Dschihad im Klassenzimmer Beratungsstellen warnen vor "Hasskindern" von Salafisten
Immer wieder wurde in den letzten Jahren über Jugendliche berichtet, die zu Salafisten wurden und nach Syrien zum Kämpfen ausgereist sind. Zum Entsetzen ihrer Familien, denn häufig radikalisieren sich Jugendliche, die ohne Religion aufgewachsen sind. Nun aber taucht in Beratungsstellen ein neues Phänomen auf: Eltern, die selber radikal sind und ihre Kinder indoktrinieren.
Von: Joseph Röhmel
Stand: 20.10.2017
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Jugendliche, die zu Salafisten werden und nach Syrien gehen, sind das eine. Nun aber taucht seit einigen Monaten in Beratungsstellen ein neues Phänomen auf: Eltern, die selber radikal sind und ihre Kinder indoktrinieren. Das hat Folgen: Denn diese Kinder stören den Unterricht, beschimpfen Lehrer und Klassenkameraden als Ungläubige und träumen vom Dschihad. Manche dieser Kinder und Jugendlichen landen in Syrien.
BR-Autor Joseph Röhmel ist auf einen Fall aus Bayern gestoßen. Es ist die Geschichte von zwei Schwestern aus einer türkischstämmigen Familie. Ihre Lehrer konnten jahrelang beobachten, wie die strenggläubigen Eltern die beiden Mädchen indoktrinierten. Die eine lebt inzwischen in einem anderen Bundesland und hat einen Mann geheiratet, der mit Dschihadisten sympathisiert. Die andere Schwester ist nach Syrien gegangen und hat sich dort einer Terrorgruppe angeschlossen.
Jahrelange Indoktrination
Der Ethiklehrer war Zeuge der Radikalisierung. Anonym schildert er dem Bayerischen Rundfunk seine Erlebnisse:
"Eine der Schwestern hatte großes Vertrauen zu mir und bat mich Mitte der 8. Klasse um Hilfe. Sie schilderte ihre Lebenssituation als Gefangene, die weder einen eigenen Willen noch Freiheiten besaß. Als Lösung bot ich ihr an, dass sie offiziell für zwei Stunden pro Tag 'Förderunterricht' bekäme, um über das Internet chatten zu können. Das durfte zwar jeder Mann in der Familie, den Mädchen aber wurde das strikt verweigert."
Ethiklehrer, anonym
Vater verweigert Handschlag, Mutter nennt Lehrer "Nazi"
Nachdem der Lehrer der Jugendlichen ermöglicht hatte, mit ihren Freunden zu chatten, suchte er das Gespräch mit den Eltern - gemeinsam mit einer Kollegin. Die Mutter kam voll verhüllt. Der Vater verweigerte der Kollegin den Handschlag. Auf den Hinweis, dies sei in Europa ein Akt der Unhöflichkeit, erwiderte der Vater kühl, das interessiere ihn überhaupt nicht, sein Gesetz sei der Koran und der Handschlag mit einer unreinen Frau ein Tabu. Alles andere als der Koran interessiere ihn sowieso nicht. Die Mutter, so die Schilderung des Lehrers weiter, sagte, es gehe nicht, dass Mädchen und Jungen in einer Klasse säßen. Als sie das Klassenzimmer verlässt, zischt sie zum Lehrer: "Du Nazi."
Dschihad als Befreiung vom Würgegriff der Eltern?
Dominante und strenggläubige Eltern, die Lehrer beschimpfen und ganz offen zeigen, dass sie die westliche Lebensweise ablehnen. Ist das die Grundlage für eine Radikalisierung? Der Auslöser dafür, dass eines der Mädchen in Syrien gelandet ist? Für den Ethiklehrer vorstellbar. Er sagt, der Weg in den Dschihad sei für die damals 17-Jährige fast schon eine Befreiung vom Würgegriff der Eltern gewesen. Nach dem Elterngespräch erinnert sich der Ethiklehrer:
"Sie entschuldigte sich unter Tränen für den Auftritt ihrer Eltern. Und sie war mir unbeschreiblich dankbar, dass ich ihr anderthalb Stunden Freiheit im Internet gewährt hatte."
Ethiklehrer, anonym
Kinder zwischen zwei Welten
Die Psychologin Marianne Rauwald leitet das Institut für Traumabearbeitung und Weiterbildung in Frankfurt am Main. Sie betrachtet die schriftlichen Aufzeichnungen des Ethiklehrers der beiden türkischstämmigen Mädchen.
"Ich glaube, er wollte dem Mädchen wirklich helfen. Vermutlich denkt er, dass er ihr am besten hilft, indem er sie ans 'westliche Ufer' zieht. Die Freiheiten mit dem Internet, die Möglichkeiten, einen Freund zu haben. Was er dabei übersieht, ist, dass das Kind zwischen zwei Welten steht. Und dass man es nicht einfach rüberziehen kann. Denn dann verliert es seine Herkunftsfamilie komplett."
Marianne Rauwald, Psychologin
'Erziehungstipps' von Hasspredigern
In einem Online-Video gibt Abdellatif Rouali – eine zentrale Figur der Salafisten-Szene im Rhein-Main-Gebiet - "Erziehungstipps" für Gleichgesinnte. Schlagen gehört für ihn ganz offensichtlich dazu. Ab zehn Jahren dürfe man Jungen schlagen, aber so, dass man sie nicht 'kaputt' mache. Genauso wie Frauen - aber nicht so, dass sie eine Beule bekämen.
Häufung der Fälle
Salafismus-Experten registrieren eine Häufung derartiger Fälle in den letzten Monaten. Das berichtet die in Nürnberg angesiedelte Radikalisierungs-Hotline des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Vermehrt melden sich dort Lehrer und Schulpsychologen aus ganz Deutschland, denen Schulkinder mit islamistischen Tendenzen auffallen. Ein neues Phänomen sei das, sagt Florian Endres, Leiter der dortigen Beratungsstelle. Kinder haben demnach eindeutige Propagandavideos auf ihren Smartphones. Sie bezeichnen den Anschlag auf den Breitscheidplatz in Berlin als 'völlig legitim', der Attentäter solle seine Belohnung im Paradies bekommen. Auch komme es vor, dass Schüler entsprechend versuchen würden, an ihren Schulen zu missionieren. Gefragt sind in diesem Fall Beratungsstellen, die sich direkt vor Ort um solche Fälle kümmern und mit denen die Stelle im Bamf kooperiert.