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Romance forever? Warum Liebesromane boomen

Junge Frauen können ein Lied von den Tücken des Onlinedatings singen. Existieren kluge, einfühlsame und bindungsfreudige Männer überhaupt in der Realität? In der angesagten Literatur-Gattung "Romance" gibt es sie jedenfalls zuhauf. Happy end inclusive. Was den Hype um die Liebesromane vielleicht ein bisschen erklärt. Autorin: Justina Schreiber

Romance forever? Warum Liebesromane boomen | Bild: picture alliance / imageBROKER | Siegfried Kramer
25 Min. | 9.1.2024

VON: Justina Schreiber

Ausstrahlung am 9.1.2024

SHOWNOTES

Credits
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Caroline Ebner
Technik: Christine Frey
Redaktion: Susanne Poelchau

Im Interview:
Nicola Bardola, Schriftsteller und Journalist („Börsenblatt des deutschen Buchhandels“);
Anne Rudolph, Lektorin & Programmleitung Kyss beim Rowohlt Verlag

Literaturtipp:

Nicola Bardola, Bestseller mit Biss. Liebe Freundschaft und Vampire. Alles über die Autorin Stephenie Meyer, Heyne, München 2009 – eine interessante und nützliche Analyse des Twilight-Phänomens.

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Maria Borrély: Mistral - Wiederentdeckung aus der Provence
Ein Bauernhof in der Provence, allen Winden preisgegeben: Hier lebt die junge Marie. Der Vater träumt davon, die Heide umzupflügen. Marie träumt von Olivier. Doch als sie sein Geheimnis herausfindet, gerät alles in Wanken. Die Wiederentdeckung einer Autorin, die André Gide faszinierte und eines Romans von 1930, der von Klimawandel, Natur und Liebe erzählt. Lesung in 5 Folgen mit Katja Bürkle:
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK 1 (Taylor Swift: Love Story 0‘55)

ATMO Menschenmenge

SPRECHERIN:

Der Ansturm ist groß. Sogenannte Lit.Love-Events liegen voll im Trend. Es geht um Liebesliteratur, um moderne Liebesromane. 16- bis 25-jährige Schülerinnen und Studentinnen stehen hier Schlange, um sich Bücher signieren zu lassen. 

(MUSIK kurz freistehend)

Sie besuchen Diskussionsrunden, um ihren Lieblingsautorinnen zuzuhören, die über Selbstfindung sprechen oder über die Schwierigkeit, zeitgemäße erotische Szenen zu verfassen. Junge Frauen interessieren sich also wieder für Bücher, genauer gesagt: für Liebesromane und die Events drumherum. Die heranwachsenden Leserinnen werden von den Verlagen und Buchhandlungen förmlich umworben, sagt der Buchmarkt-Experte Nicola Bardola.

O-TON 01: (Bardola)

„Die hat man als Zielgruppe entdeckt. Man hat festgestellt, dass da ein großes Bedürfnis ist. In der Tat: in dem Alter verabschiedet man sich von den Jugendbüchern und nähert sich der Belletristik, den Erwachsenenbüchern, aber zielgerichtet dafür gab es wenig Literatur.“  

MUSIK 2 (Romantic Homicide 0‘46)

SPRECHERIN:

Bis vor kurzem. Mittlerweile finden die sogenannten „New Adults“, also die „neuen Erwachsenen“, Lesestoff zu Genüge. Die begehrten Titel lauten „Game on – Mein Herz will dich“, „Icebreaker“, „Blue – Wo immer du mich findest“, „Dear Love, I hate you“ oder ein bisschen komplizierter „Love, theoretically“. Oder schlicht: „Herz aus Schatten“ oder „Zeit des Sturms“. Weil auch die Verpackung der dicken rosa- bis lila-pastellfarbenen Paperback-Bücher ihren Geschmack trifft, gibt es für die jungen Kundinnen kein Halten mehr. Sie kaufen sich Bücher, viele Bücher.

O-TON 02: (Bardola)

„Es sind wunderschöne Umschläge, sehr aufwendig produziert, oft noch mit Farbschnitt, mit digitalem Farbschnitt, mit fluoreszierenden Beschichtungen auf dem Umschlag. Und viele junge Frauen kaufen sich diese Bücher ein zweites Mal: eins für die Lektüre und oder um es der Freundin auszuleihen und eins fürs Bücherregal.“

SPRECHERIN:

Ganz klar, die Zielgruppe dieser Schmöker ist weiblich. Junge Männer, sofern sie überhaupt Romane lesen, greifen lieber zu Krimis, Thrillern oder Fantasy-Literatur. Aber eigentlich ist ja die Liebe das klassische Thema von Poesie und literarischer Fiktion. Zahllose Epen, Songs und Dramen handeln vom Sehnen und Nicht-zueinander-finden, von Trennungen und vielversprechenden Küssen. So wie auch die rosa-lila verpackten Liebesromane des 21. Jahrhunderts. Wobei diese zu einem modernen Genre zählen, das „Romance“ genannt wird. Anne Rudolph ist die Programmleiterin der Romance-Reihe „Kyss“ (=Kiss), die der Hamburger Rowohlt Verlag seit 2018 herausgibt. Sie erklärt die Kriterien des neuen Trendgenres:

O-TON 03: (Anne Rudolph) 

„Jede Romance ist ein Liebesroman, aber nicht jeder Liebesroman ist auch eine Romance. Bei Romance haben wir ein relativ klar abgegrenztes Genre, das drei Hauptmerkmale hat: einmal muss die Liebesgeschichte natürlich der Schwerpunkt der Handlung sein. Es geht um zwei Personen hauptsächlich, die dann am Ende zusammenkommen, und das ist das allerwichtigste Merkmal: Am Ende muss ein Happy End stehen. Wenn es eine Liebesgeschichte ist, die aber traurig ausgeht, dann ist das keine Romance, immer noch ein Liebesroman, aber keine Romance.“

MUSIK 3 (Sleep Well 0‘57)

SPRECHERIN:

Janes Stimme vibriert, als sie zum ersten Mal die Haut des anfangs ziemlich verklemmten Politikstudenten Alex berührt. Der junge Mann hat ein Problem. Als Jane den Hintergrund erfährt, bricht ihr – laut Klappentext - das Herz. „Wer fängt dich auf, wenn du fällst?“ fragt ein anderes Buch. Nun, es ist weder der 1 Meter 90 große Liam mit dem unfassbar süßen Gesichtsausdruck noch der ebenso süße, beim Petting unkontrolliert ejakulierende Ian. Es ist wohl eher die Romance selbst, die die junge weibliche Leserschaft auffängt und festhält, um nicht zu sagen: fesselt. 

O-TON 04: (Anne Rudolph)

„Romance-Leserinnen suchen nach Unterhaltung, sie suchen nach Entspannung, und sie suchen auch nach Weltflucht, nach Büchern, die sie wirklich aus ihrem Alltag wegbringen, in die sie sich komplett emotional fallen lassen können und die die Garantie bieten, dass sie am Ende dieses Falls weich aufkommen, nämlich diese Happy End-Garantie am Ende dieser Bücher, also die Lese-Motivation ist ganz klar: Unterhaltung, Entspannung, Weltflucht.“

SPRECHERIN:

In der akademischen Welt, unter Bildungsbürgern spricht man gern von Populär - oder Trivial-Literatur, wenn es um Romane mit vorgezeichneten Schemata geht, die den Massengeschmack treffen. In den Begrifflichkeiten schwingt Abwertung mit, meint Anne Rudolph vom Rowohlt-Verlag:

O-TON 05: (Rudolph)

„Im Kontext von Romance hat das häufig auch noch so einen misogynen Hintergrund. Weil ein Genre, dass von Frauen und nur für Frauen geschrieben wird, fast nur für Frauen geschrieben wird, hat das natürlich immer eigentlich dieses Thema: ach Gott, es geht um Gefühle, und dann geht es auch noch um Sex, das muss ich ja trivial sein. Inwiefern sind Gefühle in irgendeiner Form trivial? Gerade Liebe betrifft uns alle.“

MUSIK 4 (Here With Me 1’12)

ATMO Video (bookstagram)

SPRECHERIN:

Die unzähligen jungen Frauen, die es sich heutzutage mit einer Romance in ihrem Zimmer gemütlich machen, orientieren sich nicht an literarischen Debatten. Sie haben ihre eigenen Instanzen, nämlich die Booktokkerinnen und Bookstagramerinnen, die ihre Leseempfehlungen auf den sozialen Plattformen Instagram oder TikTok posten und eine neue Romance nach der anderen zum ultimativen „Must-Have“ erklären. Das Buch, das vor 20 Jahren für tot erklärt wurde, lebt also munter weiter. Und zwar nicht nur als E-Book. Den Autor und Journalisten Nicola Bardola stimmt der aktuelle Hype deshalb in erster Linie optimistisch.

O-TON 06: (Nicola Bardola)

„Es ist eine Art Lifestyle, also das Buch ist wieder wichtig geworden im Leben junger Frauen. Man findet auf Instagram Filmchen, wie die jungen Frauen in Buchhandlungen gehen und sich beim Stöbern im Regal mit Romance-Büchern filmen und das auch kommentieren. Und wie sie dann auch mit Stapeln von diesen Romance-Titeln die Buchhandlung verlassen.“

SPRECHERIN:

Nicola Bardola beobachtet für das „Börsenblatt des deutschen Buchhandels“ seit Jahrzehnten Trends rund ums Bücher lesen. Der Boom des aus den USA stammende Romance-Genre kam ein bisschen überraschend. Nicht nur Übersetzungen aus dem Englischen, sondern auch Bücher von jungen deutschsprachigen Autorinnen finden hier jetzt reißenden Absatz: 

O-TON 07: (Bardola)

„Das war eigentlich unvorhersehbar und sprengt die Vorstellungskraft aller Buchhändlerinnen, aller Verlegerinnen, weil die Umsätze enorm hoch sind, weil extrem viel gelesen wird, sehr viele Bücher verkauft werden, sehr viele, vor allem Autorinnen, weibliche, Bücher schreiben. Das hat mit vielen Faktoren zu tun, beispielsweise auch mit der Fan-Fiction.“

MUSIK 5 (Carter Burwell: Don’t Choose That 0‘59) 

SPRECHERIN:

Schon vor der Erfindung des Internets schrieben animierte Zuschauer und Leserinnen die Abenteuer ihrer Helden aus Filmen wie „Star Trek“ oder Romanen von Arthur Conan Doyle oder Jane Austen fort. Seit es digitale Plattformen für Selbstveröffentlichungen gibt, bekommt das Phänomen schier unüberschaubare Dimensionen. Der Startschuss für Fan-Fiction im Romance-Bereich fiel Mitte der 2000er Jahre, als die Amerikanerin Stephenie Meyer ihre vier „Twilight“-Romane rund um die Highschool-Schülerin Bella Swan und den Vampir Edward Cullen auf den Buchmarkt brachte. 

O-TON 08: (Bardola)

„Die sind bei uns erschienen unter den Titeln „Biss zum Morgengrauen, Biss zum Abendrot“, Biss geschrieben jeweils mit BIS und dann in Klammern noch ein S dazu, das ist eine Vampirsaga, und da wurde ich zum Twilight-Boy oder sogar zum Twilight-Daddy. Meine Tochter war in dem Lesealter damals, und ich habe da mitgelesen und habe dann eine Monografie geschrieben über das Twilight-Phänomen.“

MUSIK 6 (Danny Elfman: Then Don‘t 0‘48) 

SPRECHERIN:

Zu dem eben auch eine ausufernde Fanfiction gehörte. Neben vielen anderen ließ sich auch die britische Autorin E. L. James von Meyers Twilight-Romanen inspirieren. Mehrfach umgeschrieben und den Wünschen ihrer Online-Fangemeinde angepasst, brachte sie ihre Texte 2011 und 2012 unter dem Titel „Fifty Shades of Grey“ im Taschenbuchformat heraus. James´ erotische Romantrilogie brach alle Rekorde. Allein in Deutschland verkaufte sich die Sado-Maso-Lovestory zwischen der Literaturstudentin Anastasia Steele und dem Milliardär Christian Grey 5,7 Millionen Mal. Und so ging es nach dem Schneeball-Prinzip weiter:

O-TON 09: (Bardola)

„Viele der Leserinnen von damals sind heute Autorinnen von Romance-Titeln.“

MUSIK 7 (Danny Elfman: Shades Of Grey 0‘41) 

SPRECHERIN:

Da ist zum Beispiel Sarah Sprinz: Die 1996 geborene Romance-Autorin lebt am Bodensee und hat allein auf Instagram über 35.000 Followerinnen. Ihr 2023 veröffentlichter Titel „Infinity Falling“ stand, wie ihr vorhergehender Roman „Dunbridge Academy“, auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste für belletristische Taschenbücher. Laut ihrer Homepage liebt Sarah Sprinz Schreibnachmittage im Café, Ahornsirup und den Austausch mit Leserinnen und Lesern in sozialen Medien. Auch die Namen der beliebten amerikanischen Romance-Verfasserinnen Ali Hazelwood und Brittainy C. Cherry tauchen selten in Kulturmagazinen oder Zeitungsfeuilletons auf. Verlage wie Rowohlt, Piper und Aufbau zeigen allerdings keine Berührungsängste mehr. Schmuddel-Image hin oder her: fleißige Romance-Leserinnen und – Schreiberinnen lassen die Kasse klingeln und machen die Produktion von anspruchsvolleren Titeln erst möglich.

O-TON 10: (Bardola)

„Es gibt kaum noch einen Verlag, der nicht Romance veröffentlicht, weil es so gewinnbringend ist. Ein Verlag, der sehr früh damit angefangen hat, vor 20 Jahren schon, das war der Lyx Verlag, der gehört zu Bastei Lübbe, und die sind dabeigeblieben. Und das ist eigentlich der Marktführer, kann man so sagen. Also bei Lyx, L Y X schauen die Mädchen gar nicht mehr auf Titel, Autorin oder so, praktisch der Name ist schon ein Garant für einen guten Romance-Titel.“

MUSIK 8 (Drum & Lace: Your Right To Exist 1‘08) 

O-TON 11: (Anne Rudolph)

„Wobei ich an dieser Stelle unbedingt erwähnen muss: Wir haben einen männlichen Autor im Programm, Dominik Gaida mit seiner Reihe „Brynmor University“. Der schreibt queere dark Academy Romance. Dark Academia also dunkle Akademie, das ist ein Trend, der von TikTok geprägt wurde und ursprünglich eine reine Ästhetik war, also Tweed-Jacketts, dunkle Gebäude, alte Bücher, im Grunde so eine Bildwelt rund um klassische Bildung herum. Das haben inzwischen auch die Amerikaner zeitgleich, aber wir Deutschen im Buchmarkt aufgegriffen und praktisch Geschichten in diesen Welten an Elite-Colleges, klassische Bildung und darin Liebesgeschichten aufgegriffen. Es hat zum Beispiel bei uns Nikola Hotel mit „Dark Ivy“ gemacht, ist auch unser erfolgreichstes Buch bei Kyss.“ 

SPRECHERIN:

Der in der Rowohlt-Reihe „Kyss“ erschienene Roman „Dark Ivy“ von Nikola Hotel erzählt von der jungen Eden Collins, die mit einem Stipendium an die traditionsreiche Woodford Academy kommt. Niemand anderes als William Grantham III., ein ebenso faszinierender wie abweisender Millionenerbe, mit dem Eden bereits aneinandergeraten ist, beobachtet, wie sie... Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen. 

MUSIK 9 (Z8046673103 Julienne Taylor: You Are Not Alone 0‘45) 

SPRECHERIN:

Die Universität als Ort der Sehnsucht. Wie passend. Frauen waren ja lange Zeit von akademischen Zirkeln, öffentlichen Diskursen und politischen Ämtern ausgeschlossen. Was blieb ihnen anderes übrig, als sich fiktive Welten zu erobern? Im 18. und 19. Jahrhundert trafen sich engagierte Leserinnen in privaten Literaturkreisen und Salons. Heute verhindern die sozialen Medien, dass es bei einsamen Lektüreerfahrungen bleibt. Der intensive, tränenreiche Austausch in diversen Chats gibt dem Romance-Boom einen zusätzlichen Kick, meint der Autor und Journalist Nicola Bardola:

O-TON 12: (Bardola)

„Auf TikTok beispielsweise filmen sich Leserinnen von Romance-Titeln beim Weinen, sie erzählen, worum es in diesem Roman geht. Also es ist eine Art positive Kritik dieses Romans. Das Cover ist auch immer sichtbar, und dabei weinen die Leserinnen und erklären, warum sie weinen und sie weinen sogar beim Erklären der Emotionen. Und es beginnt dann damit sogar eine Art Competition, das heißt, die anderen Zuschauerinnen haben dasselbe oder ähnliche Gefühle gehabt beim Lesen und zeigen das auch, also man findet dann zu einzelnen Titeln, die besonders rührend sind, viele Filme von Leserinnen, wie sie weinen in Erinnerung an den Roman, den sie gerade gelesen haben.“

SPRECHERIN:

„Made me cry“, „brachte mich zum Weinen“, bedeutet also: höchstes Lob. „Ich habe während des Lesens so gelitten. Mein Gott, hat mich dieses Buch mitgenommen… Danach war ich emotional echt geschafft.“ Mit diesen Worten feiert eine Bloggerin den Roman „Wie die Stille unter Wasser“ der Bestseller-Autorin Brittainy C. Cherry. Wie schaffen es die unzähligen Romance-Autorinnen bloß, ihr Publikum regelmäßig und wie erwartet aus der Fassung zu bringen? Nun, es gibt einige Kniffe.

O-TON 13: (Bardola)

„Natürlich, wenn jemand stirbt, wenn jemand sich verpasst, unglücklich verliebt ist, oder wenn sich jemand findet, nachdem es so schwierig war, das Verhältnis und sich dann doch in Zuneigung auflöst. Oder wenn eine Blockade da war bei einem Mann oder einer Frau und diese Blockade plötzlich schmilzt und dann können da schon mal die Tränen rollen.“

MUSIK 10 (Conan Gray: Comford Crowd 0’34)

SPRECHERIN:

Bücher können trösten. Das Leben junger Frauen ist kein Ponyhof. Was steht nicht alles auf ihrer Agenda: sich von den Eltern ablösen, sich selbst finden, Geld verdienen, den eigenen Körper akzeptieren, Karriere machen, Spaß haben, an die Umwelt denken, einen Partner finden, entspannt und zugleich achtsam bleiben, nicht verzweifeln. 

Doch wenn man allein an die Tücken und Schrecken des modernen Online-Datings denkt! Wo sind sie eigentlich, all die klugen, einfühlsamen, gutaussehenden und bindungswilligen Jungs oder Männer, von denen frau ja wohl zumindest noch intensiv träumen darf? Ausgehend etwa von Ali Hazelwoods Bestseller „Love, theoretically“. Auf Seite 89 klammert sich die junge Physikerin Elsie, auf einem Klodeckel stehend, gerade an den breiten Schultern von Professor Jonathan Smith-Turner fest. Was treiben die beiden da eigentlich auf der Herrentoilette ihres Instituts?

MUSIK 11 (Allie X: Devil I Know 0’39)

O-TON 14: (Anne Rudolph)

„In den USA gibt es zum Beispiel auch das Subgenre „clean Romance“. Da gibt es keine Sexszenen drinnen. Aber in den überwiegenden Anteilen von Romances kommen auch Sexszenen vor, von dezent wenige bis zu sehr viel, da decken wir die gesamte Bandbreite ab. Wenn man Romance liest, passiert es selten, dass man tatsächlich einen Roman komplett ohne Liebesszenen hat. Da wäre man dann eher beim Liebesroman und nicht mehr bei der Romance.“

SPRECHERIN:

Das Romance-Genre mag stilistisch eher schlicht daherkommen. Klassifikatorisch hat es umso mehr zu bieten. Neben dem zu 100 Prozent garantierten „happy end“ gibt es zahlreiche Subgenres, die das Setting und die Stimmung der Geschichten von vornherein festlegen, sagt die Lektorin Anne Rudolph. Es kann in einer Romance also erklärtermaßen historisch, paranormal, besonders erotisch oder religiös zugehen oder: 

O-TON 15: (Anne Rudolph)

„Zum Beispiel so ein Genre wie cosy Romance, wo „cosy“ schon im Titel des Genres drinnen steht und ganz klar ist, das wird eine total gemütliche Lektüre-Erfahrung, es ist schön, klein, heimelig. Das ist was, was ich wunderbar unter der Kuscheldecke lesen kann und keine Angst haben muss, dass irgendwelche superdarken Themen drinnen vorkommen.“ 

SPRECHERIN:

Romance-Leserinnen müssen keine bösen Überraschungen fürchten – außer sie stehen auf die Subgenres „Romantic Thriller“ oder „Romantic Suspense“. Nein, Spaß beiseite. Auch die Illusion (oder ist es eine Ideologie?), dass es die wahre Liebe zwischen Mann und Frau wirklich gibt, wird nie zerstört. Nicht einmal im Subgenre „umgekehrter Harem“, in der „Revers Harem Romance“, in der die Heldin mehrere Liebhaber gleichzeitig hat. Am Schluss triumphiert immer das romantische Paar. Sogenannte „Tropes“ signalisieren außerdem, wie eine Romance ihre selbst geschaffenen Hürden zu nehmen gedenkt. Tropes sind subgenre-übergreifende, inhaltliche Motive, die das Liebesleben und damit das Glück der beiden Hauptfiguren vorantreiben:

O-TON 16: (Anne Rudolph)

„Da ist zum Beispiel so etwas wie „Enemies to Lovers“. Also eine Geschichte, wo die Liebe als Feindschaft anfängt oder „Friends to Lovers“ wäre ein anderes Beispiel, wo man halt als Freunde anfängt und sich diese Freundschaft zu etwas mehr entwickelt. Oder es gibt so etwas wie „Forced Proximity“ ist ein weiterer Trope, wo die Außensituation so ist, dass sie gezwungen sind, zusammenzukommen, „only one bed“ ist ein Trope, wo sie eingeschneit werden in einer einsamen Hütte zum Beispiel und es eben dann nur only one bed, nur das eine Bett gibt. Sie merken, es ist alles sehr stark vom amerikanischen Markt geprägt. Es gibt auch viele Leser, die haben Lieblings-Tropes, das lesen sie dann sehr gern. Es gibt auch so etwas wie „secret pregnancy“. Das lesen zum Beispiel viele nicht so gerne oder „Secret Baby“, wo dann Schwangerschaft vorkommt und das nicht weiter gesagt wird, ist allerdings tatsächlich auch ein bisschen altmodisch.“

MUSIK 12 (Z8043709104 Lana Del Rey: A&W 0’42)

SPRECHERIN:

Das Romance-Genre gibt sich modern. Die Heldinnen sind angesehene Wissenschaftlerinnen oder Studentinnen, die mit ihren Freundinnen über toxische Männlichkeit und psychische Traumata diskutieren. Oft ergreifen sie beim Flirten und Techtelmechteln die Initiative. Aber wenn es richtig zur Sache geht und Jane Alex endlich die Jeans aufknöpfen kann, dann wird es kompliziert. Dann besteht nämlich akute Nackenbeißer-Gefahr. Die amerikanischen „Nackenbeißer“-Romane, auf Englisch „Bodice Ripper“-, also Miederreißer-Romane, zogen in den 1970er Jahren massenhaft Leserinnen an, die sich an den explizit dargestellten sexuellen Handlungen erfreuten. Dass der literarische Höhepunkt aus einer mehr oder weniger zärtlichen Vergewaltigung der Frau durch den angehimmelten Nackenbeißer oder Miederreißer bestand, fiel erst Jahrzehnte später unangenehm auf. 

O-TON 17: (Rudolph)

„Weil die Sexualnormen damals natürlich noch so waren, dass Frauen nicht Sexualkontakte initialisieren dürfen und sich eigentlich wehren müssen. Und das heißt „Konsens“ war damals also im Grunde nicht existent. Und das hat sich Gottseidank in den 90er-Jahren überholt und gibt es heute, ich will nicht sagen, gar nicht mehr, es gibt furchtbar regressive Stoffe auch heute noch, aber im Allgemeinen kommt das heute im Genre nicht mehr vor.“

MUSIK 13 (M0082974119 Drum & Lace: Something In Return 0’37)

SPRECHERIN:

Was im Idealfall bedeutet: Sobald Jacks heiße Lippen Elsis hohe Wangenknochen streifen, verhandelt das Paar zwischen Seufzern und Stöhnen erst einmal ein paar Fragen: Bestehen Geschlechtskrankheiten?  Nimmt sie die Pille? Wo ist ein Kondom? Will sie „es“ wirklich? Ungelogen? Und das auch?? Jeder Schritt wird abgesichert, damit „er“ trotz seiner - durch die wahre Liebe zur Protagonistin - extrem gesteigerten Erregung bloß nicht als übergriffig erscheint. Ein heikler Akt. Denn die Lust, vor allem die weibliche, darf ja nicht abflauen. Was vielleicht das mächtige Format der männlichen Geschlechtsteile in Ali Hazelwoods Bestsellern erklärt - um nur ein Beispiel für all die unreflektierten Stereotypien zu nennen, die Lektorate den schnell produzierten Texten durchgehen lassen. Das Label oder Subgenre „feministisch“ bewahrt Romance-Leserinnen also nicht zwangsläufig vor Sexismen. Die Jugend zu schützen, sei schwierig, sagt der Buchmarktexperte Nicola Bardola. 

O-TON 18: (Nicola Bardola)

„Niemand hat den Überblick, man kann sich über diese immense Buchproduktion gar keinen Überblick verschaffen. Die Autorinnen schreiben zum Teil einen Roman pro Monat, und das ist ihr festes Einkommen, die sind mit einer unglaublichen Verve bei der Sache. Das flutscht nur so dahin, und das ist eine gewaltige Produktion, die wir inhaltlich nicht überschauen können.“

MUSIK 14 (M0082974108 Drum & Lace: Get Into Her 1‘03)

SPRECHERIN:

Deshalb mangelt es bisher wohl auch an wissenschaftlichen Analysen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. „Das Männerbild der modernen Romance“ wäre eine attraktive Fragestellung. Oder: „Die metoo-Debatte im Spiegel der Unterhaltungsliteratur“. Trotzdem freut sich der Buchmarkt-Experte letztlich über den Boom:

O-TON 19: (Nicola Bardola)

„Insgesamt befürworte ich diese Romance-Bewegung sehr. Wir bekommen sehr viele Leserinnen, und oft ist es ja so, auch schon bei den frühen Leseerfahrungen, das ist eher einfache Stoffe sind, und später greifen wir zu etwas anspruchsvolleren Büchern. Und insofern ist das absolut begrüßenswert. Romance ist für den Buchmarkt, für die Leserinnen, für die Autorinnen eine fantastische Sache.“

SPRECHERIN:

Also gibt es auch hier jetzt ein „happy end“!

Radiowissen | Bild: Getty Images / BR
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