Der große Zapfenstreich - Nationale Machtfantasie oder Einheitssymbol?
Mit dem Großen Zapfenstreich verabschiedet die Bundeswehr feierlich hohe Würdenträger der Bundesrepublik. Dass dazu neben Militärmusikern sowohl Bewaffnete als auch Fackelträgern aufmarschieren, erfüllt heute nicht Wenige mit Unbehagen. Kritiker fordern immer wieder, den Großen Zapfenstreich abzuschaffen. Von Frank Halbach (BR 2024)
VON: Frank Halbach
Ausstrahlung am 20.3.2025
SHOWNOTES
Credits
Autor dieser Folge: Frank Halbach
Regie: Frank Halbach
Es sprachen: Rahel Comtesse, Christoph Jablonka
Technik: Ursula Kirstein
Redaktion: Andrea Bräu
Im Interview:
Prof. Dr. Urban Bacher, Autor des Buches „Deutsche Marschmusik. Hintergründe, Geschichte und Tradition der Musik der Soldaten“.
Linktipps:
Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek.
ZUM PODCAST
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
Literaturtipps:
Urban Bacher: Deutsche Marschmusik. Hintergründe, Geschichte und Tradition der Musik der Soldaten. 2. erweiterte Auflage, Konstanz 2019.
Markus Euskirchen: Militärrituale. Analyse und Kritik eines Herrschaftsinstruments, Köln 2005.
Manfred Heidler (Hg.): Militärmusik im Diskurs. Eine Schriftenreihe des Militärmusikdienstes der Bundeswehr. Militärmusik und bürgerliche Musikkultur. Dokumentationsband zum gleichnamigen Symposium von 4. Bis 5. September 2018, Bonn 2018.
Bernhard Höfele: Großer Zapfenstreich der Bundeswehr von Wilhelm Wieprecht, Bonn 2012.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
MUSIK 1 „Yorckscher Marsch“; ZEIT: 00:54
SPRECHERIN (leicht ergriffen)
Fackellicht erhellt flackernd die Nacht, taucht die Musiker, die zu einem würdevollen Zeremoniell antreten, in schimmerndes Licht – eindrucksvoll, feierlich…
SPRECHER (kritisch)
Sie marschieren auf: Behelmte Fackelträger, blinkende Waffen – martialisch, antiquiert, überholt.
SPRECHERIN (zugewandt)
Ein Staat brauchen Traditionen, Symbole und Zeremonielle. Sie prägen auch das Bild der Bundeswehr in der Gesellschaft.
SPRECHER (kritisch)
Militärischer Mummenschanz mit Fackelmärschen deutscher Soldaten vor dem Reichstag – das erinnert an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.
SPRECHERIN (unterbricht)
Das „Hochamt“ deutscher Militärmusik sorgt – wie zum Beispiel bei der Ehrung der Afghanistan-Veteranen der Bundeswehr 2021 - immer wieder für hitzig geführte Debatten.
MUSIK ENDE
MUSIK 2 „Meldung“ ; ZEIT:00:05
SPRECHERIN
Der Große Zapfenstreich.
SPRECHER
Das in der Gesellschaft bekannteste militärische Zeremoniell der Bundeswehr. Mit dieser musikalischen Abendzeremonie werden scheidende Amtsträgerinnen und Amtsträger der Bundesrepublik Deutschland geehrt, aber auch besondere Jubiläen oder Anlässe feierlich begangen.
SPRECHERIN
Heißt es auf der Website der Bundeswehr.
O-Ton 1 Bacher (01:39)
Der Zapfenstreich hat eine sehr alte Tradition. Im Prinzip ist es ein Abendritual, dass die Preußen perfektioniert haben und zum besonderen Anlässen in der Abenddämmerung aufführen.
SPRECHER
Erklärt Dr. Urban Bacher, Professor für Betriebswirtschaftslehre und Bankmanagement. In seinem 2019 in erweiterter zweiter Auflage erschienenem Buch „Deutsche Marschmusik“ hat sich Urban Bacher intensiv mit den Hintergründen, der Geschichte und der Tradition der deutschen Militärmusik auseinandergesetzt - vom Mittelalter über Preußens Blüte, von der Wehrmacht bis hin zur Bundewehr.
O-Ton 2 Bacher (03:46)
Im späten Mittelalter gab es noch keine stehenden Heere oder auch Kasernen. Die Soldaten waren oft Söldner, die am Abend Karten spielten oder sich betrunken in Wirtshäusern vergnügten. Ein besonderer Feldwebel der Profos - heute wurde man Spies sagen, oder noch besser die Feldjäger - der musste für Ordnung sorgen: Er strich mit seinem Stock oder mit seinem Säbel über den Zapfen des Bier- oder Weinfasses. Damit war jeder Ausschank sofort beendet. Jeder Soldat musste unverzüglich sein Bett aufsuchen. Oft war der Profos in Begleitung eines Trommlers und Pfeiffers - Spiel genannt - und sie spielten das letzte Stück eben: Zapfenstreich.
MUSIK 3 „Marsch der Querpfeifer“; ZEIT: 00:26
SPRECHERIN
Urkundlich erwähnt wird solch ein musikalisches Abendsignal in Verbindung mit dem „Zapfenschlag“ erstmals 1596.
SPRECHER
In großen Feldlagern gab es statt Musik zur Guten Nacht auch schon mal einen Kanonenschuss als ultimative Aufforderung zur Nachtruhe.
Geräusch Kanone – Musik ENDE
SPRECHERIN
Die heutige musikalische Zeremonie des Großen Zapfenstreichs hat sich zu einer rituellen Verabschiedung entwickelt. Zugleich ist sie die höchste Auszeichnung, die die Bundeswehr einer Zivilperson zollen kann.
SPRECHER
Vorbehalten den Ämtern von Bundespräsident, Bundeskanzler und Verteidigungsminister.
SPRECHERIN
Doch werden keineswegs nur Zivilisten, sondern auch Militärs im Rang von General, Generalleutnant, Admiral oder Vizeadmiral beim Ausscheiden aus dem aktiven Dienst mit Großen Zapfenstreich verabschiedet.
O-Ton 3 Bacher (07:55)
Dann wird der Zapfenstreich bei großen Jubiläen des Staates aufgeführt, zum Beispiel 60 Jahre Bundeswehr oder bei Ende eines großen Einsatzes.
SPRECHER
So dass das etwa 20-minütige Zeremoniell von der Bundeswehr in Deutschland auch ohne größeres Medieninteresse jährlich etwa 20- bis 30-mal durchgeführt wird.
MUSIK 4 „Fanfaren der Feldtrompeter“; ZEIT: 01:25
SPRECHERIN
Vom spätmittelalterlichen Zapfenstreich bis zur großen musikalischen Zeremonie war es freilich ein weiter Weg.
SPRECHER
Seit jeher dienen Soldaten auch dazu, die Mächtigen zu repräsentieren: So begannen einst zunächst einzelne Bläser, mit ihren Signalen die Befehle der Machthaber eindringlich, hoheitsvoll und weithin hörbar kundzutun. Daraus entwickelte sich die Militärmusik.
SPRECHERIN
Die spätestens seit dem 19. Jahrhundert durch die Besetzungen der Militärorchester, die Professionalisierung der Musiker sowie der Ausweitung des Repertoires auch darauf abzielt, ein Gefühl von Verbundenheit, Einheit und Zusammenhalt in den Nationalstaaten zu erzeugen.
SPRECHER
In der höfischen Gesellschaft sind der fürstlich musizierende Hoftrompeter und der militärisch blasende Feldtrompeter oft ein und dieselbe Person. Signale als akustische Befehle gehören als hörbare Aufforderungen im höfischen Leben ebenso zum Alltag wie rein repräsentative Musik zur Routine des Heers.
MUSIK ENDE
SPRECHER
In der Antike berichtet unter anderem Gaius Julius Cäsar in seinen Aufzeichnungen zum Gallischen Krieg vom „classicum“. Das bezeichnet erstens ein Instrument, die Kriegstrompete der Römer, zweitens Signale, die mit dieser Trompete gegeben werden und drittens einen Ablauf von Signalen, die als Abendmusik zur Ehrung eines Feldherren gespielt werden.
SPRECHERIN
Musik also, die Respekt, Anerkennung und Würdigung zum Ausdruck bringen soll.
SPRECHER
Zwar gibt es Quellen aus dem 16. Jahrhundert über Militärmusik, der Begriff „Zapfenstreich“ im Zusammenhang mit Musik im Rahmen solcher Abendveranstaltungen findet sich aber das erste Mal erst 1726. An gleicher Stelle finden sich auch Schilderungen über Predigten und Betstunden, die abends im Lager der Soldaten abgehalten wurden. Getrennte Veranstaltungen, die zusammenwachsen sollten.
MUSIK 6 „Gebet“; ZEIT: 01:21
O-Ton 5 Bacher (22:43)
1813 gab es ein Schlüsselereignis. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. War vom russischen Zaren Alexander I. zum Truppenbesuch in ein Feldlager bei Leipzig eingeladen. Nach dem Signal zum Zapfenstreich haben die Soldaten dort einen Choral gesungen. Dieses Abendsignal hat den König ergriffen. Sofort hat er seinen Generalleutnant befohlen, dass er das auch will. Seine Soldaten sollen jeden Abend nach dem Signal zum Zapfenstreich ihre Kopfbedeckung abnehmen. Innehalten für ein kurzes Gebet und bei feierlichen Anlässen sollen die Trompeter ein Abendlied blasen. (…) 13:26 Seither wird das Abendsignal Preußischer oder Russischer Zapfenstreich genannt.
SPRECHERIN
Ein deutlicher Ausdruck des religiösen Selbstverständnisses der sogenannten „Heiligen Allianz“ von Preußen, Österreich und Russland während der antinapoleonischen Befreiungskriege.
Die Melodie, die bis heute zum Gebet im Großen Zapfenstreich erklingt, ist der Choral „Ich bete an die Macht der Liebe“ des ukrainischen Komponisten Dmitri Stepanowitsch Bortnjanski.
MUSIK kurz hoch
O-Ton 6 Bacher (23:40)
Der Choral ist der eigentliche Höhepunkt des Großen Zapfenstreichs. Mehrfach wurde versucht, das Lied „Ich bete an die Macht der Liebe“ zu ersetzen. Vergeblich - zu zart, zu melodisch zu ausdrucksstark ist dieser Choral unter freiem Himmel im Fackelschein.
SPRECHER
Als fester Bestandteil etabliert sich die Melodie Bortnjanskis, seit sie im Rahmen eines öffentlichen Konzertes innerhalb des Großen Zapfenstreichs erklungen ist: Am 12. Mai 1838 besucht Zar Nikolaus I. König Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Beauftragt mit „allen in Berlin stationierten Militärkapellen“, zu diesem Anlass ein eindrucksvolles Konzert zu veranstalten, wird der Musikdirektor des Musikkorps des preußischen Gardekorps: Wilhelm Friedrich Wieprecht.
MUSIK ENDE
O-Ton 7 Bacher (15:02)
Er war Opernmusiker und spielte Violine, Posaune und Klarinette. Sein Vater war Kavallerietrompeter, dann Stadtmusikdirektor in der Nähe von Halle. Wieprecht war ein Tausendsassa. Bereits mit 25 Jahren hatte er sein Herz an die Militärmusik verloren. Ohne militärische Ausbildung wurde er preußischer Generalmusikdirektor. Er kümmerte sich um die einheitliche Stimmung der Kapellen und um die professionelle Ausbildung der Musiker.
MUSIK 5 Privat Take 021 „Parademarsch Nr.1”; Album: Berliner Schlossmusiken; Label: Capriccio – 2545385; Interpret: Berlin Radio Symphonie Orchester/ Sebastian Weigle; Komponist: Wilhelm Wieprecht; Zeit: 00:30
+ Atmo Feuerwerk
SPRECHERIN
Zum Besuch des Zaren bietet Wieprecht über 1.000 Musiker mit 200 Tambouren, Trommlern und Pfeifern und 50 Schellenbäumen auf - umrahmt von einem pompösen Feuerwerk.
SPRECHER
Sich selbst lässt der Maestro zu solch besonderen Anlässen später übrigens gerne mit Kanonendonner ankündigen.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
1867 gewinnt Wieprecht den Wettbewerb der Militärkapellen auf der Weltausstellung in Paris vor einer Jury, der unter anderem aus Ambroise Thomas, Hans von Bülow und Léo Delibes angehören. Napoleon III. lädt ihn zweimal nach Versailles ein und verleiht ihm das Ehrenkreuz der französischen Ehrenlegion.
SPRECHER
1856 formt Wieprecht einen festen militärischen und musikalischen Ablauf des Zapfenstreichs. Seine Form wird für alle Preußischen Armeen angeordnet. Wieprechts Zapfenstreich wird zwar bis zum Jahr 1918 vielerorts variiert, bleibt aber das maßgebliche Fundament bis zum heute noch verbindlichen Ablauf.
Wobei zunächst die exakte Festlegung, welches Musikstück genau denn mit Bezeichnungen wie „Retraite“ oder „Abendlied“ gemeint sei, erst mit dem Erscheinen der gedruckten Partitur im Jahr 1872 zweifelsfrei geklärt ist.
SPRECHERIN
Ein Jahr nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs, das den Preußischen Zapfenstreich zum Zapfenstreich des „geeinten“ Deutschland macht.
MUSIK 7 „Heil dir im Siegeskranz“; ZEIT:00:41
SPRECHER
Im Ablauf des Großen Zapfenstreichs wurde fortan bei Anwesenheit des Monarchen vor dem Gebet die Kaiserhymne „Heil dir im Siegerkranz“ intoniert.
SPRECHERIN
Deren Melodie identisch mit der britischen Nationalhymne ist –eine offizielle Nationalhymne hatte das Deutsche Kaiserreich nicht.
MUSIK ENDE
Die gibt es erst 1922 in der ersten parlamentarischen Demokratie Deutschlands:
MUSIK 8 F100090 101 „Deutschlandlied“; ZEIT: 00:12
das Deutschlandlied mit dem von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1841 verfassten Text zur Musik Joseph Haydns.
MUSIK ENDE
SPRECHER
Die Nationalhymne ersetzt die Kaiserhymne und soll auch so die Symbolkraft des Großen Zapfenstreichs einerseits für den Zusammenhalt und die Gemeinschaft der Streitkräfte festigen und andrerseits zugleich die Verbundenheit zwischen Bundeswehr und den Bürgerinnen und Bürgern fördern.
SPRECHERIN
Deswegen erscheint es umso wichtiger, über den Zeitraum zwischen Weimarer Republik und Bundesrepublik Deutschland bzw. Deutscher Demokratischer Republik zu sprechen.
O-Ton Bacher 8 (25:12)
Hitler und seine Parteifreunde haben die Wirkung von Trommeln und Pfeifen, Fanfaren und Pauken schnell erkannt und Marschmusik für ihre Zwecke instrumentalisiert. Der Rundfunk damals begann in der Nazizeit schon früh am Morgen mit Marschmusik. Die Wochenschau wird von Militärmusik gewöhnlich untermalt. Die Zeit ganz großer Appelle und Aufmärsche war gekommen. Der einfache Soldat lernte Soldatenlieder. Um der Welt zu imponieren gab es Groß-Konzerte zum Beispiel anlässlich der Olympiade 1936. Und ganz große Aufmärsche gab es zum Beispiel zu Führers Geburtstag. Der Große Zapfenstreich wurde zwar auch aufgeführt, ein Abendsignal mit einem Choral im Zentrum, setzte aber nicht das ideale Zeichen für die Partei. Für die Propaganda und für einen Aufbruch eigneten sich Appelle zackige Wachaufzüge und große Vorbeimärsche viel besser.
SPRECHER
Erläutert der Militärmusikexperte Urban Bacher.
SPRECHERIN
Die Nationalsozialisten konnten ihre Finger vom Zapfenstreich ebenso wenig lassen wie von allem anderen, das pathetisch, und eindrucksvoll genug schien, der Ideologie der Volksgemeinschaft „zu dienen“.
ATMO Marschieren
Wenige Stunden, nachdem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden ist, marschierten Kolonnen der SA, SS und anderer Nationalsozialistischer Organisationen mit lodernden Fackeln in einem pompösen Siegeszug durch das Brandenburger Tor.
SPRECHER
Ick kann janich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!
SPRECHERIN
Kommentiert der weltberühmte Maler Max Liebermann, als die braunen Horden unter seinem Fenster vorbeidefilieren.
SPRECHER
Joseph Goebbels, der spätere Reichspropagandaleiter, hingegen ist hellauf begeistert: Ein Marsch für die Ewigkeit, der Aufbruch in ein tausendjähriges Reich. Für die Nachwelt eindrucksvoll festgehalten –
SPRECHERIN
Allerdings hatten die für die Nachwelt dokumentierenden Hitler-Begeisterten noch wenig Erfahrung mit Medien wie Fotografie oder Film, so dass vom pompösen Fackelzug lediglich ein Haufen verwackelter Bilder blieb.
SPRECHER
Weshalb Goebbels den Triumphzug im Fackelschein ein paar Monate später nachstellen ließ.
SPRECHERIN
Gewissermaßen nachgestellt wird auch der etablierte Große Zapfenstreich in einer Variante, die dem ideologischen Charakter des Dritten Reichs besser entsprechen soll. Wilhelm Schierhorn, Musikinspizient der Deutschen Polizei, komponiert den sogenannten „Großen Zapfenstreich der Deutschen Polizei“.
SPRECHER
Veröffentlicht 1939, wird Schierhorns Werk ein Jahr später in „Großer Abendruf der Deutschen Polizei“ umbenannt – ein Zeichen für die Eigenständigkeit der Reichspolizei im Verhältnis zur Wehrmacht, auch in musikalischer Hinsicht. Die Aufführung bleibt allein den Musikkorps der Polizei und der SS vorbehalten. In Runderlassen wird Schierhorns Marsch „Schutz und Trutz“ für die Feuerwehren angeordnet sowie die propagandagerechte Pflege von Marsch- und Chorgesang geregelt.
SPRECHERIN
Die Nationalsozialisten versuchen sich den Großen Zapfenstreich wie so viele andere wirkmächtige Rituale, Musik und Ästhetik, zu eigen zu machen, versuchen ihn für ihre Zwecke zu missbrauchen und zu politisieren. Mit weniger Erfolg als bei der Marschmusik allgemein.
SPRECHER
Denn militärische Symbolik vereinnahmt das Dritte Reich allzu gerne: Bilder von Massenaufmärschen von Uniformierten mit Fackeln haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt und erzeugen unmittelbar Unbehagen. Kein Wunder also, dass in der jungen Bunderepublik die Missbilligung von Militärritualen wächst.
SPRECHERIN
Dementsprechend gerät der Große Zapfenstreich in die Kritik. Dass sich die Bundeswehr bis heute ausdrücklich darauf beruft, dass die aktuelle Zeremonie im frühen 19. Jahrhundert zur Zeit der Befreiungskriege entstanden sei, hilft nur bedingt.
SPRECHERIN
Die Gründung der Bundewehr 1955 stößt in der westdeutschen Bevölkerung keineswegs auf einhellige Begeisterung. Vielmehr werden zahlreiche öffentliche Aufführungen der Bundeswehr-Musikkorps von Anti-Militaristen massiv gestört und können teilweise nur unter Polizeischutz abgehalten werden.
SPRECHERIN
Während im 19. Jahrhundert der Große Zapfenstreich nach Wieprecht auch von zivilen Kapellen gespielt wurde, und seine Aufführung beim Militär lediglich die Entscheidung des Dirigenten bzw. Kommandanten war, wird der Zapfenstreich in der Bundesrepublik genehmigungspflichtig.
SPRECHER
„Die Genehmigung zum Spielen des Großen Zapfenstreiches ist bei den
Inspekteuren von Heer, Luftwaffe und Marine bzw. dem Befehlshaber der Territorialen Verteidigung einzuholen.“
SPRECHERIN
Heißt es in einem ersten Erlass vom September 1958. Und weiter:
SPRECHER
Wenn die Bundeswehr den Großen Zapfenstreich nur zu herausragenden militärischen Anlässen spielt, wird die Öffentlichkeit wieder Verständnis seine Bedeutung gewinnen und ihn in Festprogrammen ziviler Veranstaltungen als unpassend empfinden.“
SPRECHERIN
Die Bundeswehr erhebt den Großen Zapfenstreich also zu zur feierlichen Veranstaltung der Truppe und damit zu einem Zeremoniell. Dass Wieprechts Zyklus für Schützenfeste, Stadtjubiläen und ähnliche Feste seine Bedeutung verliert, ist gewünschter Nebeneffekt. Er soll für die bürgerliche Musikkultur nur noch eine Ausnahme sein.
MUSIK 9 „Zapfenstreichfinale“; ZEIT: 00:45
SPRECHER
Nicht nur die Bundesrepublik, auch die DDR führte 1962 den Großen Zapfenstreich wieder ein. Er wurde dort 1981 für die Nationale Volksarmee um „Elemente des progressiven militärischen Erbes“ ergänzt, wie etwa um das Lied „Für den Frieden der Welt“ des sowjetischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch.
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Statt politisch programmatischer Elemente, die in den Großen Zapfenstreich integriert wurden, erregen heutzutage ganz andere musikalische Elemente die mediale Aufmerksamkeit.
ATMO Zapfenstreich
SPRECHER
Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen“ und Hildegard Knefs „Für mich soll‘s rote Rosen regnen“ 2021 bei der Verabschiedung von Bundeskanzlerin Angela Merkel…
SPRECHERIN
„My Way“ in der Version von Frank Sinatra für Gerhard Schröder 2005, „Smoke on the Water“ von Deep Purple für den zurückgetretenen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg 2011…
ATMO ENDE
MUSIK 11 „Die glorreichen Sieben“; ZEIT: 00:55
SPRECHER
„Over the rainbow“ 2012 nach dem Rücktritt des Bundepräsidenten Christian Wulff…
SPRECHERIN
…“Wind of Change“ der Scorpions 2019 zur Verabschiedung von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen…
SPRECHERIN
…oder „Die glorreichen Sieben“ für ihre Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer…
MUSIK ENDE
SPRECHERIN
Bis zu vier eigene Musik-Wünsche sind möglich. Das geht drauf zurück, dass das von der Bundeswehr ausgeführte Zeremoniell traditionell vor dem Beginn des tatsächlichen Zapfenstreiches eine sogenannte Serenade enthält, die streng genommen nicht zum eigentlichen Ablauf gehört. Bei der Ehrung einer Einzelperson kann dem Ablauf so eine individuelle Prägung verliehen werden.
SPRECHER
Die Regenbogenpresse interessiert sich stets brennend für die individuellen Musikwünsche der Politikprominenz. Seriöse Medien diskutieren weiterhin das prinzipielle Für und Wider der Zeremonie.
O-Ton 9 Bacher (11:00)
Was viele vergessen: Mit dem Großen Zapfenstreich wird nicht nur die Person ausgezeichnet, sondern das Amt als solches. Daneben steht die militärische Truppe im Zentrum mit ihrem Abendritual.
SPRECHERIN
Ein Signal des Respekts vor der Bundeswehr, die teilweise in gefährliche Einsätze weltweit entsandt wird – als Parlamentsarmee ausschließlich von den Volksvertretern.
MUSIK 12 „Zapfenstreich-Marsch“; ZEIT: 01:23
SPRECHER
Aber erscheint statt des staatstragenden militärischen Zeremoniells für scheidende Minister, Präsidentinnen und Kanzler für so manche oder manchen nicht ein freundlicher Abschiedsbrief der Truppe angemessener?
SPRECHERIN
Der Historiker Julien Reitzenstein stellt die Gegenfrage: Mit welchem Recht maßen sich manche Kritiker an, darüber bestimmen zu wollen, mit welchen Zeremonien innerhalb einer „Firma“ verdiente „Mitarbeiter“ geehrt werden?
SPRECHER
Negative Assoziationen angesichts fackeltragender Soldatenaufmärsche erscheinen nachvollziehbar, sind Anlass zu Diskussionen, die geführt werden müssen…
SPRECHERIN
Oder zu grellen Schlagzeilen in aufgeregt beschleunigten Internet-Debatten auf Twitter und Co führen. Leichtfertig Nazi-Assoziationen Einzelner zum Gegenstand politischer Debatten zu machen, erscheint doch recht problematisch.
SPRECHER
Bislang zumindest unterliegen Zeremonien wie der Große Zapfenstreich unserer demokratischen Kontrolle. Es liegt an uns allen, dass es dabei bleibt.