Viele kritische Passagen gelöscht Wikipedia-Artikel über Abgeordnete vom Bundestag aus geschönt
Wikipedia gilt vielen als Standard-Nachschlagewerk, auch vor der Bundestagswahl. Eine BR-Analyse zeigt: Jede dritte Abgeordnetenseite wird aus dem Bundestag bearbeitet. Immer wieder werden auch kritische Passagen gelöscht.
Von: Christine Auerbach und Maximilian Zierer (BR Data)
Stand: 14.09.2017
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Joachim Pfeiffer sitzt seit 2002 für die CDU im Bundestag. Bis Juni 2017 war er Fan von Atomkraftwerken. So stand es jedenfalls auf seiner Wikipediaseite:
"Joachim Pfeiffer gilt als Befürworter des Einsatzes von Atomkraftwerken."
Wikipedia-Artikel über Joachim Pfeiffer bis 22. Juni 2017
Dann kam der 22. Juni und auf einmal war alles ganz anders. Auf Wikipedia liest man seitdem:
"Die Energiewende bezeichnet er als Umbau der Energieversorgung und drängt in diesem Zusammenhang auf eine schnelle Markteinführung der Erneuerbaren Energien."
Wikipedia-Artikel über Joachim Pfeiffer seit 22. Juni 2017
Jeder dritte Abgeordnete mit veränderter Seite
Die Atom-Fan-Vergangenheit - gelöscht. Mit einem anonymen Wikipedia-Account von einem Computer aus dem Deutschen Bundestag. Und damit ist Joachim Pfeiffer bei weitem nicht alleine. Die Wikipedia-Seiten von einem Drittel aller Abgeordneten wurden in dieser Legislaturperiode von Bundestags-PCs aus verändert. Das zeigt eine Analyse der Datenjournalisten des Bayerischen Rundfunks. Bei Lisa Paus von den Grünen etwa wurde der Bezug zu ihrem "Multimillionär"-Vater entfernt, bei Hartmut Koschyk (CSU) die Information, dass er ein "unter anderem mit Denkmalschutzmitteln in Höhe von 1,4 Millionen Euro" restauriertes Schloss bewohnt.
Abgeordnete aller Fraktionen betroffen
Betroffen sind Seiten von Abgeordneten aller Fraktionen gleichermaßen. Ob die Abgeordneten selbst, ihre Mitarbeiter oder Mitglieder anderer Fraktionen die Seiten verändert haben, lässt sich nicht in allen Fällen mit Sicherheit sagen. Klar ist jedoch, dass die Änderungen mit IP-Adressen des Bundestags getätigt wurden. Dies lässt sich nachvollziehen, weil Wikipedia die IP-Adresse bei anonymen Veränderungen anstatt eines Benutzernamen anzeigt. Auch Projekte wie Bundesedit nutzen diesen Umstand, um anonyme Änderungen von Wikipediaseiten öffentlichen Stellen zuzuordnen.
BR Data hat nun erstmals alle Artikel über alle 658 Abgeordnete analysiert, die in der laufenden Legislaturperiode ein Bundestagsmandat innehatten. Das Ergebnis: 227 Artikel wurden anonym aus dem Bundestag bearbeitet. In einigen Fällen handelt es sich dabei um kleinere Änderungen oder Tippfehler. Immer wieder werden jedoch auch kritische Passagen entfernt und ganze Biographien anonym aus dem Bundestag neu geschrieben.
Einige Abgeordnete bestätigten dem Bayerischen Rundfunk, dass ihre Mitarbeiter Änderungen an den Seiten vorgenommen haben. Joachim Pfeiffer schreibt zum Beispiel per E-Mail:
"Da die Bürger ein Recht auf richtige Information haben, wurden veraltete Funktionen und Positionen lediglich vor wenigen Wochen upgedated (sic) und ein neues Foto hochgeladen."
Stellungnahme Joachim Pfeiffer
Ähnlich lief es bei Silke Launert, CSU. Auch sie schreibt, dass sie ihr Büro angewiesen habe, falsche und veraltete Funktionen zu aktualisieren. Gleichzeitig sind über die Bundestags-IP allerdings auch mehrere Zitate von ihr verschwunden, wie:
"Ich zahle lieber ein paar Milliarden für die Flüchtlingscamps, anstatt alle Probleme im eigenen Land zu haben."
Zitat von Silke Launerts Wikipedia-Seite, entfernt am 9. August 2017
Ein anderer Wikipedia-Nutzer hat diese Abschnitte kurze Zeit später wieder eingestellt. Der Bundestagsaccount hat sie wieder gelöscht. Der Wikipedia-Nutzer hat sie wieder eingestellt… Edit War – also Bearbeitungskrieg – heißt dieses Hin- und Her in der Wikipedia-Welt. Und das ist gar nicht so unüblich, sagt Jan Apel, Sprecher von Wikimedia. Natürlich habe jeder Mensch Persönlichkeitsrechte, Falsches oder Beleidigendes hätte bei Wikipedia keinen Platz. Schönfärberei sei jedoch nicht erwünscht, Wikipedia möchte eine neutrale Sicht auf Menschen und Dinge ermöglichen.
Deshalb arbeiten einige Abgeordnete transparenter. Christine Lamprecht von der SPD zum Beispiel. Sie hat sich einen sogenannten "verifizierten Account" bei Wikipedia zugelegt. Sie bearbeitet ihre Seite unter dem Kürzel „CL-Büro“. Das sei eine Frage der Transparenz, sagt Lamprecht.
Die meisten Bundestagsabgeordneten haben aber keinen verifizierten Account: bei Christoph Bergner (CDU) zum Beispiel verschwand der komplette Abschnitt "Kritik“ – entfernt durch einen anonymen Nutzer mit Bundestags-Adresse, die einfach eine lange Zahlenkombination ist und den wenigsten bekannt. In einigen Fällen kamen Informationen durch Wikipedia-Editoren wieder hinein, einige Löschungen führten zu wochenlangen Edit-Wars. Die Bearbeitungsschlacht bei Wilhelm Priesmeier (SPD), war aber nur kurz:
"Sein Hund heißt Bobo."
Wikipedia-Seite über Wilhelm Priesmeier am 21. Juli 2015
Stand ganze drei Minuten online. Dann hat Wikipedia Bobo wieder gelöscht.
Über die Daten:
Die Daten wurden automatisiert aus der Wikipedia-Programmierschnittstelle (API) ausgelesen. Eine Übersicht aller bearbeiteten Seiten finden Sie hier (Google-Link). Die Tabelle zeigt alle Wikipedia-Seiten über Abgeordnete aus dem 18. Deutschen Bundestag, die mit IP-Adressen aus dem Bundestag bearbeitet wurden. Es bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Seiten im Auftrag der Abgeordneten oder von ihnen selbst verändert wurden. Die Bundestags-IP-Adressen wurden mithilfe von RIPE.net verifiziert.