radioWissen

Abaelard und Heloise - Weisheit, Liebe, Absturz

Die schönste und traurigste Liebesgeschichte der Welt - zwischen einem charismatischen Gelehrten und einer klugen, hübschen jungen Frau. Ihre Briefe sind Weltliteratur, ihre tragische Liebe rührt bis heute. Autorin: Katalin Fischer (BR 2018)

Abaelard und Heloise - Weisheit, Liebe, Absturz | Bild: picture alliance / Bildagentur-online/Sunny Celeste
23 Min. | 12.2.2024

VON: Katalin Fischer

Ausstrahlung am 13.2.2024

SHOWNOTES

Credits
Autorin dieser Folge: Katalin Fischer
Regie: Petra Hermann-Boeck
Es sprachen: Katja Amberger, Martin Umbach, Hemma Michel, Christoph Jablonka
Technik: Birgit Vetter
Redaktion: Petra Hermann-Boeck, Andrea Bräu

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN:

Am Anfang war der Kuss. Aber was für einer! Er gab den Auftakt zu einer legendären großen Liebe. Nun ist es leider die Art von großen Lieben, dass sie unglücklich enden. Zumindest werden sie nur dann berühmt - Unglück ist nun mal poetischer als Glück. 

SPRECHER:

Die Protagonisten: außergewöhnlicher, kluger, schöner Mann, außergewöhnliche, kluge, schöne Frau, ein böser Onkel, drei grausame Mordgesellen. Und obwohl sie fast tausend Jahre alt ist, ist diese Geschichte heute noch so lebendig und anrührend, wie nur die Wahrheit sein kann. 

SPRECHERIN:

Pierre Abaelard ist 38, der schönste Mann von Paris, charismatisch, erfolgreich, berühmt. Er ist Philosoph und Theologe, doch seine Haltung zu Ethik und Religion ist ganz anders, als vorgeschrieben - denn er appelliert an die Vernunft

SPRECHER

Der Glaubenssatz des Hl. Augustinus schrieb vor: „Credo ut intelligam“, „Ich glaube, um zu verstehen“. Abaelard kehrt den Spruch um: „Nihil credendum, nisi prius intellectum“, nichts sei zu glauben, was man nicht zuvor verstanden habe. Eine ungeheuerliche, eine ketzerische Anmaßung! Anstatt bedingungslosen Gehorsams fordert Abaelard zu eigenständigem Denken auf. 

SPRECHER:

Abaelard wird zum Anführer der jungen Rebellen des Denkens – und zum Staatsfeind Nummer eins der Konservativen. Bereits nach kurzer Lehrzeit unterrichtet er selbst und hat an der Domschule von Paris bald den größten Zustrom an Studenten. 

SPRECHERIN:

Was zur Folge hat, dass auch das Maß des Hasses gegen ihn wächst. Immer wieder kehrt im Leben des Pierre Abaelard dasselbe Muster wieder: er besiegt seine Lehrer und Widersacher durch Scharfsinn, wird dafür verteufelt, angeklagt, verurteilt. Und zieht die Studenten magisch an, begeistert sie - und das Spiel beginnt von neuem.  

1. O-Ton: Peter Adamson

„Was man mindestens über Abaelard wissen muss, ist, dass er wirklich einen Höhepunkt in der mittelalterlichen Philosophie repräsentiert. Er übernimmt Ideen aus der Antike, zum Beispiel von Aristoteles, aus der aristotelischen Logik, und setzt sie ein, damit er den christlichen Glauben dann verteidigen kann und erklären kann.“

SPRECHER:

sagt Peter Adamson, Professor für spätantike Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 

SPRECHERIN:

Großer Wirbel um Abaelard. Ganz Paris ist entzückt. Bald ist er der berühmteste Magister des Abendlandes. Doch das allein hätte ihn vielleicht noch nicht für alle Zeiten ins kollektive Weltbewußtsein eingeschrieben, wäre da nicht die Geschichte mit Heloise gewesen. 

SPRECHER:

Trotz seiner 38 Jahre ist der smarte Gelehrte noch jungfräulich. Prostituierte mag er nicht, für Damen der Gesellschaft hat er keine Zeit und mit bürgerlichen Frauen keine gemeinsame Sprache. Begierde, Leidenschaft, Liebe sind ihm unbekannte Größen, sie schlummern in den Tiefen seiner Seele. Bis sie eines Tages erweckt werden. Mit eben jenem ersten Kuss.

SPRECHERIN:

1117. Täglich pilgert ein riesiger Strom von Studenten in Abaleards Vorlesungen. Heloise ist 16 oder 17, sie wohnt gleich nebenan und bekommt den ganzen Aufruhr mit. Sie ist eine Waise, erzogen im Kloster und seit kurzem bei ihrem Onkel Fulbert, dem Subdiakon von Notre Dame. Schon früh fiel sie wegen ihrer außergewöhnlichen Gelehrigkeit auf – Latein, Griechisch, Hebräisch, Philosophie und Theologie –, alles sog sie in sich auf. Sie ist hübsch und geistreich, wie Abaelard, und wie er, eine starke Persönlichkeit. 

Insgesamt also - sexy! Die beiden sind füreinander geschaffen. Onkel Fulbert, der das nicht ahnen kann, will den Gelehrten als Hauslehrer für Heloise engagieren - und Abaelard findet das ziemlich gut!   

ZITATOR:

„Die Liebe zu Heloise durchglühte mich. So vereinbarte ich mit Fulbert, dass er mich in seinem Hause aufnehme. Fulbert kam ans Ziel seiner Wünsche: mein Geld für sich und meine Gelehrsamkeit für seine Nichte. Ich kann es wohl kurz machen: der Hausgemeinschaft folgte die Herzensgemeinschaft! Während der Unterrichtsstunden hatten wir vollauf Zeit für unsere Liebe, und der Küsse waren mehr als der Sprüche. Meine Hand hatte oft mehr an ihrem Busen zu suchen als im Buch, und statt in den wissenschaftlichen Textbüchern zu lesen, lasen wir sehnsuchtsvoll eins in des anderen Auge. Es war eine innige Liebe, süßer als der feinste Balsam!“ 

SPRECHERIN:

Für Abaelard erschließt sich eine neue Welt. Er lernt noch größeren Genuss kennen, als die Philosophie!   

ZITATOR:

„In unserer Gier genossen wir alle Stufen der Liebe, und was die Liebe sich Ausgefallenes denken konnte, trieben wir. Je weniger wir solche Freuden bisher genossen hatten, um so glühender gaben wir uns ihnen hin – und kein Überdruss kam uns an.“ 

SPRECHERIN:

Heloise liebt ihn mit der ganzen Innigkeit ihres Herzens. Sie schreibt ihm im Laufe ihres Lebens mehrere wundervolle Briefe. Peter Adamson:

2. O-Ton: Adamson

„Es gibt nicht so viele Denkerinnen im Mittelalter wie Heloise. Es gibt schon mehr weibliche Denkerinnen, als man vielleicht meint, aber selten ist es, dass wir eine Autorin haben, wo wir so einen starken Eindruck haben, wie ihre Persönlichkeit war, und da erfahren wir sogar viel über ihr Leben.“

SPRECHERIN:

Viele Liebende idealisierten den Geliebten - schreibt sie in einem ihrer Briefe - und müssten eines Tages ihren Irrtum erkennen. 

ZITATORIN:

„Was aber Anderen der Irrtum, verschaffte mir die offenkundige Wahrheit. Was die anderen von ihrem Mann nur meinen, das wußte ich, das wußte die Welt. Die Wahrheit meiner Liebe zu dir gründete in ihrer Irrtumslosigkeit. Welcher König oder Philosoph hätte sich mit dir vergleichen können? Welche Stadt, welches Dorf wollte dich nicht haben? Alle Frauen, verheiratet oder nicht, wollten dich sehen, wenn du öffentlich auftratst, und sie reckten den Hals, wenn du abtratest. 

Alle verzehrten sich nach dir in leidenschaftlicher Gier, wenn du fern warst, und ihr Blut ging schneller, warst du zugegen. Welche Königin oder Fürstin neidete mir nicht meine Wonne und mein Bett?“

SPRECHERIN:

Und die Straßen hallen wider von Liedern mit Heloises Namen - Liebende im Liebesrausch.

SPRECHER:

Onkel Fulbert glaubt lange Zeit nicht an das Gerede über eine Affäre der beiden. Da stellt Heloise eines Tages – voller Freude, wie sie schreibt  – fest, dass sie schwanger ist. Abaelard bringt sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu seiner Schwester in die Bretagne, denn Onkel Fulbert tobt, wie erwartet. Beruhigt sich aber, als Abaelard ihm verspricht, Heloise zu heiraten. Nur möge der Onkel die Sache bitte diskret behandeln, seiner Karriere zuliebe. Abaelard ist kein Priester und nicht dem Zölibat verpflichtet, dennoch gilt der Ehestand für eine theologische Laufbahn als hinderlich. Onkel Fulbert verspricht alles. 

SPRECHERIN:

Doch da kommt Widerstand von unerwarteter Seite: Heloise will nicht! Sie sorgt sich um Abaelards Karriere, will auch eigentlich lieber Geliebte bleiben. In gelehrten Worten erläutert sie die Vorzüge der Ehelosigkeit: Ein Philosoph sollte seine Kraft und Zeit nicht an eine Ehe verschwenden. Was sei schon die Ehe? fragt sie mit rhetorischer Bravour. Nichts, lediglich der „Stand des gesellschaftlich anerkannten Geschlechtsverkehrs!“ Zugleich verteidigt sie auch die Rechte der Frauen auf Eigenständigkeit – die sollte nicht von Vätern oder Männern abhängen. Und das zu Beginn des 12. Jahrhunderts! Bravo Heloise!

SPRECHER:

Ihr Sohn kommt zur Welt, Astrolabius, der Sternengreifer. Er bleibt Abaelards Schwester anvertraut, schlägt später selbst eine geistliche Laufbahn ein, kommt aber im Leben der beiden Liebenden nicht mehr vor – im Mittlelalter nichts Außergewöhnliches.  

SPRECHERIN:

Nach der Entbindung fährt Heloise nach Paris. Sie muss sich letztlich beugen - die Hochzeit findet im kleinsten Familienkreis statt. 

SPRECHER.

Onkel Fulbert ist befriedigt, die Frischvermählten kehren jeder in seine eigene Behausung zurück. 

SPRECHERIN:

Happy End? Still und leise? 

SPRECHER:

Leider nein. Die Katastrophe kommt noch. 

Onkel Fulbert hält sich nicht an sein Versprechen und posaunt die Kunde von der Eheschließung aus. Heloise widerspricht ihm öffentlich, streitet die Hochzeit ab, worauf sie von ihrem Onkel gehörig vermöbelt wird. Abaelard will die Geliebte in Sicherheit wissen, er bringt sie in das Kloster, in dem sie aufgewachsen war. 

SPRECHERIN:

Ein verhängnisvoller Fehler. Denn Fulbert glaubt nun, dass er sich Heloises entledigen will. Er ist erzürnt und plant eine Tat von unendlicher Grausamkeit: er heuert drei Mörder an, die Abaelard nachts in seinem Haus überfallen - und entmannen.

Es ist so grauenvoll dass man gar nicht genau hindenken darf. Der Schwerverletzte überlebt mit Mühe. 

ZITATOR:

Welche Scham ergriff mich! Welcher Kummer über Heloises Pein peinigte mich! Welche verzweifelte Wehmut erfüllte sie über meinen Kummer! Die Trennung unserer Körper verschmolz unsere Seelen, und die Liebe, der die Möglichkeit entzogen war, flammte grenzenlos auf.“ 

SPRECHERIN:

Ganz Paris ist auf den Beinen, alle sind entsetzt.

Die gesamte Weiblichkeit ist in Tränen aufgelöst, als hätte jede einzelne von ihnen ihren Mann verloren. Die Empörung unter den Studenten, aber auch in Kreisen der Geistlichkeit ist groß, die Öffentlichkeit steht zu Abaelard. Zwei der Verbrecher werden gestellt, sie werden geblendet und ebenfalls entmannt. Der Bischof enthebt Fulbert seines Amtes und lässt seinen Besitz beschlagnahmen.  

SPRECHER:

Heloise stürzt in tödliche Verzweiflung. 

ZITATORIN: 

„Herzliebster, du weißt es, alle, alle wissen es, was ich in dir verloren. Ohne Zaudern brächte ich mein altes Gewand, mein altes Herz zum Opfer, um aller Welt zu zeigen, wie ich dein eigen sei, mit Leib und Seele. Mir war es immer der Inbegriff aller Süße, deine Geliebte zu heißen, ja - bitte zürne nicht! – deine Schlafbuhle, deine Dirne! Herr Gott, sei du mein Zeuge, wenn der Kaiser käme, der Beherrscher der ganzen Welt, mich zu ehelichen, wenn er mir dabei die ganze Erde verschriebe zum ewigen Besitz, ich möchte lieber deine Dirne heißen, als seine Kaiserin!“

3. O-Ton: Adamson

„Offensichtlich, dass sie sehr schlau war, das ist wahrscheinlich, was Abaelards Interesse an ihr geweckt hat. In dem Briefwechsel selbst scheint sie ihre eigenen philosophischen Ideen zu haben, zum Beispiel betont sie sehr, wie paradox es ist, dass man Schlechtes aus guter Absicht machen kann. In dem Fall hat sie alles aus Liebe zu Abaelard gemacht, und das ist alles so schlecht ausgegangen.“

SPRECHERIN:

Jahrzehnte später, als Äbtissin, beklagt sie immer noch die verlorene Liebe und Leidenschaft:

ZITATORIN:

„Die Liebesfreuden, die wir zusammen genossen, sie brachten uns so viel Süße! Ich kann sie nicht verurteilen, ich kann sie kaum aus meinen Gedanken verdrängen. Ich kann gehen, wohin ich will, immer tanzen die lockenden Bilder vor meinen Augen. Nicht einmal im Schlaf komme ich von diesen Bildern los, sogar mitten im Hochamt drängen sich die wollüstigen Fantasiegebilde vor und fangen meine arme arme Seele so ganz und gar ein! Aus reinem Herzen sollte ich beten, stattdessen verspüre ich immer und immer die Verlockungen der Sinnlichkeit.“ 

SPRECHER:

Der Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloise gehört zu den schönsten Schätzen der Liebesliteratur.

SPRECHERIN:

Ihr ganzes Leben lang bedrängt die leidenschaftliche Heloise den Geliebten mit glühenden Worten. 

SPRECHER:

Er kann dem nichts Entsprechendes entgegensetzen, seine Briefe versuchen, geistigen Trost, geistliche Anleitung zu spenden. Und dennoch – unverkennbar schimmert auch in ihnen der Glanz der Liebe durch - auch Abaelard liebt Heloise auf dem Grund seines gebrochenen Herzens, bis zu seinem Lebensende. 

SPRECHERIN:

Beide gehen ins Kloster. Beide machen weiterhin Karriere. Heloise in stiller Geradlinigkeit, Abaleard auf einer Achterbahnfahrt aus Erfolgen und Abstürzen. 

Heloise wird Äbtissin und durch ihre Schriften berühmt, Abaelard bleibt, was er war, ein glühender Verfechter der kritischen Vernunft, mittels derer althergebrachte religiöse Vorstellungen angezweifelt werden dürften. Womit er - fünfhundert Jahre früher - bereits den Geist der Aufklärung vorwegnimmt. Und sich weiterhin unendlicher Liebe und unendlichem Hass aussetzt. 

SPRECHER:

Eine seiner Schriften behandelt die göttliche Dreieinigkeit. Seine Gegner werfen ihm vor, drei Göttern zu huldigen. 

SPRECHERIN:

Was ausgemachter Blödsinn ist. Abaelard definiert lediglich die Dreieinigkeit als drei Aspekte Gottes: Macht, Weisheit und Gnade plus Liebe. 

SPRECHER:

Seine Fürsprecher und seine Feinde geraten sich darüber in die Haare, zuletzt siegt die Missgunst: 1121 wird Abaelard wegen Gotteslästerung vor ein Konzil in Soissons zitiert. Seine Fans fordern, er solle sich selbst verteidigen dürfen - die Gegner lehnen das ab. Wenn Abaelard redet - so ihr Argument -, sei er unwiderstehlich, seine Überzeugungskraft unschlagbar. 

Was also tun? Ganz einfach: das Konzil verurteilt ihn, ohne ihn anzuhören. Mit eigenen Händen muss er seine Schrift ins Feuer werfen, anschließend wird er in ein abgelegenes Kloster gesperrt. 

Bald jedoch tritt dort ein neuer Abt die Führung an und erlaubt Abaelard, sich eine eigene Klause zu errichten. Nur von einem Burschen begleitet zieht er in die Einöde und baut sich eine Laubhütte. 

SPRECHERIN:

Und es passiert wieder: als Studenten hören, dass Abaelard wieder unterrichten darf, strömen sie in Scharen zu ihm. 

SPRECHER:

Als Dank für seine Vorlesungen bebauen die Studenten Äcker, bauen ihm ein Gebetshaus, das er nach dem Heiligen Geist Paraklete benennt. Drei Jahre währt das stille Glück. 

SPRECHERIN:

Abaleard schätzt alle Weisheit, so auch die der Philosophen der  Antike oder des Judentums. 

ZITATOR:

„Gott schenkt seine Liebe allen Völkern, auch Juden und Heiden!“ 

SPRECHERIN:

sagt er und leitet damit als erster den Dialog der Religionen ein – auch ein früher Bezug zur Aufklärung. Andersgläubige sollten nicht durch Gewalt, sondern allenfalls durch Argumente bekehrt werden. Also wieder einmal: man soll doch bitte die Theologie mit Vernunft angehen. 

SPRECHERIN:

Gott, wie ketzerisch! 

Die Kirchenväter drohen wieder mit Anklage, und Abaelard wird – vielleicht als Strafe, vielleicht auch zu seiner Rettung – von seinem Vorgesetzten in ein abgelegenes Kloster geschickt. Es ist schlimmer als ein Gefängnis. Die Mönche dort versuchen mindestens zweimal, Abaelard zu ermorden: einmal füllen sie seinen Becher mit vergiftetem Messwein, ein anderes Mal mischen sie Gift in sein Essen. Purer Zufall, dass ein Anderer aus seinem Teller ißt - und stirbt. Elf Jahre lang leidet Abaelard in dieser Hölle. 

SPRECHER:

Nach zwei Jahren allerdings - ein kurzes Intermezzo des Glücks. Das Nonnenkloster in Argenteuil, dessen Priorin Heloise mittlerweile ist, wird aufgelöst, die Schwestern stehen heimatlos da. Als er das hört, macht sich Abaelard unverzüglich auf den Weg. Es sind über 500 Kilometer, die er zu Pferde zurücklegt - die Reise dauert gute vier Wochen -, um seiner ehemaligen Geliebten zu helfen. Er schenkt den Nonnen die Paraklete, seinen einzigen Besitz. Das Wiedersehen mit Heloise ist schmerzlich-schön.

SPRECHERIN:

In seinen Memoiren vermerkt er:

ZITATOR:

„Die Klatschmäuler sagten, dass ich immer noch in den Fesseln der Sinneslust liege, darum könnte ich das Fernsein von meiner einstigen Geliebten nur schwer verschmerzen - wenn überhaupt.“ 

SPRECHER: 

Und Heloise, in einem ihrer herzzerreißenden Briefe:

ZITATORIN:

„Dich verlieren heißt mein eigenes Leben verlieren.

Ich wäre weiß Gott ohne Zaudern auf dein Geheiß in die Hölle dir vorausgeeilt oder doch nachgestürzt. Ich war doch nicht mehr Herr meines Selbst! In dir, nur noch in dir war es - und ist es! Ist es jetzt mehr als je! Ist mein Selbst nicht bei dir, so ist es nirgends, und ohne dich hat es keinen Sinn und kein Wesen.“

SPRECHERIN:

Der nächste Absturz des Pierre Abaelard folgt schon bald. Sein Postulat, alle Dogmen der Religion müssten einer vernunftmäßigen Erklärung zugänglich sein, bringt ihm wieder eine Anklage ein. Sein Widersacher, der eifrige Wachhund des Klerus, Bernhard von Clairvaux, nimmt die Jagd auf den Rebellen auf. 

Religion und kritische Vernunft? Hah! Ketzerei! Gottlosigkeit! 

SPRECHER:

Abaelard bittet diesmal selbst um ein Konzil, um sich zu verteidigen. Der Erzbischof von Sens ist dazu bereit und lädt auch Bernhard zur Disputation ein. Doch der lehnt ab, er wagt es nicht. Gegen Abaelard fühle er sich wie „ein reines Kind“, sagt er. Stattdessen stachelt er andere Kirchenfürsten an, Abaelard zu vernichten. 

SPRECHERIN:

1140 wird das Konzil von Sens einberufen. Eine Riesenshow! Der König rückt mit dem gesamten Hofstaat heran, alle Größen der Geistlichkeit kommen, Prunk, Aufruhr. Abaelard, mutig und kämpferisch wie eh und je, geißelt den Klerus: (die Unmoral der Priester, den Ablasshandel, die Lügen um falsche Wunder.)

SPRECHER:

Da er weiß, dass er keine Chance hat, verkündet er sogleich, dass er sich nur dem Richtspruch des Papstes unterwerfen werde - und verlässt die Stadt. Die verblüffte Geistlichkeit bleibt ratlos zurück. Doch da der scharfsinnige Angeklagte nicht mehr da ist, wagt es Bernhard nun, gegen ihn zu sprechen - und erreicht die Verurteilung.

SPRECHERIN:

Abaleard schafft es nicht mehr zum Papst. Gebrochen, krank und verarmt muss er in Cluny einkehren, um sich zu erholen. Und während er dort ist, bestätigt Papst Innozenz II. das Urteil von Sens. Abaleard wird verbannt und zu ewigem Schweigen verdammt. Endlich! Der Rebell, der Freidenker, der Revolutionär ist erledigt!

SPRECHER:

Als der Abt von Cluny, der freundliche Petrus Venerabilis, sieht, wie sich Abaleards Zustand verschlechtert, schickt er ihn zur Erholung nach Chalons. Dort schreibt er noch einige Hymnen von unsterblicher Schönheit für Heloise. Und stirbt, 63 jährig. Seine letzten Worte: „Ich weiß es nicht.“

SPRECHERIN:

Heloise überlebte den Geliebten um 22 Jahre und bat darum, mit ihm in der Paraklete begraben zu werden.

SPRECHER:

Die Echtheit einiger ihrer Briefe zieht man in Zweifel. Dennoch - sie sind ein literarischer Schatz. Und erzählen so viel über sie, zum Beispiel, 

5. O-Ton: Adamson

„dass sie es bereut, dass sie nicht mehr zusammen mit Abaelard sein kann. Dass sie Nonne geworden ist, also das ist nicht wirklich, was sie wollte. Und dass eine Frau über die Jahrhunderte hinweg mit uns so reden kann über ihre Gefühle und über ihre eigene Einstellungen, das ist wirklich einmalig. Ich bin eigentlich schon überzeugt, dass der Briefwechsel authentisch ist.“

SPRECHERIN:

Während der französischen Revolution wurde das Grab in der Paraklete aufgebrochen und geplündert, doch brachte man 1817 die - vermuteten - Überreste von Abaelad und Heloise nach Paris. Dort liegen sie nun, endlich wieder vereint, auf dem Friedhof Père Lachaise. Viele Jahre lang pilgerten Liebende aus aller Welt dorthin, um Blumen auf ihr Grab zu legen. 


radioWissen | Bild: Getty Images / BR
BAYERN 2

radioWissen

Neueste Episoden