeugen von dramatischen Bildern, von zivilen Opfern Teil ihrer Überlebensstrategie. Nicht nur jetzt in diesem Krieg, sondern auch politisch, weil damit natürlich in der gesamten islamischen Welt um Mitleid, um Spenden, um Zuwendung politischer Natur, aber natürlich auch finanzieller Natur geworben wird. Die Hamas hat überhaupt kein Interesse, zivile Opfer zu vermeiden.

Deshalb ist es für die israelische Armee enorm schwierig, zivile Opfer zu vermeiden. Auf der einen Seite will sie das natürlich versuchen, weil sie genau weiß, dass die Hamas davon politisch lebt. Die völkerrechtlichen Aspekte sind den Israelis wahrscheinlich eher egal, sondern es dient dem Feind, dass diese Bilder kommen, deshalb versuchen die Israelis, sie zu vermeiden. Auf der anderen Seite kann man das kaum.

Wenn man zum Beispiel ein Haus angreift, in dem sich Panzerabwehrschützen auf den Dächern aufhalten, und in diesem Haus leben gleichzeitig Zivilisten, dann kann ich entweder diese Panzerabwehrschützen mit der Panzerfaust angreifen, dann ist aber das Haus hin und herunterstürzende Trümmerteile verletzten automatisch auch Zivilisten. Oder ich verzichte auf die Bekämpfung dieser Leute und lasse mich sozusagen gratis beschießen. Also das sind auf beiden Seiten problematische Entscheidungen.

Karte: Die Lage des Gazastreifens

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Nord-Gaza (rot): Dort greift das israelische Militär die Hamas an, Zivilisten sollen in den Süden fliehen.

Gaza: Ein neues Vietnam?

BR24: Könnte Gaza am Ende für Israel ein neues Vietnam werden?

Gressel: Das Problem an Vietnam war, dass man politisch keine Lösung hatte. Die Regierungen in Südvietnam waren alle unbeliebt, waren alle korrupt, waren alle in der Bevölkerung nicht anerkannt. Aus dieser Unzufriedenheit hat der Vietcong seine Kraft gezogen. Hinzu kam der vietnamesische Nationalismus, die "stinkenden weißen Amerikaner" waren nicht gewollt, man wollte lieber ein kommunistisches Terrorregime am eigenen Boden haben.

Das ist jetzt so ähnlich. Rein militärisch ist Vietnam natürlich etwas anders: Dschungel, großes Land, Gaza ist im Grunde eine kleine Wüstenstadt.

BR24: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Konflikt ausweitet? Wird die Hisbollah zum Beispiel eingreifen, was dann wiederum eine Reaktion des Westens erfordern könnte?

Gressel: Aus rein militärischer Sicht muss man sagen, dass die Hisbollah den besten Moment für ein Eingreifen verpasst hat. Das war die Phase der Mobilmachung auf israelischer Seite, wenn sich viele einrückende Truppen in statischen Zielen befinden, nämlich Kasernen. Wenn die Truppen ins Feld ausgerückt sind, sich verteilt haben und die israelische Luftwaffe auf Kriegsbetrieb umgeschaltet hat, ist es ungleich schwieriger, sie zu erwischen und zu schwächen.

Das eher symbolische Beschießen von nordisraelischem Gebiet aus dem Libanon in den Anfangstagen hat nahegelegt, dass die Hisbollah nicht großflächig oder nicht ernsthaft in den Krieg eingreifen wollte.

Das kann sich durch inneren Druck, durch Streitigkeiten in der Führung ändern und dann kann natürlich die Lage schiefgehen. Dementsprechend haben die Amerikaner Vorsorge getroffen und im Persischen Golf und im östlichen Mittelmeer ihre Truppenpräsenz verstärkt, um vor allen Dingen an Iran zu signalisieren, dass eine Eskalation zu deren Ungunsten ausgehen würde.

Durch den Afghanistan-Abzug und die sehr unentschlossene Haltung in der Ukraine jedoch hat der Westen sehr viel an Prestige eingebüßt. Die USA werden im Mittleren Osten nicht mehr als die militärisch allmächtige Macht angesehen und das könnte den einen oder anderen dazu verleiten, Drohungen aus Washington zu ignorieren.

"Israelische Besetzung des Gazastreifens wird wahrscheinlich neue Hamas produzieren"

BR24: Was passiert nach dem Krieg mit Gaza?

Gressel: Das Problem ist eben, dass Terrororganisationen sehr gut in Machtvakuen florieren. Die Hamas hat sich hier in Gaza auch festsetzen können, weil eben die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland saß, weil es keinen vernünftigen Korridor gibt, weil Gaza ein Machtvakuum auch unter den Palästinensern war. Man kann das militärisch lösen, wenn man auch ein politisches Konzept für die Lösung der Machtvakuum-Frage in Gaza hat.

Während militärisch die Operation der Israelis also durchaus Sinn macht, sehe ich politisch für die Machtvakuum-Frage in Gaza derzeit keine Antwort. Und das könnte das Problem dann nur verlängern oder aufschieben.

BR24: Kann es also überhaupt eine militärische Lösung geben?

Gressel: Die Formel, dass Kriege nicht militärisch gewonnen werden können, die wird in Deutschland oft wiederholt, die ist aber sehr simplistisch, um nicht zu sagen dumm. Natürlich können Kriege militärisch gewonnen werden und werden auch militärisch gewonnen, weil die politischen Lösungen nach einem Krieg auf militärischen Realitäten fußen.

Gaza kann durchaus gewonnen werden, wenn man auch die politischen Dimensionen mitdenkt. Und nachdem der militärische Teil noch einige Zeit dauern wird, gibt es im Grunde auch Zeit, eine Nachkriegsordnung für Gaza aus der Taufe zu heben, die eben nicht eine erneute israelische Besetzung des Gazastreifens ist, die dann wahrscheinlich wieder eine neue Hamas produzieren würde.

BR24: Danke für das Gespräch.

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