Die Wiener Sezession - Der Kunst ihre Freiheit
Um 1900 suchen die Wiener Sezessionisten, allen voran Gustav Klimt, Anschluss an die europäische Avantgarde in der bildenden Kunst. Sie rebellieren gegen den rückwärtsgewandten Kunstgeschmack der etablierten Kunstinstitutionen und geben sich ein provokantes Motto: der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit. Von Brigitte Kohn
VON: Brigitte Kohn
Ausstrahlung am 8.10.2024
SHOWNOTES
Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Andreas Neumann
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Karin Becker
Im Interview:
Dr. Mona Horncastle, Kunsthistorikerin, Kuratorin, Autorin, Klimt-Biographin
Dr. Thomas Moser, Kunsthistoriker, technische Universität Wien
Margaret Stonborough-Wittgenstein - Mit Geld und Moral JETZT ENTDECKEN
Jugendstil - Natur als Kunst, Schönheit und Revolte JETZT ENTDECKEN
Gustav Klimt - Der Wiener Maler und der Kuss JETZT ENTDECKEN
Die Wiener Werkstätte und die Frauen JETZT ENTDECKEN
Literatur:
Horncastle, Monika, Weidinger, Alfred: Gustav Klimt. Die Biografie. Brandstätter Verlag Wien 2018. Gut lesbare, spannende Biografie über den Jahrhundertkünstler und die Wiener Kunstszene seiner Zeit.
Schulze, Sabine (Hrsg.): Sehnsucht nach Glück. Wiens Aufbruch in die Moderne. Klimt, Kokoschka, Schiele: Verlag Gernd Hatje 1997. Abbildungen, Bildinterpretationen, Essays zu einzelnen Künstlern, Motiven und europäischen Beziehungen der Sezession.
Moser, Thomas: Körper und Objekte. Kraft- und Berührungserfahrungen in Kunst und Wissenschaft um 1900. Dissertation, Fink Verlag München 2022. Wissenschaftliche Arbeit über europäische Kunst um 1900 und die Querverbindungen zwischen Kunst und Wissenschaft. Theoretischer Zugang: sinnesphysiologische Wahrnehmung, Tastsinn
Wunberg, Gotthart: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart Reclam 1981. Originaltexte der Literaten, Philosophen, Psychologen und sezessionsfreundlichen Publizisten (z. B. Hermann Bahr) der Wiener Moderne mit Einführung und Erläuterungen.
Vergo,Peter: Kunst in Wien Klimt-Kokoschka-Schiele. 1898 – 1918. Edel books Neumühlen o. J. Bildband mit viel Text über die im Untertitel genannten Künstler und andere Künstler der Wiener Sezession, inklusive der Architekten und der Wiener Werkstätte
Linktipps: Internetseite von Gesprächspartnerin Dr. Mona Horncastle HIERInternetseite von Gesprächspartner Dr. Thomas Moser HIER
Internetseite zur Ausstellung über die Sezessionen in Wien, München, Berlin HIER
Internetseite Leopold-Museum Wien 1900 HIER
Internetseite Wiener Secession heute HIER
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR BAHR:
„In Europa weiß man von Wien, dass dort immer Sonntag ist, immer am Herd sich der Spieß dreht …, dass es „halt“ die Stadt der Backhendel, der feschen Fiaker und der weltberühmten Gemütlichkeit ist.“
ERZÄHLERIN:
Der österreichische Schriftsteller Hermann Bahr hasst Wien und liebt es zugleich, wie viele seiner fortschrittlichen Zeitgenossen. Am Ende des 19. Jahrhunderts ist die Hauptstadt der österreich-ungarischen Doppelmonarchie einerseits so konservativ-katholisch geprägt wie eh und je und andererseits ein weithin ausstrahlender intellektueller Brennpunkt.
Musik: For Alban Berg 0‘27
Die Wiener Moderne formiert sich. Literaten, bildende Künstler, Musiker und Wissenschaftler treffen sich in den Caféhäusern und führen intensive Debatten. Die Industrialisierung und der Aufschwung von Technik und Naturwissenschaft verändern das Leben und Denken, soziale Reformideen breiten sich aus, und rivalisierende politische Ideologien bekämpfen sich. Sigmund Freud entwickelt in Wien die Psychoanalyse, die auch die Künstler stark beeinflusst: Auch sie wenden sich nun verstärkt dem individuellen inneren Erleben zu. Derweil erbaut die Stadt Wien ihre berühmte Ringstraße ganz im repräsentativen Stil des Historismus. Ein Prachtbau nach dem anderen erinnert entweder an die Antike, die Gotik oder die Renaissance, nur nicht an die Gegenwart. Das stört den Publizisten Hermann Bahr.
Musik: Stück für Klavier h-Moll 0‘25
ZITATOR BAHR:
„Wir sind keine barocken Menschen, wir leben nicht in der Renaissance, warum wollen wir so tun? Das Leben ist anders geworden, (…) da muss auch das Bauen der Menschen anders werden, ihrem neuen Sinn und ihrem neuen Tun gemäß.“
ERZÄHLERIN:
Nicht nur das Bauen, alle Kunst muss anders werden. Aber in den konservativen Wiener Kunstakademien und Künstlervereinigungen schottet man sich ab gegen die europäische Avantgarde, sehr zum Verdruss der jungen Künstlergeneration, die weltoffen sein und gleichzeitig die Eigenheit des Vielvölkerstaates Österreich in die internationale Kunstszene einbringen will. Die Spannungen entladen sich im Jahr 1894 in einem Kunstskandal, wie Wien ihn noch nie erlebt hat. Der aufstrebende Dekorationsmaler Gustav Klimt soll die Aula der neuen Universität mit Allegorien auf die Philosophie, Theologie, Jurisprudenz und Medizin ausstatten. Klimt aber entfernt sich beim Malen seiner Fakultätsbilder stark von den Vorstellungen der Honoratioren; er malt im Stil des modernen Symbolismus. Man sieht einen Totenschädel im Bild der Medizin und einen nackten, alten, verzweifelt grübelnden Mann, umgeben von nackten, verführerischen Frauengestalten, im Bild der Philosophie: Eros und Tod kennzeichnen die Begrenztheit des menschlichen Strebens nach Wissen. Das missfällt den ehrengeachteten Professoren fast noch mehr als Klimts unkonventioneller Umgang mit Nacktheit. Bei ihm sieht man sehr viele lüsterne Blicke und bisweilen sogar das Schamhaar!
Ein Proteststurm bricht los und fegt durch die ganze Stadt. Die Professoren sehen die Moral der studierenden Jugend gefährdet, sagt die Kunsthistorikerin und Klimt-Biographin Mona Horncastle.
01 O-TON DR. MONA HORNCASTLE
Die möchten, dass er Dinge nachbessert, letztendlich zensieren sie ihn. Und Klimt ist erbost. Er rückt die Bilder auch gar nicht raus, zahlt sein Honorar zurück. Und in der Folge nimmt er nie wieder einen Staatsauftrag an.
Musik: Erinnerung für Klavier 1‘09
ERZÄHLERIN:
Es gibt neben Klimt viele weitere Künstler in Wien, deren Schaffen von den damals modernen Kunstrichtungen geprägt ist. Oft sind sie auf mehreren Gebieten gleichzeitig tätig. Klimts enger Freund Carl Moll malt hauptsächlich Landschaften und Stillleben im Stil des Impressionismus, er ist zugleich ein Meister des Holzfarbschnitts und betätigt sich auch als Kunstschriftsteller. Ernst Stöhr ist Maler, aber auch ein anerkannter Musiker und Dichter. Die Künste zueinander in Beziehung setzen, das wollen alle, die sich am 3. April 1897 in der „Vereinigung der bildenden Künstler Österreichs“, kurz Wiener Secession genannt, zusammenschließen. Neben den bereits Genannten entschließen sich unter anderen auch der von Naturalismus und Realismus geprägte Maler Josef Engelhart, die Architekten Joseph Maria Olbrich, Otto Wagner und Josef Hoffmann und der Kunstgewerbler Koloman Moser für eine Mitgliedschaft.
Die Bauten der sezessionistischen Architekten und Stadtplaner prägen Wien bis heute. Sie umfassen ein breites Spektrum, darunter Heil- und Pflegeanstalten, Villen, Kirchen und Wohnhäuser. Es werden häufig radikal neue Materialien wie Beton, Glas und Eisen verwendet, die widerstandsfähig gegen Umweltverschmutzung und Witterungseinflüsse sind und dem wachsenden Hygienebewusstsein der Moderne Rechnung tragen. Die glasierten Platten an Otto Wagners Majolikahaus sind noch dazu, typisch für den Jugendstil, mit farbenprächtigen floralen Motiven verziert.
Musik: Erinnerung für Klavier 0‘45
ERZÄHLERIN
Aber die künstlerisch überragende Größe unter den Sezessionisten ist Gustav Klimt, und er ist auch der erste Präsident der Sezession. Sezession bedeutet Abspaltung; gemeint ist die Abspaltung von etablierten künstlerischen Traditionen und Institutionen wie den Kunstakademien der Zeit. Sezessionen gibt es auch in München und etwas später auch in Berlin. Die Wiener verzichten auf ein Programm. Jeder Künstler geht seine eigenen Wege und knüpft Kontakte zu unterschiedlichen Kollegen in anderen europäischen Ländern, um sie zur Teilnahme an den geplanten Ausstellungen zu bewegen, sagt der Kunsthistoriker Thomas Moser von der Technischen Universität Wien:
02 O-TON DR. THOMAS MOSER:
Diese sehr starke Vernetzung hat auch zu einem Stilpluralismus geführt. Ein Nebeneinander von sehr unterschiedlichen Stilen hat sich auch in der Sezession niedergeschlagen. Es ist eine sehr vielstimmige Bewegung.
Musik: 2. Satz Tempo di Menuetto 0‘31
ERZÄHLERIN:
Die Zeitschrift der Wiener Sezessionisten, die im Januar 1898 zum ersten Mal erscheint, heißt „Ver sacrum“, übersetzt „heiliger Frühling“. Sie ist graphisch sehr aufwändig im Jugendstil gestaltet: geschwungene Linien, florale Formen. Das Titelblatt schmückt ein Bäumchen, dessen Wurzeln den Pflanztrog sprengen.
03 O-TON DR. THOMAS MOSER:
Der Jugendstil leitet sich sprachlich ab von der Zeitschrift „Die Jugend“, die in München verlegt worden ist. Letzten Endes muss man sagen, dass der Jugendstil eine Art Sammelbegriff ist, in Frankreich sind dann andere Begriffe, eben „Art Nouveau“, die neue Kunst, eher üblich. In Spanien ist es der „Modernismo“, in Italien der „Stile Liberti“.
ERZÄHLERIN:
Ver Sacrum stellt Verbindungslinien zwischen bildender Kunst, Literatur und Musik her. Sie versteht sich als Gesamtkunstwerk und propagiert diese Idee: Alle Künste sollen zusammenwirken, damit sich die von Industrialisierung, von ethnischen Spannungen im Vielvölkerstaat und Umbrüchen im sozialen Gefüge getriebene Epoche positiv in ihnen spiegeln und einer erlösten Zukunft zustreben kann.
04 O-TON DR. MONA HORNCASTLE:
Die Sezessionisten wollten nicht schockieren, sondern sie haben sehr stark auf Vermittlung gesetzt, weil sie die Kunst in den Alltag der Menschen bringen wollten. Die Sezessionisten hatten eine Mission und haben daran geglaubt, dass Kunst politisch ist. Weil sie das Leben ästhetisiert oder verfeinert, wie man damals gesagt hat, und damit das Wertesystem der Gesellschaft. Das hehre Ziel der Sezessionisten war also nichts Geringeres als Weltrettung durch Kunst.
Musik: Poem für Klavier 0‘28
ERZÄHLERIN:
1898 organisieren die Sezessionisten die erste Ausstellung, in den Räumen der Wiener Gartenbaugesellschaft.
Gezeigt werden vor allem Werke ausländischer Künstler, die die Wiener noch nie gesehen haben. Die Räume sind kostbar ausgestattet. Jedes Bild kommt gut zur Geltung und korrespondiert mit seiner Umgebung; diese Sorgfalt ist etwas ganz Neues in dieser Zeit. Die Wiener, die in Scharen herbeiströmen, nehmen ein ganzheitliches ästhetisches Erlebnis mit nach Hause. Selbst Kaiser Franz Joseph lässt sich empfangen, kauft aber nichts, hält also Distanz. Doch viele reiche Wiener Bürger wollen die Bilder haben, und anschließend ist genug Geld in der Kasse, um ein eigenes Ausstellungsgebäude in der Nähe des Karlsplatzes zu bauen.
05 O-TON DR.THOMAS MOSER:
Zunächst ist aber geplant gewesen, den Bau für die Sezession am Opernring noch prestigeträchtiger zu platzieren. Das hat allerdings sowohl im Gemeinderat als auch im Kriegsministerium, das wäre gegenüber gewesen und war Besitzer des Baugrunds, zu heftigen Diskussionen geführt. Das Kriegsministerium hat befürchtet, dass seine Ländereien durch die vermeintlich modernistische Verschandelung an Wert verlieren würden, und enorme Preise aufgerufen, so dass als Kompromiss ein anderer Ort gefunden worden ist.
ERZÄHLERIN:
Der Sezessionsbau gilt mit seinen kubischen Formen und seiner auffälligen Kuppel aus vergoldeten schmiedeeisernen Lorbeerblättern
als programmatische Absage an den Historismus und als Paradebeispiel für den Jugendstil in der Architektur. Er ist in moderner Weise zweckgebunden, widersteht aber mit seinem reichen Dekor und den edlen Materialien der funktionalen Nüchternheit des Industriezeitalters. Unterhalb der Kuppel prangt das Motto der Wiener Sezession in goldenen Buchstaben.
ZITATOR:
Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit.
Musik: Ode an die Freude 0‘49
ERZÄHLERIN:
Im Jahre 1902, anlässlich der 14. Ausstellung, bekommt die Öffentlichkeit Klimts Beethovenfries zu sehen, der noch heute im Sezessionsgebäude betrachtet werden kann.
07 O-TON DR. MONA HORNCASTLE:
Beethoven um 1900 – das war ein Superstar. Klimt malt sich an seinem Fries an der 9. Sinfonie entlang. Die hat Richard Wagner als Erster als Gesamtkunstwerk bezeichnet. Das verarbeitet Klimt, und natürlich verarbeitet er auch Schillers Ode an die Freude. Die ist bei ihm im Bild aber nicht nur ein Triumphgesang, sondern das war Beethovens Gassenhauer zu der Zeit. Die Melodie hatte echt jeder im Ohr. Und so hat es Klimt geschafft, ein synästhetisches Gesamtkunstwerk zu schaffen in seinem Fries, und da packt er dann noch ganz viel Zeitgeist rein, weil: Was Klimt da malt, das ist musikalisch, das ist eine kultische Verehrung Beethovens als Genie, und das ist ein existentieller Fiebertraum.
ERZÄHLERIN:
Der Fries, eine zusammenhängende Bilderfolge, zeigt den Menschen, so schildert es Klimts Biografin Mona Horncastle, in seinem Ringen mit Krankheit, Wahnsinn und Tod, mit seiner Sehnsucht nach Glück und Erfüllung, und alles strebt auf das eine triumphale Ziel hin: Freude schöner Götterfunken, die Ode an die Freude. Zwischendrin zeigt auch ein Affe seine Zähne. Möglicherweise erinnert er an die Macht der sexuellen Triebe, die Sigmund Freud aus der Tabuzone geholt hat, möglicherweise auch an Darwins Evolutionstheorie, die im 19. Jahrhundert das Menschenbild und das Naturverhältnis revolutioniert. Die konservativen Wiener Bürger wollen aber durchaus nicht vom Affen abstammen und ärgern sich auch und zum wiederholten Male über Klimts nackte Frauen, weil diese eben nicht so züchtig aussehen wie die nackten Liebesgöttinnen der Kunstgeschichte.
Die Wiener hätten sich mit Klimts nackten Frauen vielleicht ganz gern arrangiert, wenn er sie ausschließlich im Glanz der Jugend dargestellt hätte …
09 O-TON DR. MONA HORNCASTLE:
Aber Klimt zeigt sie eben in allen Lebensphasen. Er zeigt sie jung und alt und schwanger und krank und gebrechlich. Das macht er in seinen symbolistischen Gemälden wie eben auch in dem Beethovenfries immer, weil er das Leben nicht beschönigen möchte und weil das ganz existentiell ist für sein Verständnis des Gesamtkunstwerkes. Na ja, was seine Kritiker aber sehen, ist vor allem das Skandalöse.
ERZÄHLERIN:
Dabei kann Klimt noch ganz anders. Seine Aktzeichnungen hält er zu Lebzeiten sorgfältig unter Verschluss. Mit Frauen, die sich selbst befriedigen, wäre die Öffentlichkeit heillos überfordert gewesen. Es reicht schon, dass Klimt niemals heiratet, aber Liebesverhältnisse mit einigen seiner Modelle unterhält und einige uneheliche Kinder hat.
10 O-TON HORNCASTLE:
Klimt legt diese Zeichnungen immer als Serie an, mit bis zu 15 Blättern, und auf diesen Blättern sehen wir alle Stadien der weiblichen Selbstliebe. Klimt setzt in ihnen der Lust der Frau ein Denkmal und gesteht den Frauen zu, was seine Geschlechtsgenossen ihnen absprechen. Nämlich sexuelle Selbstbestimmung und damit Macht.
Musik: 4. Satz Adagietto 0‘51
ERZÄHLERIN:
Klimt setzt die Frauen auch in seiner Porträtkunst machtvoll in Szene, allerdings ganz anders. Vom Körper sind nur Gesicht und Hände sichtbar, der Rest verschwindet unter ornamentreichen Gewändern, die, flächig gestaltet, mit dem ebenso ornamental gestalteten Hintergrund verschmelzen. Betrachtet man Gesicht und Hände, so findet man einen Zugang zum Seelenleben der dargestellten Frau, man kann sich ihren einzigartigen Charakter vorstellen; während die prachtvolle Ornamentik die allgemeine kulturelle Bedeutung von Weiblichkeit für das Kunstschaffen in Szene setzt und den repräsentativen Charakter des Gemäldes betont.
Diese Porträts sind regelmäßiger Teil der Ausstellungen und Klimts Haupteinnahmequelle. Die Auftraggeber stammen meist aus dem jüdischen Großbürgertum. Natürlich sind nicht alle Wiener Juden reich, es strömen auch zahllose bitterarme Juden gerade aus dem Osten in die Hauptstadt des Kaiserreiches; aber wenn sie reich und gebildet sind, so haben sie oft einen unkonventionelleren Kunstgeschmack, als das katholische Bürgertum, und unterstützen vor allem Klimt, aber auch andere Sezessionisten großzügig mit Aufträgen und ihrer Sammlertätigkeit. Klimt kann sich seine Kunden aussuchen.
12 O-TON DR. MONA HORNCASTLE:
Wenn ihn eine Frau ihn nicht interessiert, dann porträtiert er sie nicht. Das war übrigens nicht ganz günstig. Ein Porträt von Klimt hat so ungefähr 10 000 Kronen gekostet, das entspricht knapp siebzigtausend Euro.
MUSIK: 4 Stücke für Klarinette und Klavier, Nr.3 sehr rasch 0‘38
ERZÄHLERIN:
Um 1900 gibt es Spannungen im Geschlechterverhältnis, denn immer mehr Frauen wollen sich der männlichen Dominanz entziehen und auf eigenen Beinen stehen. Warum wendet die Frau in Klimts berühmtem Bild „Der Kuss“ ihr Gesicht ab und bietet dem Mann nur die Wange dar? Hält sie die Hand des Mannes auf ihrer Schulter fest, um ihn von gewagteren Erkundungen abzuhalten? Will sie Abhängigkeit vermeiden, ihre Souveränität behaupten, bei aller im wörtlichen Sinne kniefälligen Hingabe an den bewunderten Geliebten? Manche Experten erkennen im Antlitz der Frau Klimts enge Gefährtin Emilie Flöge, die als selbstständige Designerin arbeitet. Unter anderem entwirft sie locker fallende, modern gemusterte Reformkleider, um die Frauen von Korsett und Mieder zu befreien, sagt Mona Horncastle.
13 O-TON MONA HORNCASTLE
Die beiden, die Starken, als Liebespaar, haben eine Affäre. Die beendet Emilie aber, weil Klimt notorisch untreu ist. Aber sie bleiben, trotz allem, enge Vertraute, und sie teilen sich auch ihre Auftraggeberinnen. Ihr Atelier lässt sich Emilie Flöge übrigens von der Wiener Werkstätte einrichten, und wenn man eine Tapete der Wiener Werkstätte mit einem Stoffmuster von Emilie Flöge vergleicht, dann sieht man sofort die geistige und auch die ästhetische Nähe.
ERZÄHLERIN:
1903 wird diese Wiener Werkstätte im Umfeld der Sezession gegründet. Sie verbindet die elaborierten Techniken des traditionsreichen österreichischen Kunsthandwerks mit dem Formenreichtum des neuen Jugendstildesigns. Ausgewählte Arbeiten wie zum Beispiel Möbelstücke werden regelmäßig auch auf den Ausstellungen gezeigt. Schließlich hat schon die erste Ausgabe der Zeitschrift Ver sacrum ihren Lesern versprochen, dass die Kunst auch den Alltag der Menschen erhellen solle:
Musik: Sonate für Klavier op 1 0‘32
ZITATOR VER SACRUM:
„Wenn du keine Bilder magst, so wollen wir dir deine Wände mit herrlichen Tapeten schmücken. … Oder willst du ein köstliches Geschmeide, ein seltsam Gewebe, um dein Weib oder deine Geliebte damit zu schmücken? … Wir wollen dir beweisen, dass du eine neue Welt kennen lernst, dass du ein Mitdenker und ein Mitbesitzer von Dingen bist, deren Schönheit du nicht ahnst, deren Süße du noch nie gekostet hast!"
ERZÄHLERIN:
Einer der Gründer der Wiener Werkstätte ist der äußerst vielseitig begabte Koloman Moser, der als Graphiker, Ausstellungsgestalter und Möbel- und Stoffdesigner arbeitet. Moser bereichert den hauptsächlich floral geprägten Wiener Jugendstil um geometrische Formen und lässt sich auch von japanischer Kunst inspirieren. Die Produkte der Wiener Werkstätte sind meist kostbar und teuer.
14 O-TON DR. THOMAS MOSER:
Grundsätzlich ist es so, dass die Idee des Gesamtkunstwerks, die Verschränkung zwischen Kunst und Leben, bis heute ein wichtiges künstlerisches Thema geblieben ist. Man muss aber schon feststellen, dass das Vorhaben, Kunst zu demokratisieren, letztlich als gescheitert zu bewerten ist, weil es sich eben doch um Elitenphänomene gehandelt hat.
ERZÄHLERIN:
Bald werfen große Fabrikanten preiswerte Kopien auf den Markt, und der Jugendstil wird zur Modeerscheinung. Der wachsende Erfolg und die unvermeidliche Kommerzialisierung führen dazu, dass unterschiedliche Kunstauffassungen innerhalb der Künstlervereinigung nicht mehr wie früher integriert werden können, sondern zu heftigen Streitigkeiten führen. Soll man das Kunstgewerbe nicht lieber lassen und sich ganz auf die Malerei konzentrieren, soll man Klimts innovativem Wagemut folgen oder sich doch mehr auf impressionistische und naturalistische Malweisen konzentrieren, die zu dieser Zeit für viele Mitglieder modern genug waren? Vor allem Josef Engelhart, ein damals berühmter Maler und einflussreich im Kreis der Sezessionisten, opponiert gegen Klimts Hang zu Ornament, Ästhetizismus und Abstraktion, und seine Anhänger stimmen ihm zu. Fronten bilden sich, und schließlich treten Gustav Klimt, Koloman Moser, Carl Moll und andere aus der Sezession aus. Diese besteht, mit Unterbrechung durch ein Verbot durch die Nationalsozialisten, bis heute fort und widmet sich der Förderung avantgardistischer Kunst der Gegenwart. Noch heute betont sie ihre Unabhängigkeit, genau wie ihre fest in den Kanon der Kunstgeschichte eingegangenen Gründerväter um 1900. Thomas Moser sagt,
15 O-TON THOMAS MOSER:
„… dass die Sezession als Teil einer sehr viel größeren, auch länger andauernden gesamteuropäischen Entwicklung zu verstehen ist, die Kritik an den etablierten Einrichtungen des Kunstbetriebs geübt hat und eine vehemente Kritik am Kunstmarkt. Das wäre später, soweit kann man sich vielleicht aus dem Fenster lehnen, nicht denkbar gewesen, hätten nicht unter anderem die Wiener Sezessionisten diese Pionierarbeit geleistet.
Musik: Abend auf dem Lande für Klavier 1‘09
ERZÄHLERIN:
Nach 1905 haben die verbliebenen Sezessionisten mit dem Problem zu kämpfen, dass nicht sie selbst, sondern die Abtrünnigen um Klimt die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Klimts Ruhm strahlt inzwischen so hell, dass er keine Gruppe mehr braucht. Klimt ist es auch, der die nachfolgende Künstlergeneration großzügig fördert, Egon Schiele und Oskar Kokoschka vor allem. Ohne das große Vorbild Klimt ist Egon Schieles Werk nicht zu denken, wenn auch Schieles Erkundung von Körper und Seele des verstörten modernen Menschen mit allem Ornamentalen bricht und viel radikaler wirkt. Dazu mag auch der 1. Weltkrieg beigetragen haben, der das Vertrauen in das große Versprechen der sezessionistischen Kunst, die Welt zu einem schöneren und besseren Ort zu machen, nachhaltig erschüttert hat. Der Expressionismus bricht sich Bahn – und mit ihm wird ein neues Kapitel der Kunstgeschichte aufgeschlagen.