Die Zunge - Ein Meisterwerk der Evolution
Beim Salamander ist die Zunge extra klebrig und kann greifen, die Giraffe kann sie in die Länge ziehen, die Schlange mit ihr in zwei Richtungen riechen - und der Schnecke wachsen auf der Zunge kleine Raspelzähne: ein Meisterwerk der Evolution und Inspirationsquelle für Technik und Robotik. Von Katharina Hübel
VON: Katharina Hübel-Gohr
Ausstrahlung am 5.8.2024
SHOWNOTES
Credits
Autorin dieser Folge: Katharina Hübel-Gohr
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Katja Amberger, Sebastian Fischer
Technik:
Redaktion: Bernhard Kastner
Im Interview:
Prof. Kurt Schwenk, Evolutionsbiologe University of Conneticut;
Dr. Wencke Krings, Zentrum für Taxonomie und Morphologie am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels in Hamburg;
Dr. Ian Whishaw, Neurowissenschaftler an der University of Lethbridge
Das wissenschaftliche Paper von Wencke Krings darüber, wie Landschnecken ihre Radula zum Fressen benutzen HIER
Dazu passend ein Video, das Wencke Krings von einer fressenden Schnecke gedreht hat: Youtube
Ein halbstündiges Audio-Interview der Uni Hamburg mit Wencke Krings darüber, wie das Wissen über Schneckenzungen in der Robotik helfen kann HIER
Mehr über Krägtemessung von Schneckenzungen, die Wencke Krings im Labor gemacht hat und Fotoaufnahmen der Radula unterm Rasterelektronenmikroskop: Hier und HIER
Einige Publikationen von Ian Whishaw von der Universität in Lethbridge zu Mäusen und Primaten, die greifen – und was da sonst noch so dran hängt aus neurobiologischer und evolutionärer Sicht:
HIER und HIER und HIER
Den Reptilienzungen hat Kurt Schwenk von der Universität in Conneticut sein Forscherleben verschrieben. Hier sein Buch:
Schwenk, Kurt: Feeding: Form, Function and Evolution in Tetrapod Vertebrates. Academic Press, San Diego. 2000.
Ein Artikel von Kurt Schwenk zum Züngeln der Schlangen (2022): ARTIKEL
Eine Übersicht über seine vielfältige Forschung zu Reptilienzungen inklusive einiger Links und Aufnahmen: HIER
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
OT 01 Overvoice Ian Whishaw
Eigentlich eine lustige Geschichte. Ich trainierte gerade Mäuse darauf, nach Essen zu greifen. Mäuse sind wirklich gut darin. Dabei habe ich bemerkt, dass die Mäuse jedes Mal, wenn sie mit der Hand gezielt haben, ihre Zunge herausstreckten.
Sprecherin
Ian Whishaw, Forscher an der Universität von Lethbridge, ist Neurowissenschaftler und fragt sich bei seinem Laborversuch: Ist das Verhalten der Mäuse nur Zufall? Oder was ist da im Gehirn los? Braucht die Maus etwa die Zunge, um besser greifen zu können – oder weshalb gehen Zunge und Hand einher? Zeigen auch andere Lebewesen ein solches Verhalten? Er schaut sich Videos von Profisportlern an, die mit der Hand zielen. Wie Basketball-Legende Michael Jordan.
OT 02 Overvoice Ian Whishaw
Ich hab etliche Videoaufnahmen von ihm angeschaut. Immer wenn er auf den Korb zielte, um den Ball zu versenken, genau dann hat er die Zunge herausgestreckt. Und wenn er ihn versenkt hat, war die Zunge wieder zurück im Mund. Das war genau das Gleiche, was die Maus in meinem Experiment gemacht hat.
Sprecherin
Ian Whishaw analysiert professionelle Dartspieler. Auch bei ihnen derselbe Befund.
OT 03 Overvoice Ian Whishaw
Das scheint ein sehr übliches Verhalten zu sein – bei Mäusen und bei Menschen, wenn sie etwas erreichen wollen.
Sprecherin
Mit bildgebenden Verfahren und fluoreszierenden Proteinen kann Ian Whishaw Zellen im Gehirn sehen, wie sie miteinander vernetzt sind, welche aktiv sind, wenn die Maus nach etwas greifen will oder gerade die Zunge herausstreckt. Das, was er dabei sieht, lässt ihn nachdenken. Auch über den Menschen. Es wird ihn dazu bringen zu sagen: Die Zunge ist für den Menschen das Zentrum seines Seins. Eines komplexen Seins. Das allerdings vor vielen hunderten von Millionen Jahren noch nicht annähernd so in der Natur existiert hat. Einst sahen die Lebewesen auf dem Planeten Erde ganz anders aus. Manche Arten haben lange Zeit überdauert. Und ihre Zungen haben sich vielfältig entwickelt.
MUSIK
Sprecherin
Schon seit rund 600 Millionen Jahren existieren Schnecken auf diesem Planeten. Sie haben so einiges an Evolution hinter sich. Schnecken gab es bereits lange, bevor überhaupt die ersten Amphibien an Land gekrochen sind.
OT 05 Wencke Krings
Schnecken haben ja leider wenig Liebhaber, es sei denn, es geht um die Meeresschnecken, die bunt sind und die alle cool finden. Es ist halt so das täglich Brot, dass die meisten Menschen Schnecken gar nicht so wahrnehmen.
Sprecherin
… und ihnen erst recht nicht in den Mund und auf die Zunge schauen. Schneckenforscherin Wencke Krings macht aber genau das. Sie arbeitet in Hamburg am Leibniz-Institut. Auch für Forscher war es lange nicht einfach, Schneckenzungen in Bewegung zu untersuchen. Zu verborgen liegen sie im Schlund. Radula ist der Fachbegriff – auch Raspel- oder Reibezunge genannt. Und auf dieser Zunge – das ist das Besondere: Sind viele kleine Zähnchen.
OT 06 Wencke Krings
Schneckenarten lassen sich in den meisten Fällen wirklich anhand von diesen Zähnen unterscheiden. Man kann eine Schneckenzunge unters Raster-Elektronenmikroskop legen. Man kann dann sich die Formenvielfalt anschauen und damit auch Artenbeschreibungen sehr gut machen, weil die sehr unterschiedlich sein können.
Sprecherin
Die Zunge selbst ist relativ kurz. Die Schnecke drückt sie aus dem Schlund wie eine kleine Vorwölbung. Sie ist genau genommen ein Stütz-Polster.
OT 07 Wencke Krings
Da können Knorpelstrukturen drin sein, um Kräfte abzufedern, um die Bewegung der Radula zu koordinieren. Es kann aber auch einfach Bindegewebe sein, was drunter liegt. Es kann auch eine muskulöse Radula sein, also ganz unterschiedlich.
Sprecherin
Wencke Krings lässt Schnecken auf Glasplatten Substrat ablecken und filmt sie dabei mit einer high-speed-Kamera. So kann sie dann ganz nah ran an den Schneckenschlund und den Tieren in Slowmotion auf die Radula schauen. Sie untersucht auch deren chemische Zusammensetzung. Radula-Zähne sind aus Chitin. Anders als Säugetier-Zähne, die aus Kollagen bestehen. Für Wencke Krings liegt es daher nahe zu vermuten, dass Schnecken ihre Zungen-Zähne auch anders einsetzen.
OT 08 Wencke Krings
Und jetzt wird das Ganze kompliziert, weil wir natürlich nicht durch die Nahrung durch filmen können, das heißt, wir müssen Umwege gehen, wenn wir das erforschen wollen. Das hört sich jetzt ein bisschen brutal an, aber die Tiere spüren davon natürlich nichts, weil in den Zähnen sind ja keine Nerven drin (…). Jetzt kann man die Tiere auf Schleifpapier fressen lassen, dabei werden natürlich die Zähne abgenutzt, danach guckt man an den Zähnen: Wo sind die Verschleißspuren. Welche Zähne haben überhaupt Kontakt mit dem Untergrund?
Sprecherin
Bei dem Versuch hat Wencke Krings festgestellt: Schnecken nutzen die Radula-Zähne tatsächlich nicht, um abzubeißen oder zu kauen. Sondern: Um die Zunge zu biegen.
OT 09 Wencke Krings
Das heißt, die Zähne bilden wie so kleine Gelenke und klappen die Radula auf oder halten sie in einer bestimmten Form aufgespannt.
OT 09.2. Wencke Krings
Da kommt natürlich hinzu, dass die Tiere ja keine Hände haben. Mit dem Fuß können die auch greifen, also im Zusammenspiel zwischen Fuß und Mund. Aber viele können die Radula wirklich falten. Und dann große Algen, Fetzen oder Blätter greifen und dann reinziehen.
Sprecherin
Die Zunge ist für viele Schnecken also ein Greifwerkzeug. Die Zähnchen auf ihr ersetzen die fehlenden Knochen und Gelenke, damit das funktioniert. Eine Inspirationsquelle für Ingenieure, die versuchen, das Prinzip für Roboter nachzubauen. Und auch die Materialwissenschaften interessieren sich für die Schneckenzungen. Denn diese haben weitere bemerkenswerte Eigenschaften. Beispielsweise bei Arten, die in Küstenregionen leben.
OT 10 Wencke Krings
… die grasen halt Algen von Steinen ab, das heißt, die leben halt in der Brandungszone und fressen die Algen direkt vom Stein.
Sprecherin
Dabei könnten die Schnecken ihre Zähne schnell abschaben. Das passiert aber nicht. Mit den abgehobelten Algen gelangen nämlich kleine Steinpartikel und damit auch Eisenoxide in die Schnecke, die sich in den Radula-Zähnen einlagern. Dadurch sind diese extrem hart. ((Wencke Krings hat für ihre Promotion Schnecken aus dem afrikanischen Tanganjikasee untersucht. Ein Mekka für rund 50 verschiedene Napfschnecken-Arten, kleine Küstenmuscheln mit häubchenförmiger Schale, die sich auf Steinen, die von Wasser umspült werden, festsaugen.
OT 12 Wencke Krings
Da haben zum Beispiel die ganzen Schnecken, die da leben, gar keine Eiseneinlagerungen, keine Sillikate. Trotzdem können die auf Steinen sitzen und die Algen abfressen, ohne hohen Verschleiß.
Sprecherin
Wie können diese Zungen den Steinen trotzen?
OT 13 Wencke Krings
Da haben wir kleine Kraftsensoren genommen und haben damit – natürlich bei toten Tieren – diese kleinen Zähne auf der Zunge belastet und geguckt, wie die Kräfte aushalten können. Wann brechen diese Zähne?
Sprecherin
Das Ergebnis: Die Zähne der Napfschnecken aus dem Tanganjikasee halten die gleichen Kräfte aus wie die Zähne der Tiere mit Eiseneinlagerungen.
OT 14 Wencke Krings
Das kann man damit erklären, dass sich diese Zähne von den Tieren im Tanganjikasee gegenseitig abstützen können. Die Zähne, die stehen ja so hintereinander auf der Zunge, wenn die jetzt belastet werden, dann können sie sich so biegen und nehmen Kontakt auf. Und genau deswegen, weil sie halt keine Eisenablagerungen haben, sind sie natürlich sehr flexibel.
Sprecherin
Die rund 50 unterschiedlichen Napfschneckenarten haben eine Vielzahl an Schneckenzungen hervorgebracht. Ein ganzes Bündel an Lösungsansätzen für das Problem: Überleben auf algenbewachsenen Steinen.
OT 15 Wencke Krings
Evolutionsbiologen, die an Schnecken interessiert sind, für die sind halt die Pallodomidae ein bisschen das, was die Darwinfinken für die anderen Evolutionsbiologen sind.))
Sprecherin
Doch es gibt noch völlig andere Schneckenzungen. Für Schnecken, die nicht etwa Algen abweiden, sondern Fleischfresser sind. Sie brauchen eine völlig andere Zunge.
OT 16 Wencke Krings
Ein Extrembeispiel wäre Konus. Kegelschnecken, diese hochgiftigen Raubschnecken, die in den Tropen zu finden sind. Die haben nur einen einzigen Zahn, der aktiv genutzt wird. Der wird mit Gift gefüllt. Und dann wird er ausgeschossen aus der Zunge und trifft auf den Fisch. Da gibt es einen kleinen Rückholfaden, da ist so ein kleiner Zahn, der sieht aus wie eine Harpune und wird dann zurückgezogen. Der Zahn ist mit wirklich Dutzenden Toxinen beladen, die direkt wirken bei Wirbeltieren.
Sprecherin
Kegelschnecken zählen aufgrund dieser Harpunen-Zunge zu den gefährlichsten Tieren der Welt. ((Andere räuberische Schneckenarten wie die Wellhornschnecke, die auch in Deutschland an der Nord- und Ostsee vorkommt, hat besonders kräftige und gut klebende Zungen. Sie spucken ihren Speichel auf Muscheln.
OT 17 Wencke Krings
Und dann löst der Speichel genau die Schale der Muschel in dem Moment auf. Dann gehen sie mit ihrer Zunge in die Schale rein und holen das Fleisch raus.))
Sprecherin
80.000 Schneckenarten gibt es vermutlich weltweit. 80.000 verschiedene Zungen, 80.000 verschiedene Arten, in der Welt zu überleben. Eine funktionierende Zunge zu haben, bedeutet Zugriff zur Welt zu haben. Sie ist eine Brücke zwischen Innen und Außen. Ein sensibler Bereich.
OT 19 Wencke Krings
Das ist für mich gerade sehr, sehr spannend vor dem Hintergrund der Meeresversauerung. Das ist gerade das Herzensthema, an dem ich ganz stark arbeite.
Sprecherin
Je saurer das Meer, desto weicher die Zähne der Meeresschnecken. Irgendwann klappen die bisherigen Ernährungsstrategien der Muscheln nicht mehr. Und dann kippt ein ganzes Ökosystem, denn die Schnecken sind nach den Insekten die zweitgrößte Tiergruppe der Welt. Ihre Zungen könnten sprichwörtlich ein Zünglein an der Waage sein.
MUSIK / TRENNER
OT 20 Overvoice Kurt Schwenk
Ich bin zu dem Forschungsfeld gekommen, weil ich nicht nur wissen wollte, wie das genau funktioniert, dass sich Tiere ernähren können, sondern auch: wie sich die Anatomie dazu und die Strategien der einzelnen Tiere entwickelt haben im Laufe der Evolution. Es ist nicht nur eine Zunge, es ist ein komplexes System, über das wir hier reden. Und wenn man auf Reptilien schaut, insbesondere auf Eidechsen und Schlangen, da kann man einen unfassbaren Variantenreichtum sehen. Ihre Zungen sind einfach total verrückt. Und als ich angefangen habe, sie zu erforschen, da hatte keiner eine Vorstellung davon, wie sie sie wirklich benutzen, geschweige denn, wie sich Reptilienzungen entwickelt haben im Verlauf der Evolution.
Sprecherin
Kurt Schwenk ist Evolutionsbiologe an der Universität von Conneticut. Er wäre eigentlich schon im Rentenalter, ist aber noch lange nicht fertig mit seinem lebenslangen Projekt: Reptilienzungen. Er hat viel zu Schlangen geforscht. Die züngeln. Mit gesplitteter Zunge. Sie brauchen diese aber nicht etwa zum Fressen.
OT 20.2 Overvoice Kurt Schwenk
Schlangen sammeln Duftmoleküle mit ihrer Zunge ein; wenn sie etwas mit der Zungenspitze berühren – aber vermutlich können sie auch Duftmoleküle aus der Luft fischen. Wir können das noch nicht beweisen, haben aber Daten, die das nahelegen.
Sprecherin
Die Schlangenzunge ist vorne aufgespalten. Und so wie Menschen mit zwei Ohren hören, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt, kann die Schlange wahrnehmen, aus welcher Richtung ein Duft kommt. Riechen können die Schlangen mit der Zunge jedoch nicht. Das passiert im Inneren des Mauls.
OT 20.3. Overvoice Kurt Schwenk
Die eingesammelten Duftmoleküle werden im Speichel auf der Zunge gebunden. Wenn die Zunge ins Maul zurückgezogen wird, zieht die Schlange den Speichel durch zwei kleine Löcher, die im Gaumen sind, hoch. Das ist wie eine zweite Nase. Wir verstehen momentan noch nicht, weshalb Schlangen zwei Geruchsorgane haben.
Sprecherin
Ein Forscherleben, ein Menschenleben reicht offensichtlich nicht aus, um Reptilienzungen bis ins letzte Detail zu verstehen. Das Organ ist komplex – und all die Prozesse, die damit verbunden sind. Kurt Schwenk interessiert vor allem eine Frage:
OT 22 Overvoice Kurt Schwenk
Wie konnte eine solche Vielfalt entstehen?
Sprecherin
Der erste Schritt zu einer Antwort ist für den Evolutionsbiologen, sich die Mechanismen bei den einzelnen Tieren genau anzuschauen.
OT 23 Overvoice Kurt Schwenk
Ich wollte mal eine Filmaufnahme von einer Eidechse machen, wie sie ein Insekt fängt mit ihrer Zunge. Da war ich frustriert, weil der kleine Mehlkäfer, mit dem ich die Eidechse füttern wollte, einfach immer aus dem Fokus der Kamera gekrochen ist. Dann habe ich den Mehlwurm mit einem klitzekleinen Tropfen Kleber fixiert, ich dachte, er würde sich schon lösen. Die Eidechse streckte also ihre Zunge Richtung Wurm aus, der Wurm blieb erwartungsgemäß an ihrer Zunge kleben, die Eidechse zog daraufhin die Zunge wieder in den Mund ein. Aber der Wurm blieb am Boden kleben, anders als ich es gedacht hatte. Da die Zunge der Eidechse extrem klebrig ist, hat sich der Wurm aber auch nicht von ihrer Zunge gelöst. Dann hat es die ganze Eidechse zum Wurm hin katapultiert, es hat sie durch die Luft hoch geschleudert. Es sah sehr lustig aus. Das hat mir gezeigt, dass die Zunge so sehr am Wurm geklebt hat, dass sie das Gewicht der Eidechse hochheben konnte – und das ist doch schon sehr erstaunlich. Das ist, wie wenn man seine Zunge zu einer anderen Person hinstreckt und man die dann mit seiner Zunge hochheben kann. Das ist, was die Eidechse im Prinzip macht. Das ist schon verrückt. Das war für mich ein Moment, in dem ich viel gelernt habe.
Sprecherin
Was macht die Zunge von Eidechsen so klebrig? Obwohl sie gleichzeitig nass ist?
OT 24 Overvoice Kurt Schwenk
Grundsätzlich basiert das auf einem physikalischen Prinzip, das heißt viskose Adhäsion, so eine Art Nass-Haftung. Wenn man mit seinem Finger etwas aufsammeln möchte und der Finger trocken ist, bleiben kleine Objekte eher schlecht kleben. Befeuchtet man ihn, dann klappt es. Feuchtigkeit schafft eine klebrige Oberfläche, das hat etwas mit der Oberflächenspannung von Flüssigkeit zu tun.
Sprecherin
Der Speichel von Eidechsen ist je nach chemischer Zusammensetzung zähflüssiger und damit klebriger. Zusätzlich haben Eidechsen auf ihrer Zunge kleine Härchen.
OT 25 Overvoice Kurt Schwenk
Wie kleine Fasern, die abstehen. Und jedes dieser kleinen Härchen hat eine kleine Spitze, die wie viele kleine nasse Finger sind und die Nasshaftung verstärken.
Sprecherin
Aus Eidechsenzungen haben sich im Verlauf der Evolution Chamäleonzungen entwickelt. Der Speichel vom Chamäleon ist ein Superkleber und 400-mal zäher als menschlicher Speichel. Die Zunge ist aus gummiartigen Fasern und ultralang: bis zu zweieinhalb Mal so lang wie sein Körper. Das Chamäleon kann seine Zunge spannen, wie ein Katapult aus dem Maul schießen lassen, sie flexibel an die Oberfläche des Opfers anpassen und blitzartig wieder einziehen.
OT 26 Overvoice Kurt Schwenk
Chamäleons können ihre Zungenspitze zu einer kleinen Tasche falten. Die Beute wird da reingezogen. Es sieht dann aus, als ob ein Criquetschläger aus dem Chamäleonmaul herausschaut.
Sprecherin
Auch das Chamäleon kann also aktiv die Form seiner Zunge verändern und mit ihr greifen.
OT 27 Overvoice Kurt Schwenk
Als Evolutionsbiologe ist es sehr vergnüglich, diese vielen verschiedenen Lösungen für ein und dasselbe Problem zu beobachten. Es ist sehr lehrreich, um zu sehen, wie Evolution funktioniert. (…)
In erster Linie gibt es mir ein tieferes Verständnis davon, wie der Druck, sich an eine Umwelt anzupassen, diese faszinierende Vielfalt an Lebewesen und Strukturen hervorbringt, die so wundervoll und kreativ funktionieren.
Sprecherin
Das Problem, von dem Kurt Schwenk spricht: Vor rund 350 bis 400 Millionen Jahren haben sich die ersten Landwirbeltiere entwickelt. Der Gang an Land bedeutete ein Leben in einem neuen Element. Umgeben von Luft herrschten andere physikalische Gesetze als im Wasser.
OT 28 Overvoice Kurt Schwenk
Unsere Vorfahren waren Fische. Auch unter Fischen gibt es verschiedene Taktiken, um an Nahrung zu kommen. Aber im Prinzip nutzen sie Saugkraft. Sie sperren einfach ihr Maul auf, erweitern ihre Kehlen und stellen einen Sog her. Kleinere Lebewesen werden so in ihr Maul gesaugt. An der Luft funktioniert das nicht. Aber es gibt viele Hinweise darauf, dass Landwirbeltiere im Prinzip die gleichen Bewegungen und Skelettstrukturen mit ihren Zungen nutzen wie Fische, wenn sie einen Sog herstellen. Die Zunge ersetzt an Land die Rolle des Wassers, sie kreiert zum einen Bewegung, zum Beispiel von Nahrung Richtung Maul. Und die Zunge leistet noch etwas: Wenn die Beute im Wasser schwebt, muss der Fisch kein Gewicht stemmen. Aber an Land unterliegt die Beute der Schwerkraft. Wenn Du sie fangen willst, musst Du ihr Gewicht tragen. Sie wird nicht einfach in Dein Maul schweben. Das heißt, die muskuläre Zunge muss relativ früh in der Evolution entstanden sein, bevor sich das Leben an Land wirklich ausbreiten konnte.
Sprecherin
Die Zunge ist am Boden des Munds festgewachsen, verbunden mit einer Skelettstruktur, die noch auf unsere Fisch-Vorfahren hindeutet.
OT 29 Overvoice Kurt Schwenk
Die Muskulatur, die bei den Fischen da war, ist bei den Landlebewesen zu einer Zunge expandiert. Der ursprüngliche Muskelbogen der Fische ist aber noch als Relikt da. Beim Menschen liegt er hinter der Kehle; man kann ihn von außen nicht fühlen. (…) Dieser kleine Knochen aus der Fisch-Kehle hat ursprünglich einmal die Kiemen unterstützt. Und unterstützt jetzt die Zunge.
Sprecherin
Eine Zunge, die beim Menschen nicht einfach nur EIN Muskel ist.
OT 30 Overvoice Kurt Schwenk
Ich habe lange ins Mikroskop geschaut, um annährend zu verstehen, welche Muskelfasern da wie verlaufen.
Sprecherin
Die menschliche Zunge ist ein Zusammenspiel verschiedenartiger Muskelfasern: Innere, äußere, von innen nach außen, von außen nach innen, vertikal, quer, über Kreuz verlaufend, in alternierenden Bögen. Muskelfasern, die sich mischen und miteinander verwachsen sind. Mit dieser komplexen Struktur kann die menschliche Zunge auch komplexe Formen annehmen.
OT 31 Overvoice Kurt Schwenk
Das ist wichtig für die Sprache. Die Zunge nimmt komplizierte Formen an, wenn wir sprechen oder verschiedene Geräusche machen. Das ist eben nicht nur Resultat der Lippen, wie der Mund geformt ist oder was in der Kehle passiert. Auch die Zunge verändert die ganze Zeit ihre Form und bewegt sich dabei.
Sprecherin
Eine der komplexesten Aufgaben, die die Zunge übernehmen kann. Doch nicht nur die Zunge muss dazu in der Lage sein: vor allem auch das Gehirn. Neurowissenschaftler Ian Whishaw aus Lethbridge hat das erforscht. Unter anderem, in dem er zugeschaut hat, wie eine kleine Maus die Zunge rausstreckt, während sie greifen will – wie Michael Jordan beim Anpeilen des Basketballkorbs.
OT 32 Overvoice Ian Whishaw
Als die Tiere sich im Lauf der Evolution entwickelten und an Land kamen, entwickelten sie auch zwei verschiedene Strategien, um an Nahrung zu kommen: Die eine ist, die Zunge herauszustrecken und so Nahrung zu greifen. Die andere, nach der Nahrung mit der Hand zu greifen. Manche Tiere wie die Primaten habe beide Strategien vererbt. Das hat uns erlaubt, immer kompliziertere Bewegungen zu machen: sowohl mit der Hand – als auch mit der Zunge.
OT 33 Overvoice Ian Whishaw
Das gibt uns neue Einblicke, wie das Gehirn komplexe Bewegungen zustande bringt.
Sprecherin
Das Gehirn kombiniert beide Bereiche: Hand und Mund. Die Kombination von Gehirnbereichen macht Sprechen mit komplexen Zungenbewegungen überhaupt erst möglich, vermutet Ian Whishaw.
OT 34 Overvoice Ian Whishaw
Wenn Sie schon mal beobachtet haben, dass Menschen ihre Hände beim Reden benutzen, dann ist das ein Beispiel dafür, dass Zunge und Hände gemeinsam benutzt werden, um hörbare Sprache zu produzieren.
OT 35 Overvoice Ian Whishaw
Es geht um die Evolution von Fähigkeiten. Unser Gehirn ist vor allem dazu designed, etwas zu erreichen. Zunächst wollen wir etwas im Geist, dann haben wir gelernt, es mit unserer Zunge zu erreichen, und schließlich mit der Hand. (…) Das legt für mich nahe, dass die Zunge ein Teil des gedanklichen Prozesses ist. Wenn man durch bildgebende Verfahren in das menschliche Gehirn schaut, dann ist die Region, die die Zunge steuert, auch die, in der die Gedanken von dem Vorhaben ablaufen, das wir fassen, um eine Bewegung auszuführen – und zwar eine solche, die dazu dient, etwas zu erreichen.
Sprecherin
Ein Vorhaben fassen, einen Plan machen, Zungenbewegung und die Motorik der Hand – das passiert alles in ein und demselben Areal im Gehirn beim Menschen. Diese Erkenntnis bedeutet für Ian Whishaw: Die Zunge könnte einen Einfluss auf das Denken haben.
OT 36 Overvoice Ian Whishaw
Die Gehirngegend beim Menschen, die für die Zunge zuständig ist, ist vermutlich der fortgeschrittenste Bereich, wenn es um Vorausdenken, Planen und künftige Vorhaben geht.
OT 37 Overvoice Ian Whishaw
Wenn wir darüber nachdenken, wie wir ein Problem lösen können, zum Beispiel ein Kind bei einer schwierigen Mathe-Aufgabe, dann sieht man nicht nur, wie es mit der Hand auf dem Papier arbeitet, sondern auch allerhand Mundbewegungen. Auch die Zunge wird sich bewegen. Wir planen unsere Zukunft also vermutlich, indem wir unsere Zunge mit einbeziehen.
Sprecherin
Das bringt Ian Whishaw dazu zu sagen: Die Zunge ist für den Menschen das Zentrum seines Seins.
MUSIK
OT 04 Overvoice Ian Whishaw
Es ist ein Zentrum des menschlichen Seins in der Hinsicht: wir tun ja nicht die ganze Zeit Dinge, wir handeln ja nicht immer. Manchmal und erstmal haben wir auch einfach ganz stark eine Absicht – so wie die Maus, die die Nahrung greifen möchte. Wir denken viel darüber nach, Dinge zu tun. Wir schmieden meist Pläne, bevor wir etwas machen.
Sprecherin
Die Zunge, das ist das Ergebnis seiner Forschung, hat damit ganz entschieden etwas zu tun, dass uns das gelingt. Denn komplexes Verhalten wie Denken ist vermutlich aus der Hirnleistung entstanden, die ursprünglich dazu da war, die Zunge zu koordinieren.