Report München


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Ausgesetzt in der Wüste Die brutalen Folgen der EU-Flüchtlingspolitik

In Nordafrika werden immer wieder Asylsuchende, die nach Europa wollen, mit Wissen der Europäischen Union verschleppt und in der Wüste zurückgelassen. Das belegen Recherchen des BR mit der Investigativorganisation Lighthouse Reports und weiteren internationalen Medienpartnern.

Von: Philipp Grüll, Erik Häußler

Stand: 21.05.2024

Ausgesetzt in der Wüste: Die brutalen Folgen der EU-Flüchtlingspolitik

Juli 2023 in der Sahara. Libysche Grenzschützer finden Menschen in der Wüste, die dort ohne Wasser ausgesetzt wurden. Von tunesischen Sicherheitskräften. Die Bilder sorgen damals international für Entsetzen - auch in Deutschland.

Kurz zuvor hatte die EU Tunesien 105 Millionen Euro für den Grenzschutz versprochen. Als Teil eines Migrationsdeals mit dem Autokraten Kais Saied.

"Tunesien ist ein Partner, den wir in der Europäischen Union sehr schätzen."

Ursula von der Leyen, CDU, Präsidentin EU-Kommission (11.06.2023)

Auch Mauretanien und Marokko zählen zu Europas engsten Partnern bei der Begrenzung der Zuwanderung. Doch zu welchem Preis? Viele Monate haben wir mit Lighthouse Reports, dem Spiegel und weiteren internationalen Medienpartnern zu und in diesen Ländern recherchiert. 

Gemeinsam haben wir hunderte Videos und vertrauliche Dokumente ausgewertet. Reporterinnen und Reporter haben Festnahmen gefilmt - und mit EU-Beamten, Polizisten und Diplomaten gesprochen. Gestoßen sind wir auf ein brutales System mit Tausenden Betroffenen, von dem die EU weiß. Das von der EU indirekt mitfinanziert wird. Und das einem Ziel dient: Migranten von Europa fernzuhalten.

Mehr als 50 Menschen haben uns berichtet, wie sie verschleppt wurden. Er ist einer davon: Francois aus Kamerun - einem Land geprägt von Kriminalität und Terror. Er hatte sich nach Tunesien durchgeschlagen - mit Frau und Stiefsohn. Von dort wollten sie nach Europa.

Im September 2023 steigen sie in ein Boot. Doch knapp 20 Kilometer von der Küste entfernt werden sie von der tunesischen Nationalgarde gestoppt. Als ihnen Sicherheitskräfte später die Handys abnehmen, kann Francois seines verstecken. Deshalb lässt sich sein Weg genau nachvollziehen - durch die GPS-Koordinaten, die sein Telefon gespeichert hat.

Die Nationalgarde bringt das Boot in den Hafen von Sfax im Osten Tunesiens. Dort, erzählt Francois, müssen sie und die anderen in Busse steigen. Eine Odyssee beginnt.

"Sie sagten, sie würden uns nach Hause bringen, aber sie sagten nicht genau, wohin. Im Bus befanden sich fünf Angehörige der Nationalgarde, bewaffnet mit Gewehren und Tränengas."

Francois

In der Nacht geht es quer durch Tunesien, rund 300 Kilometer, Richtung Algerien. Unterwegs, erzählt Francois, werden sie auf Pickups verladen. Schließlich endet die Fahrt. Im Nirgendwo, an der Grenze zwischen Tunesien und Algerien.

"Der Ort war karg, kein Sand, eine Abfolge von kleinen Bergketten. Auf der tunesischen Seite: ein weites Tal, ohne Bäume oder irgendwas, viele Felsen, Schluchten. Wir wollten eine Stunde, zwei Stunden warten. Dann gingen wir los."

Francois

Ohne Wasser und Nahrung seien sie zurückgelassen worden. Tagelang umher geirrt. In ständiger Angst vor den tunesischen Behörden. Denn die hätten angekündigt, sie umzubringen, wenn sie zurückkehren.

"Wir hatten zwei schwangere Frauen in der Gruppe, ein Kind mit einer Infektion an der Achillesferse. An manchen Tagen waren wir beim Gehen völlig ausgetrocknet. Wir begannen zu halluzinieren."

 Francois

Sie müssen dreckiges Wasser aus Rinnsalen wie diesem trinken, um zu überleben. Neun Tage lang schlagen sie sich durch die Wildnis. Mehrere Fotos, die Francois aufgenommen hat, lassen sich durch den Abgleich mit Geländeprofilen und Satellitenbildern verorten.  

35 Kilometer Luftlinie von dem Ort, an dem sie ausgesetzt wurden, endet die Odyssee. In Tajerouine, wo sie von einem Bauern versorgt werden, der ihnen Geld für die Fahrt zurück in die Hafenstadt Sfax gibt. All das passiert kurz nach dem Abschluss des Migrationspakts zwischen Tunesien und der EU:

"Das Ziel ist ein ganzheitlicher Ansatz für die Migrationspolitik, der auf der Achtung der Menschenrechte beruht."

Ursula von der Leyen, CDU, Präsidentin EU-Kommission (11.06.2023)

Auch die Bundesregierung kooperiert eng mit Tunesiens Sicherheitsbehörden. Seit 2015 bilden deutsche Bundespolizisten Mitglieder von Grenzpolizei und Nationalgarde aus. Und: Deutschland liefert Ausrüstung und Fahrzeuge. Zum Beispiel Pickups und Quads, wie die deutsche Botschaft in Tunis präsentiert.

31 Millionen Euro flossen bislang für Ausbildung und Ausrüstung nach Tunesien. Den Vorfall im vergangenen Sommer, als Bilder von ausgesetzten Migranten um die Welt gingen, habe man scharf kritisiert, teilt das Innenministerium mit. Die Zusammenarbeit aber blieb davon unberührt.

Auch Marokko bekommt von der EU Finanzhilfen zur Begrenzung der Migration. Auch hier werden Migranten gejagt und willkürlich verhaftet, wie wir dokumentieren können. Und auch hier werden sie mit Bussen durch das Land gefahren und ausgesetzt. Zwar nicht in der Wüste, aber teils hunderte Kilometer entfernt und ohne Habseligkeiten. Die Regierung Marokkos teilt auf Anfrage mit, man bringe die Migranten zu ihrem eigenen Schutz in andere Gegenden.

Mauretanien bekam erst vor kurzem eine halbe Milliarde Euro von EU und Spanien zur Migrationskontrolle zugesagt. Wir filmen auch hier vor einem Gefängnis in der Hauptstadt, wie Menschen herangekarrt und später mit dem Bus abtransportiert werden. An die Grenze zu Mali, wo Krieg und Terror alltäglich sind. Dort werden sie ausgesetzt, wie später Opfer und weitere Quellen berichten. Die mauretanische Regierung weist die Vorwürfe auf Anfrage zurück.

Kommissionspräsidentin von der Leyen lehnt ein Interview ab. Eine Sprecherin teilt mit, die EU "erwarte von ihren Partnern, die Menschenrechte und die Menschenwürde aller Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchenden zu respektieren". Für die Strafverfolgungsbehörden in den Partnerländern seien die dortigen Stellen zuständig.

Der Migrationsforscher Gerald Knaus sieht eine Mitverantwortung der EU für die Menschenrechtsverletzungen ihrer Partner:

"Wir geben Ländern Geld, auch für die Sicherheitskräfte, sagen ihnen aber nicht, wie wir die irreguläre Migration reduzieren wollen. Wenn wir nicht erklären, wie wir uns den Mechanismus vorstellen, der dazu führt, dass weniger Menschen in Boote steigen und es der Fantasie dieser Sicherheitskräfte überlassen, dann kommen Menschenrechtsverletzungen dabei heraus."

Gerald Knaus, Migrationsforscher

Alleine für Tunesien können wir 14 Verschleppungsaktionen wie jene im Sommer 2023 dokumentieren. Die Regierung weist die Vorwürfe zurück, doch laut UN kamen mindestens 29 ausgesetzte Menschen zu Tode. Erst vor wenigen Tagen wurden erneut Menschen in der Wüste zurückgelassen. 

Manuskript des report-Films zum Druck

Manuskript als PDF:


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