Fridtjof Nansen - Polarforscher, Zoologe, Diplomat
Fridtjof Nansen - ein Name, der unauslöschlich mit der Geschichte und den Heldentaten der Polarforschung verbunden ist. Dabei wird das dem rastlosen Leben des Norwegers nicht einmal ansatzweise gerecht. Autor: Sebastian Kirschner
VON: Sebastian Kirschner
Ausstrahlung am 18.3.2024
SHOWNOTES
Credits
Autor dieser Folge: Sebastian Kirschner
Regie: Eva Demmelhuber
Es sprachen: Rahel Comtesse, Réne Dumont, Carsten Fabian, Christian Schuler
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Nicole Ruchlak
Im Interview:
Carl Emil Vogt (Norwegischer Historiker);
Geir Klover (Direktor des Fram Museums, Oslo)
Linktipps:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks.
EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
Literaturtipps:
Fridtjof Nansen, Auf Schneeschuhen durch Grönland 1888-1889 (© Edition Erdmann 2016).
Fridtjof Nansen, In Nacht und Eis. Die norwegische Polarexpedition 1893-1896 (© Edition Erdmann 2018)
Marit Fosse & John Fox, Nansen. Explorer and Humanitarian (© Hamilton Books 2015).
Liv Nansen-Hoyer, Mein Vater Fridtjof Nansen. Forscher und Menschenfreund (© Verlag F.A. Brockhaus 1957).
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
SPRECHER/IN
Als Fridtjof Nansen 1887 seine Pläne vorstellt, halten seine Kollegen ihn für verrückt. Die Idee des Norwegers klingt aberwitzig: Im Sommer des nächsten Jahres will er das eisige Grönland durchqueren. Niemand hat bisher diesen Weg geschafft. Keiner weiß, was die Insel im Inneren birgt – einer der letzten weißen Flecken der Landkarte. Ein solches Risiko, nur um zu beweisen, dass Grönland
mit Eis bedeckt ist?
ZITATOR 2
Sollte Nansens Plan in der gegenwärtigen Form in die Tat umgesetzt werden, […] stehen die Chancen zehn zu eins, dass er […] sein Leben und möglicherweise das anderer völlig sinnlos wegwirft.
SPRECHER/IN
urteilt damals die dänische Zeitschrift „Ny Jord“ über die Idee des Wissenschaftlers. Und das nicht ohne Grund, sagt Geir Klover [sprich Gaïr Klöwer]. Er ist Direktor des Nansen-Museums schlechthin: dem Fram Museum in Oslo, benannt nach dem späteren Forschungsschiff Nansens.
01_ZUSPIEL Geir Klover
There's quite a few that have attempted to cross Greenland before Nansen. And all of them had tried from the inhabitant West Coasts. And probably Greenland was steeper and colder and more difficult than they thought.
So there it was quite easy for them to turn back. So Nansen thought his idea to cross Greenland was to go to the east coast to Greenland where there was no population and his ship left. And the only way to survive is to cross over to the west side.
01_ Voice-Over
Etliche hatten vor Nansen versucht, Grönland zu durchqueren. Sie alle waren von der bewohnten Westküste aus gestartet. Wahrscheinlich aber war Grönland steiler, kälter und unwirtlicher als erwartet. Mit den Siedlungen im Rücken konnten sie aber recht einfach umkehren. Nansens hatte die Idee, von der Ostküste Grönlands aus zu starten, wo es keine Bevölkerung gibt. Und der einzige Weg zu überleben ist der durchs Landesinnere zur Westseite.
SPRECHER/IN
Fridtjof Nansen ist zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt. Der junge Mann fällt auf, wenn er durch die Straßen geht. Er trägt sogenannte Dr. Jäger-Gesundheitswäsche: eine Art frühe Funktionskleidung, schlicht, leicht, bestehend aus festen Wollhosen mit einer kurzen Jacke, zugeknöpft auf der rechten Körperhälfte. Und: Anders als die meisten Männer der Zeit ist er nahezu glatt rasiert und ohne Kopfbedeckung unterwegs.
((ZITATORIN (Liv Nansen-Hoyer)
Sein Unabhängigkeitsdrang suchte sich mancherlei Ausdruck. Er wollte nicht „modisch gekleidet“ herumlaufen. In langen, allzu weiten Jacken zu gehen, mit hohen Kragen und Riesenkrawatten, von den langen Mänteln ganz zu schweigen, die einem um die Beine schlenkerten und eine gute Figur völlig verdeckten, das alles schien ihm zu viel verlangt.
SPRECHER/IN
schreibt Nansens Tochter Liv später in Erinnerungen an ihren Vater. Nach einem Zoologiestudium an der Universität von Kristiania, dem späteren Oslo, arbeitet Nansen in Bergen als Kurator am Naturhistorischen Museum. Es ist der erste bezahlte Job nach einem Studium, das er vor allem aus einem Grund gewählt hat: um ein Leben in der freien Natur führen zu können. Nansen ist ein eigensinniger Herumtreiber.)) Noch als Student der Zoologie heuert er für ein fünfmonatiges Praktikum auf einem Robbenfänger an, um seine Abenteuerlust gegenüber den Eltern zu legitimieren – und findet so seine Bestimmung:
ZITATOR 1
Das Eismeer ist etwas für sich, nichts anderem vergleichbar und vor allem nicht dem, was man sich gern darunter vorstellt. Flaches, treibendes Eis in wogenden Schollen, bald grünlichblaue See, dann Nebel und Sonnenschein, Sturm und Stille. Das ist es, was ich fand.
SPRECHER/IN
schreibt Nansen damals in sein Tagebuch. Als ihn der Drang zur Polarforschung packt, ist Nansen gerade dabei, sich erste wissenschaftliche Lorbeeren zu verdienen. Mit einer Doktorarbeit über das Zentralnervensystem wirbelloser Meerestiere wird er sich einen Namen machen – als Pionier in der noch jungen Disziplin der Neurologie. Es ist die Zeit der Theorien Einsteins, der Erfindung des Automobils – und die Zeit, in der die letzten unbekannten Flecken der Welt erschlossen werden... Nansens Abschlussprüfung für seine Dissertation liegt erst vier Tage zurück, als er am 2. Mai 1888 nach Grönland aufbricht. Und er konnte nur vermuten, was ihn und seine Mannschaft in den kommenden Monaten erwartet, sagt Geir Klover:
02_ZUSPIEL Geir Klover
They were not prepared for an extreme physical exhaustion of it. So they didn't have dogs for instance to help them pull the sledges and so on. So quite early in the expedition they starved, were hungry all the time. There was no previous experience really in Norway for doing that type of expedition. So you had to use common sense. They barely made it you know almost starving.
02_ Voice-Over
Sie waren nicht vorbereitet auf eine derart extreme Anstrengung. Sie hatten zum Beispiel keine Hunde, die ihnen die Schlitten zogen. Deshalb litten sie schon bald Hunger. In Norwegen gab es bis dahin keine wirklichen Erfahrungen mit derartigen Expeditionen. Man war auf gesunden Menschenverstand angewiesen. Beinahe verhungert haben sie es gerade so geschafft.
SPRECHER/IN
Dabei hat Nansen sich intensiv vorbereitet. In Expeditionsberichten hatte Nansen von den Strapazen seiner Vorgänger gelesen, Bilder gesehen, auf denen sich feine Herren mit Melonen auf dem Kopf und Gamaschen an den Füßen durch den Tiefschnee mühen. Der junge Forscher will planvoller vorgehen. Seine Mannschaft ist klein, aber wohl ausgesucht: ein Spezialistenteam von nur fünf Mann. Ein jeder zäh, ausdauernd und verlässlich. Nansen verwendet für seine Expedition eigens entworfenes Material, hat etwa spezielle Schlitten bauen lassen. Überhaupt ist für Nansen der Erfolg seines Vorhabens eine Frage der passenden technischen Ausrüstung:
ZITATOR 1
Die Ausführung der ganzen Expedition war auf die Überlegenheit der Schneeschuhe über jedes andere auf Schneeflächen in Anwendung kommende Beförderungsmittel begründet.
SPRECHER/IN
Fast scheint es, als hätten schon seine Kindheit und Jugend Nansen auf diese Reise vorbereitet. Ihn prägt die ländliche Idylle seines Elternhauses nahe Kristiania. Der Sohn einer bürgerlichen Oberschichtfamilie liebt es zu fischen, zu jagen und tagelang durch die ausgedehnten Wälder zu streifen. Seine Mutter, eine geborene Baronesse Wedel-Jarlsberg, begeisterte den Jungen früh für Sport und die Natur, sagt der norwegische Historiker und Nansen-Biograf Carl Emil Vogt:
03_ZUSPIEL C.E. Vogt
She loved nature, skiing etc. So I think that he had his very strong and independent character from his mother actually and his mother's family because his father was more of a pedantic correct Protestant, civil servant and lawyer. So I think the combination of the very protestantic ethos of the duty to do what you have to do etc. and the extremely independent and artistic and nature loving sentiments from his mother, I think that combination of them is very important actually.
03_ Voice-Over
Sie liebte die Natur, das Skifahren usw. Ich denke, dass er seinen starken und unabhängigen Charakter von seiner Mutter und ihrer Familie hatte. Sein Vater war mehr ein pedantischer, korrekter Protestant, Beamter und Anwalt. Also einerseits das sehr protestantische Pflichtbewusstsein, das zu tun, was zu tun ist, und andererseits die äußerst unabhängigen, künstlerischen und naturverbundenen Gefühle seiner Mutter: Ich glaube, dass diese Kombination sehr wichtig war.
SPRECHER/IN
Eigenschaften, auf die es in der Eiswüste Grönlands ankommt. Nansen will sein Ziel unbedingt erreichen, sein Motto lautet: die Westküste oder der Tod. Nach einer abenteuerlichen Odyssee auf Eisschollen entlang der Küste beginnt der Aufstieg über das bis zu 3200 Meter hohe Inlandeis. Auf dem Plateau reist die Expedition nachts. Dann ist es kälter, die Skier und Schlitten gleiten besser.
Geschlafen wird tagsüber – jeweils zu dritt in einem Schlafsack. Das spart Gepäck. Am 8. September 1888 notiert Nansen in sein Tagebuch:
ATMO Windgeheul unterlegen
ZITATOR 1
Der Weg ist unglaublich beschwerlich, schlimmer denn je, obwohl er hart ist; dieser Schnee ist widerspenstig wie Sand. Wir arbeiten gegen den Wind und Schneetreiben an. – Und weiter am 9. September: Es wurde im Laufe des Tages schlimmer mit dem Schneefall, und der Weg wurde schlechter und schlechter
SPRECHER/IN
Hunger und entsetzlicher Durst plagen die Männer. Erst am 26. September erreichen sie die Westküste. 49 Tage Wanderung, 560 Kilometer und harte Entbehrungen liegen hinter ihnen. Zum ersten Mal ist der grönländische Eispanzer in Ost-West-Richtung bezwungen. Doch zurück nach Europa kommen sie vorerst nicht: Wegen des nahenden Winters fährt von Godthåb kein Schiff mehr ab. Einen Eilboten der Inuit kann Nansen noch beauftragen, mit dem Kajak 300 Kilometer nach Süden zu fahren, um dem letzten Transportschiff in Ivigtût [sprich Ivittuut] ihre Erfolgsnachricht mitzugeben. Bis zum nächsten Frühjahr müssen sie bei den Inuit überwintern – aus Sicht von Geir Klover der eigentliche Erfolg der Expedition:
04_ZUSPIEL Geir Klover
So they had to spend the whole winter living with the Inuit in Greenland. And that kind of I think changed his mentality and also became more prepared for a future in exploring Polar Regions. It was the starkest initiation as a polar explorer.
04_ Voice-Over
Sie mussten also den ganzen Winter mit den Inuit in Grönland leben.
Ich glaube, das hat in gewisser Weise seine Mentalität verändert, es hat ihn auf eine Zukunft in der Polarforschung vorbereitet. Das hat ihn auf seinem Weg zum Polarforscher wohl am stärksten geprägt.
SPRECHER/IN
Die Nachricht von der Grönland-Querung läuft in der Zwischenzeit in großen Schlagzeilen um die Welt. Bei Nansens Rückkehr am 30. Mai 1889 empfängt ihn in Kristiania die jubelnde Menge. Tausende wollen Norwegens neuen Helden sehen. Dabei ist Fridtjof Nansen nicht nur der Held und soziale Mensch, als den ihn die meisten seiner Zeitgenossen und seine Nachwelt später gern stilisieren. In seinem Buch „Auf Schneeschuhen durch Grönland“, 2016 in der Edition Erdmann wieder aufgelegt, notiert er, was einer seiner Begleiter ihm vorwirft:
ATMO Windgeheul unterlegen
ZITATOR 1
Hungern müssten sie und würden obendrein wie die Hunde behandelt, es werde mit ihnen herumkommandiert, sie müssten den ganzen Tag vom frühen Morgen bis zum späten Abend arbeiten, schlimmer als Tiere - nein, das wäre nicht zum Aushalten.
SPRECHER/IN
Seine Mannschaft betrachtet ihn als selbstsüchtig, arrogant und launisch. Für Geir Klover nicht ohne Grund:
05_ZUSPIEL Geir Klover
The welfare on the motivation of men was not really Nansens priority. Its priority was more of the science and survival. Nansen didn’t care very much with his men. Every time he was always right. Whatever debate, whatever dialogue – he was always right. And basically I think he felt superior to them. So he did not accept anyone else's input than his himself.
05_ Voice-Over
Wie es mit der Motivation aussah, hatte für Nansens eigentlich keine Priorität. Vorrang hatten für ihn die Wissenschaft und das Überleben. Nansen interessierte sich kaum für seine Männer. Er hatte immer Recht. Egal welche Debatte, welches Gespräch – er hatte Recht. Grundsätzlich fühlte Nansen sich ihnen überlegen. Er akzeptierte keine andere Meinung als die eigene.
SPRECHER/IN
Eine Portion Eitelkeit gehörte zu Nansens Persönlichkeit, notiert auch seine Tochter Liv in ihren Erinnerungen. Angesichts der späteren Erfolge und des Jubels, der Nansen zurück in Norwegen überall entgegenschallte, muss es für ihn auch schwer gewesen sein, nicht an den eigenen Mythos zu glauben. Denn aus Sicht von Geir Klover war Nansen geradeheraus, ein Typ, der sich nur schwer verstellen konnte:
06_ZUSPIEL Geir Klover
Those people have difficulty relating to the feet, to spend a year and a half away, surviving a winter, eating polar bears and shooting Walrus. And then coming back to safety, it was quite unheard of at that time. He was very elegant.
He was good looking. Very good speaker. So he was kind of a poster boy in all different levels, both among the public and then among royalty and scientists and everything.
06_ Voice-Over
Solche Menschen tun sich schwer, auf dem Boden zu bleiben: anderthalb Jahre weg zu sein, einen Winter zu überleben, indem man Eisbären isst und Walrosse jagt. Und wieder sicher zurückzukehren – das war etwas nicht Dagewesenes. Nansen war elegant, sah gut aus, konnte gut reden. Das machte ihn zu einer Art Aushängeschild in der Öffentlichkeit, aber auch am Hof, unter Wissenschaftlern und überhaupt.
SPRECHER/IN
Hochgewachsen, blond, gutaussehend, ein exzellenter Skifahrer und Redner. Mit seinen blauen Augen scheint Nansen immerzu in die unbekannte Ferne zu blicken – und dort zieht es ihn schon bald wieder hin. Knapp drei Monate nach seiner Rückkehr von Grönland heiratet der 27-Jährige die vier Jahre ältere Sängerin Eva Sars. Er nennt sie liebevoll »die beste weibliche Skifahrerin Norwegens«. Ausgerechnet Nansen, der sich lange als entschiedener Gegner der Ehe gezeigt hatte. Er liebt seine Frau, er baut ein Haus, hat fünf Kinder mit ihr – aber eigentlich ist er unfähig zu einem Zusammenleben. Der Polarforscher erweist sich als tyrannischer, launischer Ehemann und Vater – der erstmal nicht für die Familie, sondern seine Arbeit lebt.
AKZENT
SPRECHER/IN
In Nansen reift bereits der Plan zu einer nächsten Expedition. Der Forscher ist sicher, den bis dahin unentdeckten Nordpol erreichen zu können – mithilfe der Eisdecke, die seiner Ansicht nach mit der Strömung nach Norden driftet.
Dazu lässt Nansen eigens ein Schiff konstruieren, das dem Druck der Eismassen standhalten soll: die „Fram“. Mit ihr lässt Nansen sich und seine Mannschaft im Herbst 1893 im arktischen Packeis einfrieren.
ATMO leichtes Windgeheul unterlegen
ZITATOR 1
Montag, 9. Oktober. Nachmittags – wir saßen gerade müßig und plauderten – entstand ganz plötzlich ein betäubendes Getöse und das ganze Schiff erzitterte: Es war die erste Eispressung. Alle Mann stürzten an Deck, um zuzusehen. Die »Fram« verhielt sich wundervoll, wie ich es von ihr erwartet hatte. Mit stetigem Druck schob sich das Eis heran, musste jedoch unter uns durchgehen und wir wurden langsam in die Höhe gehoben.
Diese Pressungen wiederholten sich den ganzen Nachmittag und waren manchmal so stark, dass die »Fram« mehrere Fuß gehoben wurde; aber dann konnte das Eis sie nicht länger tragen und brach unter ihr entzwei. Es scheint hier ziemlich viel Bewegung im Eise zu sein.
SPRECHER/IN
schreibt Nansen darüber in seinem Buch „In Nacht und Eis“. Das Schiff driftet und wird von den Eismassen nicht zerquetscht. Trotzdem verläuft die Mission anders als geplant. Nach zwei Wintern im Eis zeichnet sich ab, die Fram würde den Pol verpassen. Nansen fasst einen waghalsigen Entschluss:
ATMO leichtes Windgeheul unterlegen
ZITATOR 1
Noch immer muss ich warten und die Drift beobachten; aber wenn sie die verkehrte Richtung einschlagen sollte, dann werde ich alle Brücken hinter mir abbrechen und alles auf einem Marsch nach Norden über das Eis wagen.
Ich weiß nichts Besseres zu tun. Es wird gefährlich sein, eine Frage um Leben oder Tod; aber habe ich eine andere Wahl?
SPRECHER/IN
Mit Hjalmar Johansen, einem seiner Begleiter, verlässt Nansen im März 1895 die Fram. Auf Skiern und Hundeschlitten machen sie sich auf den Weg, den Pol zu erreichen. Zum Schiff werden die beiden nie zurückfinden. Doch auch sein Ziel, den Nordpol, muss Nansen knapp über dem 86. Breitengrad aufgeben. Zu beschwerlich ist der Weg:
ATMO Windgeheul unterlegen
ZITATOR 1
Wir wissen weder, wo wir sind, noch wissen wir, wie das enden soll. Inzwischen schwinden unsere Vorräte und mit ihnen unsere Hunde. Werden wir Land erreichen, solange wir noch zu essen haben – ja, werden wir es überhaupt erreichen? Bald wird es unmöglich, gegen dieses Eis und den Schnee noch weiter anzukämpfen.
SPRECHER/IN
Dennoch schafft der Norweger wieder das damals nahezu Unmögliche: Nansen und seine gesamte 12-köpfige Mannschaft kehren nach drei Jahren unversehrt zurück. ((Zu Hause angekommen vermeldet Nansen:
ZITATOR 1
Staatsminister Hagerup. Ich habe das Vergnügen, Ihnen und der norwegischen Regierung mitzuteilen, dass die Expedition ihren Plan ausgeführt, das unbekannte Polarmeer im Norden der Neusibirischen Inseln durchquert und das Gebiet nördlich von Franz-Joseph-Land bis 86°14’ n.Br. erforscht hat. Nördlich von 82° wurde kein Land gesehen. ))
SPRECHER/IN
Nansen und Johansen hatten sich zu Fuß und in Kajaks bis in den Süden von Franz-Joseph-Land durchgeschlagen. Mit einem Versorgungsschiff gelangten sie schließlich zurück Richtung Norwegen. Die Fram hatte derweil die Eisdrift fortgesetzt und nordwestlich von Spitzbergen wieder offenes Wasser erreicht. Im August 1896 kommt es im norwegischen Tromsø zum großen Wiedersehen. Auch wenn Nansen den Nordpol nicht erreicht, so beweist er seine Theorie zur Meeresströmung und kommt dem Pol so nahe wie niemand zuvor. Nansen ist zu diesem Zeitpunkt erst 35. Seine Erfolge machen ihn zu einem der angesehensten Männer des Landes. Gleichzeitig drängen sie den Forscher immer mehr in politische Ämter – auch weil er offensiv für die Unabhängigkeit Norwegens eintritt, sagt Carl Vogt:
08_ZUSPIEL C.E. Vogt
Norway was in a union with Sweden. It was a loose and liberal union. We had only the king, the foreign policy in common but it became more and more clear during the century that Norway wanted its full independence. So these nationalist sentiments were stronger and stronger and Nansen became one of the most important national heroes in Norway. So I guess that was why Norwegian governments started to use him as some kind of an informal foreign minister so to speak.
08_ Voice-Over
Norwegen existierte in einer Union mit Schweden. Zwar einer lockeren, liberalen Union – wir hatten nur den König, die Außenpolitik gemeinsam. Aber im Laufe des Jahrhunderts wurde immer deutlicher, dass Norwegen seine volle Unabhängigkeit wünschte. Diese nationalistische Empfindung wurde immer stärker, gleichzeitig wurde Nansen einer der wichtigsten Helden des Landes. Wohl deshalb hat die norwegische Regierung ihn sozusagen als informellen Außenminister eingesetzt.
SPRECHER/IN
Als solcher handelt Nansen ab 1906 in London die Souveränität seines Landes mit aus. Doch die große Wende in seinem Leben stand Fridtjof Nansen noch bevor: Im Jahr 1907 stirbt seine Frau Eva infolge einer schweren Lungenentzündung. Sechs Jahre später stirbt nach langer Krankheit auch sein jüngster Sohn Asmund. Für Carl Vogt ein Auslöser für Nansens nun folgenden radikalen Karrierewechsel:
09_ZUSPIEL C.E. Vogt
He had lost a son in 1913 so this was some kind of a personal crisis for him. Then came the war and he really had become too old to do this Arctic or polar explorations anymore.
09_ Voice-Over
Er hatte 1913 einen Sohn verloren. Das war für Nansen eine Art persönliche Krise. Dann kam der Krieg und er war einfach zu alt geworden für Polarexpeditionen.
SPRECHER/IN
Die Schrecken des Ersten Weltkriegs und eine drohende Hungersnot in Schweden veranlassen Nansen, sich für einen Platz Norwegens im neu geschaffenen Völkerbund einzusetzen. Dieser beauftragt Nansen im Frühjahr 1920, sich um den Austausch hunderttausender Kriegsgefangener zu kümmern. Auch wenn die Ausgangslage dafür denkbar schlecht war: Aus Sicht von Carl Vogt war Nansen der richtige Mann dafür:
10_ZUSPIEL C.E. Vogt
One has to take into consideration the catastrophe the Great War was for all Europe. It has made a great impact on everybody not at least Nansen. He had another second chance so to speak as a diplomat already during the war. In negotiations in the United States for food provisions to Norway. So when he became high commissioner it was in a situation of total political chaos after the war.
10_ Voice-Over
Man muss bedenken, was für eine Katastrophe der Krieg für ganz Europa war. Das hat jeden stark geprägt, nicht zuletzt Nansen. Schon während des Krieges hatte er sozusagen eine zweite Chance als Diplomat: In den USA verhandelte er die Nahrungsmittelversorgung für Norwegen. Und letztlich herrschte, als er Hochkommissar wurde, totales politisches Chaos nach dem Krieg.
SPRECHER/IN
In einer Rede vor dem Völkerbund sagt Nansen dazu:
ZITATOR 1
Niemals zuvor in meinem Leben bin ich auf so gewaltiges Leid gestoßen, wie dem, zu dessen Linderung ich aufgefordert wurde.
SPRECHER/IN
Bis 1922 können etwa eine halbe Million Kriegsgefangene aus rund 30 Nationen dank Nansen nach Hause zurückkehren. Auch aufgrund eines speziellen, von Nansen erdachten Dokuments, dem später so genannten „Nansen-Pass“. Denn was vielen Flüchtlingen fehlt, ist eine Staatszugehörigkeit . Und das bringt massive Probleme mit sich:
11_ZUSPIEL C.E. Vogt
You do not have citizens’ rights. That's the most basic. But you also have a lot of problems in your daily life. Without paper it is very hard to get a place to live. It is impossible to marry, to baptize your children for instance. And often impossible to have a work and pay taxes. You have a lot of bureaucratic problems in your life. So this is the reason why it became necessary to help these people have a legal status.
11_ Voice-Over
Sie haben keinerlei Bürgerrechte. Das ist das Grundlegendste. Aber sie haben auch viele Probleme im Alltag. Ohne Papiere ist es sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Sie können nicht heiraten oder ihre Kinder taufen. Und oft ist es unmöglich, normal zu arbeiten und Steuern zu zahlen. Sie haben viele bürokratische Probleme. Deshalb war es notwendig, diesen Menschen zu einem legalen Status zu verhelfen.
SPRECHER/IN
sagt Historiker Carl Vogt. Fridtjof Nansen hat seine erste Aufgabe für den Völkerbund kaum angetreten, als man ihn bittet, zusätzlich eine Hilfsaktion für Russland zu leiten. Krieg, Revolution, Bürgerkrieg und zuletzt anhaltende Trockenheit haben das Land ausgedörrt. Knapp 30 Millionen Menschen droht der Hungertod. Doch politisch traut der Sowjetregierung niemand, wieder steht Nansen, als Hoher Kommissar für Flüchtlingsfragen, am Rednerpult des Völkerbunds:
ZITATOR 1
Die Nahrungsmittel liegen in Amerika, aber niemand findet sich, sie zu holen. Kann denn Europa ruhig dasitzen und nichts dafür tun, diese Nahrungsmittel herüberzubringen und die Völker auf der anderen Seite zu retten?
SPRECHER/IN
Aber der Völkerbund verweigert seine Hilfe, politische Interessen überwiegen. Für Nansen eine schwere Niederlage. Trotzdem kann er private Spender und einen Kredit Norwegens organisieren, um den Hungernden zu helfen. Nicht zuletzt für diesen Einsatz erhält Nansen 1922 den Friedensnobelpreis.
AKZENT
SPRECHER/IN
Seinem Einsatz für Flüchtlinge bleibt Nansen weiter treu: Nach Ende des griechisch-türkischen Kriegs 1922 setzt er sich für griechische Flüchtlinge ein. Ab 1925 bemüht er sich darum, die in der Türkei verfolgten Armenier in der Sowjetunion anzusiedeln. Zu den ihm nachfolgenden Polarforschern – Robert Falcon Scott, Roald Amundsen, Ernest Shackleton – hat Nansen bis zuletzt ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits ist er ihr Mentor, sie alle suchen seinen Rat. Andererseits bleibt Nansen immer ihr Rivale. Er hatte selbst Überlegungen für eine Südpolexpedition angestellt.
Und doch überlässt Nansen seinem Landsmann Amundsen für eine Polarexpedition „seine“ Fram. Als Amundsen bei einer Rettungsmission 1928 in der Arktis umkommt, ist Nansen tief betroffen.
Die folgenden Zeilen einer Rede in Erinnerung an Amundsen sind Teil der wohl einzigen Originaltonaufnahme, die sich von Fridtjof Nansen erhalten hat. Sie könnten auch auf Nansen passen:
12_ZUSPIEL Nansen
Aus der großen, weiten Stille wird aber sein Name im Glanz des Nordlichts durch die Jahrhunderte für die Jugend Norwegens leuchten. Es sind Männer mit Mut, mit Willen, mit Kraft wie seiner, die uns mit Glauben an das Geschlecht und mit Zuversicht in die Zukunft erfüllen. Die Welt ist noch jung, die solche Söhne erzieht.
SPRECHER/IN
In seinen Gedanken an Roald Amundsen verneigt sich Nansen vor dessen Leistungen. Für Historiker Carl Vogt liegen die wahren Leistungen bei Fridtjof Nansen selbst:
13_ZUSPIEL C.E. Vogt
His most dangerous expedition was not the one to the North Pole. Of course he could have died there as well. But in 1921 he really went to the famine areas in Russia in the Volga valley and at least one or two of his travel companions died from typhoid fever they had caught on the train with Nansen. So he could easily have died from his engagement actually. So I mean it was really heroic.
13_ Voice-Over
Seine gefährlichste Expedition war nicht die zum Nordpol. Natürlich hätte er dort auch sterben können. Aber 1921 ging Nansen wirklich in die Hungerregionen in Russland im Wolgatal. Und mindestens ein oder zwei seiner Reisebegleiter starben an Typhus, den sie sich im Zug mit Nansen geholt hatten.
Er hätte also leicht durch sein Engagement sterben können. Das war wirklich heldenhaft. (Bitte den letzten Satz so betonen, dass es heißt „Das war wirklich heldenhaft“ (-und eben nicht seine gefährlichen Expeditionen…. ); danke! NR)
SPRECHER/IN
Am 13. Mai 1930 weilt Nansen auf dem Balkon seines Hauses in Lysaker. Im Liegestuhl genießt er den Frühling und den Besuch seiner Familie; mit einem Stapel Arbeit vor sich erholt Nansen sich gerade von einer langwierigen Venenentzündung. Seine Schwiegertochter Kari will ihm einen Tee bringen, als Nansen einem plötzlichen Herzinfarkt erliegt. Als Fridtjof Nansen mit 68 Jahren stirbt, hat er sie allesamt überlebt: Scott, Amundsen, Shackleton... Als Einziger endet er nicht auf einer Expedition. Und doch bleibt der Polarpionier, Diplomat und Friedensnobelpreisträger bis zuletzt unerfüllt und mürrisch, denkt, er habe sich nie im Leben zurechtgefunden.