Report München


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Der Shisha-Krieg der Clans Herausforderung für Stadt und Land

Clan-Kriminalität galt lange als Phänomen großer Metropolen. Doch gemeinsame Recherchen von NDR und report München zeigen am Beispiel der niedersächsischen Hansestadt Stade: Längst haben auch kleinere Städte Probleme mit kriminellen Mitgliedern von Clans.

Von: Thomas Berbner, Oliver Mayer-Rüth

Stand: 16.07.2024

Clankriminalität: Der Shisha-Krieg der Clans

Stade in Niedersachsen. 50.000 Einwohner. Beliebt bei Touristen und Schauplatz eines entsetzlichen Verbrechens. Dort drüben auf der Brücke ist es passiert, erzählt Sabrina Klapper. Ein brutaler Messerangriff am helllichten Tage.

"Es ist einfach unmöglich, was hier mittlerweile stattfindet. Es hat alle geschockt und alle waren sich einig, es reicht. Es ist so mitten am Tag, die Kinder laufen hier spazieren. Sie nehmen also in Kauf, dass wir dazwischenstehen, wenn sie ihre Konflikte lösen."

Sabrina Klapper - Gastronomin

Die Restaurantbesitzerin ist in der örtlichen CDU aktiv. Sie sagt, kriminelle Clans haben sich in ihrer Stadt breit gemacht. Was ist los in Stade? Wie kam es zur Eskalation? Es war ein Freitagnachmittag, als auf dieser Brücke ein Mann mit einem Messer lebensgefährlich verletzt wurde.  

Messerangriff am helllichten Tag

Thomas Ganz will mehr über den Fall herausfinden. Er war viele Jahre Ermittler beim Landeskriminalamt Niedersachsen. Jetzt berät er Sicherheitsbehörden oder auch Kommunen. Sein Schwerpunkt: Clankriminalität.

"Im März ist genau hier an dieser Stelle eine Person ja auf brutale Art und Weise getötet worden. Dieser Person ist mit einem langen Messer von hinten brutalst in den Kopf gestochen worden."

Thomas Ganz - Ex-LKA-Ermittler 

Am nächsten Tag erliegt der Mann seinen Verletzungen. Es ist das dritte Tötungsdelikt im Stader Clanmillieu in nicht einmal zwei Jahren. Wie kann das sein?

Mehrere Monate recherchieren wir, die ARD-Journalisten Thomas Berbner und Oliver Mayer-Rüth zusammen mit dem Ex-LKA Ermittler in der beschaulichen Touristenstadt Stade.

"Mir ist bekannt, dass die Polizeiinspektion Stade seit vielen Jahren von einem Kern von rund 350 Personen ausgeht, die verschiedenen Großfamilien mit kriminellen Strukturen hier in Stade zugerechnet werden. Alle diese Familien tauchen in verschiedenen Deliktsbereichen der Kriminalität seit vielen Jahren immer wieder auf und ab und zu kommt es dann zu Gewalt-Eskalationen, zu Streitigkeiten."

Thomas Ganz - Ex-LKA-Ermittler

report München und dem Norddeutschen Rundfunk liegen exklusiv interne Polizei-Dokumente vor. Demnach kam es am 22. März ab etwa 16.00 Uhr zu Auseinandersetzungen zwischen zwei amtsbekannten Familien mit Clanbezug. Die Großfamilien Rachid/El-Zein und Miri. Das Opfer des Messerangriffs heißt Khalid Mohammed Rachid. Ein in Stade stadtbekanntes Mitglied des El-Zein Clans.  

Nach Khalids Tod veröffentlichen Angehörige zahlreiche Fotos im Internet. Die Familie beerdigt den 36-Jährigen im Libanon.

Schweigen aus Angst vor den Clans?

Die Geschichte der Clans in Stade hat ihren Ursprung im Altländer Viertel. Hier leben seit Jahrzehnten viele Familien mit Migrationshintergrund. Auch die Familie des Getöteten kommt aus dem Stadtteil. Was wissen die Bewohner des Altländer Viertels über den Messerangriff? Die meisten werden bei unseren Fragen schnell einsilbig.

Gespräch mit Anwohnern

report München: "Da hinten an der Brücke. Habt ihr davon etwas gehört?"

Passant:"Ja, gehört aber …"

Thomas Ganz - Ex-LKA-Ermittler: "Messer im Kopf."

Passant: "Von Polizei habe ich gehört, ist es passiert. Aber wie gesagt, ich weiß davon nichts."

Im Altländer Viertel hält man sich lieber bedeckt. Aus Angst vor den Clans? Ein internes Polizeidokument zeigt: Am Tag des Messerangriffs gab es in Stade mehrere Auseinandersetzungen. Nachmittags randaliert im Zentrum der Stadt in einem Shishashop eine bewaffnete Personengruppe mit Schlagwerkzeugen.

"Dort kamen Baseballschläger, Totschläger, Messer, andere Waffen zum Einsatz. Es war eine Tumult-Lage, die völlig außer Kontrolle geraten ist, und das um 16.00 Uhr, zu einer Zeit als der normale Einkaufsbürger in dieser Fußgängerzone eben unterwegs war."

Thomas Ganz - Ex-LKA-Ermittler

Konkurrenz- und Revierkämpfe

Angehörige beider Clans haben Videos in sozialen Medien geteilt. Offenbar, um die Aggressionen der Gegenseite deutlich zu machen. Diese Aufnahmen zeigen den Angriff auf den Shishashop in der Fußgängerzone. Nach unseren Recherchen handelt es sich um Männer des El-Zein Clans, die das Geschäft des Miri-Clans angreifen. Einer der Angreifer: Khalid Rachid. Ihm wird kurze Zeit später das Messer in den Kopf gerammt.

Ein weiteres Video zeigt die Reaktion der Miris. Ein Angehöriger des Clans greift ein Wohnhaus der El-Zeins im Altländer Viertel an. Wenige Minuten später auf der Schleusenbrücke. Die El-Zeins rammen ein Auto der Miris. Es kommt zum Messerangriff. Diese Handyaufnahmen zeigen die Sekunden danach. 

"Zwischen diesen beiden Clans kommt es nicht nur hier in Stade, sondern bundesweit seit vielen Jahren immer wieder zu Auseinandersetzungen. Da geht es um Konkurrenzkämpfe und um Revierkämpfe. Es geht um Betäubungsmittelverteilungskriege, es geht um sämtliche Deliktsformen, wo man Geld damit verdienen kann."

Thomas Ganz - Ex-LKA-Ermittler

Sabrina Klapper kennt das Milieu. Ihr Bruder hatte Kontakt zu den Clans.

"Mein Bruder ist selber im Milieu gewesen und ist da einfach auf der schiefen Bahn gelandet. Er hat dann als Kronzeuge ausgesagt, und das hat natürlich unsere Familie sehr stark mit diesem Clan-Milieu in Verbindung gebracht."

Sabrina Klapper - Gastronomin

Klappers Bruder bekam Zeugenschutz. In dem Verfahren wurde auch Khaled El Zein verurteilt. Dieser wurde im März 2024 vor ihrer Tür niedergestochen. 

"Es berührt mich wieder. Es berührt auch wieder mein Geschäft. Es berührt mein Leben. Es berührt das Leben meiner Mitarbeiter. Es berührt das Leben aller Bürger in unserer Stadt."

Sabrina Klapper - Gastronomin

Auf dem Weg zum Shishashop der Miris, der von den El-Zeins überfallen wurde. Wir wollen Mitglieder des Miri-Clans zu dem Konflikt befragen. Doch: Der Laden ist zu. Direkt daneben: ein Barbershop. Dort will man offenbar nicht, dass wir zum Shishakrieg recherchieren.

Gespräch

Barbershop-Mitarbeiter: "Lange her. Da braucht man solche Sachen nicht wiederholen. Könnt ihr mich auch verstehen, was ich meine."

report München: "Nicht so richtig, was meinen Sie?"

Barbershop-Mitarbeiter: "Das ist schon vergangen. Das ist schon vorbei. Ist vorbei. Braucht ihr nicht wiederholen diese Sachen."

report München: "Wiederholen, wir haben ja noch gar nicht…"

Barbershop-Mitarbeiter: "Das macht ihr doch, das Wiederholen."

report München: "Wir machen halt eine Reportage."

Warum kommen die Clans in eine Stadt wie Stade?

"In den kleineren, eher finanzschwachen Gegenden finden sie erstens Wohnraum, den sie nutzen können und zweitens gibt es dort auch die Möglichkeit, Geschäftsleerstände aufgrund Bevölkerungsschwunds usw. in ihrem Sinne zu nutzen. Das heißt, sie kaufen alte Geschäftsimmobilien auf, bringen dann dort eigene Geschäfte ein und es kommt durchaus zu einer Mischung zwischen legalen und illegalen Aktivitäten."

Thomas Ganz - Ex-LKA-Ermittler

Natürlich sind nicht alle Clanmitglieder Kriminelle. Doch bestimmte Familien beschäftigen die Polizei in Stade seit vielen Jahren. Auch die El-Zeins betreiben in der Nähe einen Shishashop. War die Konkurrenz Anlass für den Konflikt?

"Es geht aber insbesondere darum, dass jeder dieser Clans ein gewisses Revier für sich markiert hat und alles, was dort passiert, auch an kriminellen Handlungen, da duldet so ein Clan keine Einmischung eines anderen Clans von außen."

Thomas Ganz - Ex-LKA-Ermittler

Wir treffen den Bruder des durch den Messerangriff getöteten Khalid El-Zein. Ein Interview lehnt er ab. Wir sollten mit anderen Leuten reden, wenn wir etwas über Khalid erfahren wollten.

"Diese Mauer des Schweigens, auf die trifft man halt immer wieder. Selbst wenn es einmal die Möglichkeit gebe, auch etwas Positives auch aus seiner Sicht zu sagen. Nee, dann geht man lieber auf Distanz und bleibt dabei und sagt lieber gar nichts."

Thomas Ganz - Ex-LKA-Ermittler

Anwältin unter Personenschutz

Wir recherchieren die Vergangenheit von Khalid El Zein. Er stand schon vor mehr als 10 Jahren in Stade wegen Drogenhandels vor Gericht.

Charlotte Opresnik kann sich noch gut an das Verfahren erinnern. Die Vorsitzende Richterin war damals Oberstaatsanwältin. Es war der Prozess, in dem Sabrina Klappers Bruder als Hauptbelastungszeuge aussagte. Ein Erlebnis im Stader Schwurgerichtssaal  hat sie bis heute nicht vergessen.

"Es ist zu tumultartigen Szenen gekommen. Der Vorsitzende hat dann die Verhandlung unterbrochen. Die Kammer hat sich zurückgezogen ins Beratungszimmer und ich verblieb da und wollte raus und die Freunde und das Umfeld haben das aber nicht zugelassen. Die haben sich furchtbar aufgeregt, lautstark ihre Meinung zu dieser Entscheidung kundgetan und das wurde mir von meinen drei Personenschützern ausdrücklich gesagt. Sie gehen da jetzt nicht durch, weil da können wir die Sicherheit nicht gewährleisten."

Charlotte Opresnik- Vorsitzende Richterin

Das LKA warnte: Gegen sie gebe es eine Drohung aus den Clanmillieu, mehrere Jahre konnte sich Opresnik nur mit Personenschutz bewegen. Der Kontrollverlust im Gerichtssaal führte zu schlimmen Albträumen, der Schlimmste verfolgte sie immer wieder.

"Dann fand ich mich plötzlich in einer Toilette wieder. Also so eine öffentliche Toilette mit mehreren Kabinen, alles weiß gefliest und da war dieser Mann, dieser mächtige Mann, auch körperlich sehr präsente Mann und ich wollte auf einer dieser Toiletten und ich selbst war nackt und habe versucht mich an ihm vorbeizudrängeln, immer in der Sorge, ich könnte ihn jetzt reizen, bin dann in diese Toilette rein, hab den Klodeckel geöffnet und alles war voller Blut und das hob sich so ab, dieses weiß und dieses Blut. Und dann habe ich mir die Tür angeguckt, die Toilettentür, die war aus Holz und dieser Mann hat angefangen Stücke da rauszubrechen und ich fühlte mich immer nackter und bin dann wirklich atemlos aufgewacht."

Charlotte Opresnik- Vorsitzende Richterin

Charlotte Opresnik will mit ihrem Beispiel zeigen, dass man solche traumatischen Erfahrungen überwinden kann. Sie engagiert sich im Regionalvorstand der Opferhilfe Niedersachsen. Die Stiftung unterstützt Personen, die Opfer von Straftaten geworden sind.

Clankriminalität - nicht nur ein Problem der Metropolen

Wir gehen weiter auf Spurensuche. Werden Angehörige des Miri-Clans mit uns sprechen? Ein gutbürgerlicher Stadtteil von Stade. Hier kosten Immobilien hohe sechsstellige Beträge. Und tatsächlich: auf dem Briefkasten steht der Name des deutschlandweit bekannten Clans: Miri.

"Wir sind jetzt hier an dem Objekt der Familie Miri gewesen. Verlassen. Gibt es noch Informationen, wo wir sie finden könnten?"

Thomas Ganz - Ex-LKA-Ermittler

In einem der uns exklusiv vorliegenden Dokumente finden wir einen Hinweis auf die Stadt Buchholz in der Nordheide. Im November 2023 gab es dort offenbar eine körperliche Auseinandersetzung zwischen den Clans. Finden wir in Buchholz die Miris? Wie gefährlich sind die Clans? 

"Ich halte sie für hochgradig gewaltbereit, ohne Rücksicht auf Verluste und in einem Punkt. Wir erinnern uns noch an diese Schulhofkloppereien, die wir alle aus unserer Generation von früher kennen. Während das Opfer damals am Boden lag und dann in Ruhe gelassen wurde, wenn es dort regungslos lag, geht man heute in diesen Strukturen von einer völligen Vernichtung des Opfers aus. Das bedeutet, man nimmt den Tod billigend in Kauf."

Thomas Ganz - Ex-LKA-Ermittler

Beispiel Niedersachsen: Clankriminalität ist nicht mehr nur ein Problem der Metropolen, wie diese Videos aus den letzten Jahren und diesem Jahr zeigen: 

Clankriminalität in den letzten Jahren

Hildesheim: Ein Tumult in aller Öffentlichkeit.

Auch in Peine: Chaos.

Wittmund: Bei einer claninternen Auseinandersetzung wird ein Auto in die Luft gesprengt. Direkt vor einem Wohnhaus.

Diepholz: Exklusives Polizeimaterial einer Durchsuchung. Das Sondereinsatzkommando findet zahlreiche Waffen.

Braunschweig: Vor Gericht stehen vier Personen wegen Drogenhandels. Der mutmaßliche Haupttäter: Wieder ein El-Zein. In der Region heißt er "der Pate von Salzgitter".
Anwälte der Angeklagten lehnen ein Interview ab. Auf Internetfotos posiert der Pate auf einem Thron. Daneben ein Geldkoffer. Zitat: "Haut ab. Hier bestimmen wir. Eure Gesetze gelten hier nicht."
Der Clan-Name als Tätowierung auf der Schulter. Der Pate sitzt schon seit längerem im Gefängnis. Laut Anklage habe er dort weiter mit Drogen gehandelt.

Buchholz in der Nordheide. In diesem Haus am Stadtrand wurde der mutmaßliche Messerstecher von Stade festgenommen. Ein 34-jähriges Mitglied des Miri-Clans. Es ist niemand zuhause. Ein Nachbar erzählt.

"Da bin ich oben in die Wohnung. Und da habe ich gesehen, dass hier ein gepanzertes Auto, der ist das so reingefahren in die Einfahrt. Und dann liefen da vermummte Leute rum, also Polizisten mit schusssicheren Westen und ich weiß nicht, was die da so alles anhatten. Einige sind dann direkt rein ins Haus und dann kam nach einer gewissen Zeit der Herr raus in Handschellen. Es ist ja so eine Art Krieg wohl zwischen zwei Familien in diesem Clan, dass hier auch irgendwelche Racheakte mal stattfinden könnten, also wir haben schon so ein bisschen Angst, dass so etwas sich in Deutschland auch noch ausbreiten könnte."

Nachbar

Hohe Dunkelziffer

In Niedersachsen ist die Ausbreitung bereits weit fortgeschritten. Uns liegen vorab die Zahlen aus dem neuesten Lagebild Clankriminalität des LKA vor. 3610 Straftaten. Der Anteil an der Gesamtkriminalität ist gering, aber Behörden gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Niedersachsens Innenministerin bestätigt, kriminelle Clans treiben ihr Unwesen auch in der Region.

"Wenn ich mir das Lagebild zur Clankriminalität in Niedersachsen anschaue und deswegen machen wir das, damit wir wegkommen von gefühlten Wahrheiten, sondern uns die Fakten anschauen, dann sehen wir, dass wir Fälle der Clankriminalität über alle Polizeidirektionen haben. Auch im ländlichen Bereich. Also die Idee, dass es nur in Städten passiert, ist eine Idee, die mir die Ermittler so nicht bestätigen."

Daniela Behrens, SPD - Innenministerin Niedersachsen

Kiel. Wir erhalten einen Tipp: Hier sollen Verwandte des tatverdächtigen Messerstechers aus Stade leben. Der Clan wird hier mit mehreren Geschäften in Verbindung gebracht. Auch mit diesem Supermarkt. Hier wurde 2021 eine Razzia durchgeführt. Gibt es eine Verbindung nach Stade? 

"Nach dem Tötungsdelikt damals in Stade beim Salztor hatten sich vier Tatverdächtige nach Kiel abgesetzt. Wir haben hier jetzt ein Objekt gefunden, von dem wir der Meinung sind, dass es dem Miri-Clan zuzurechnen ist."

Thomas Ganz - Ex-LKA-Ermittler

Noch wissen wir nicht, dass wir in wenigen Minuten mit einem Clanmitglied sprechen können. Wir finden ein Foto des Familienoberhaupts in Kiel.

Wir zeigen das Bild diesem Mann. Ja, das sei sein Vater. Er selbst der Schwager des Tatverdächtigen Messerstechers von Stade. Der Mann erzählt, Emotionen hätten sich hochgeschaukelt. Es sei eine Tragödie für beide Familien. Schuld sei jedoch der Getötete selbst. Dieser habe ständig provoziert. Ist der Clan-Krieg jetzt zu Ende? Womöglich nicht: In den sozialen Medien ein Post zu dem getöteten Khalid El-Zein aus Stade: "Möge Allah Deine Mörder, ihre Helfer und Unterstützer bestrafen. Auf der Welt und im Jenseits. Amin."

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