Debatte zur "Situation in Deutschland" Bundestag zieht Bilanz der Legislaturperiode

Norbert Lammert verabschiedet sich mit zwei dringenden Bitten, Angela Merkel sorgt unfreiwillig für Heiterkeit und lässt ihrem Unmut ungewohnt freien Lauf, die SPD gratwandert zwischen Regierungs-Lob und –Kritik – frisch und munter zieht der Bundestag die Bilanz der Legislaturperiode.

Von: Achim Wendler

Stand: 05.09.2017 | Archiv

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So eine Gelegenheit lässt man sich natürlich nicht entgehen als Abgeordneter, 19 Tage vor der Wahl. Die Kanzlerin hat gerade über Digitalisierung gesprochen, über die Türkei, über die Bundeswehr, nun sagt Angela Merkel: "So, meine Damen und Herren, jetzt nur noch kurz, weil meine Zeit so gut wie vorbei ist …". Da bricht Gelächter los. Klar, die Kanzlerin meint natürlich ihre Redezeit. Aber es ist Wahlkampf, und wer Angriffsfläche bietet, wird angegriffen. Das belebt nicht nur diese Debatte, sondern auch Angela Merkel. Offen wie selten lässt sie ihrem Unmut über das Gelächter freien Lauf: "Mein Gott! Wie weit sind wir eigentlich gekommen? Leute! Komm!"

Union ist mit der Bilanz der Legislaturperiode zufrieden

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"Die Situation in Deutschland" ist diese Bundestagsdebatte überschrieben, eine parlamentarische Bilanz der Legislaturperiode. Die Union ist zufrieden. So viele Beschäftigte wie noch nie, eine starke Wirtschaft – Deutschland ernte in Europa Anerkennung, bilanziert Merkel. "Wir werden beneidet", sagt Finanzminister Wolfgang Schäuble. Und CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt war auch schon mal weniger zufrieden als heute, bei ihrer letzten Rede im Bundestag: "Wir haben erfolgreich regiert."

SPD ist auch zufrieden - aber nur mit der eigenen Partei

Die SPD sieht das im Grunde genauso. Die große Koalition habe viele Vorhaben umgesetzt. Er sei stolz, sagt Fraktionschef Thomas Oppermann. Schnell wird aber klar, auf wen er wirklich stolz ist: nicht auf die Koalition, sondern auf die SPD. Sie sei der Motor der Regierung gewesen. Die Union dagegen habe Projekte, die mehr Gerechtigkeit bringen sollten, "bis zur Unkenntlichkeit beschädigt". Die Mietpreise zum Beispiel. Das Kooperationsverbot, an dem die Union festhält, nennt der Fraktionschef einen "unseligen Anachronismus".

Die Debatte ist eine Gratwanderung für Oppermann und die anderen Sozialdemokraten. Immer wenn sie die "Situation in Deutschland" kritisieren und sich dabei umdrehen zur Regierungsbank, sehen sie dort auch eigene Leute.

Cem Özdemir greift Dobrindt an

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Cem Özdemir hat dieses Problem nicht. Der grüne Spitzenkandidat lässt kein gutes Haar an der Regierungsarbeit. Besonders Verkehrsminister Alexander Dobrindt greift er an. Der CSU-Politiker habe fast alles verschlafen, den Diesel-Skandal ebenso wie die Modernisierung der Deutschen Bahn. "Wir sind im 21. Jahrhundert, Herr Dobrindt! Es wird Zeit, dass der Fortschritt auch auf der Regierungsbank ankommt!"

Die Linke prangert Rückgang der Einkommen an

Die Linke Sahra Wagenknecht wirft der Union und ihrer Kanzlerkandidatin Wählertäuschung vor. Angela Merkel erzähle, Deutschland ginge es so gut wie nie, aber 40 Prozent der Menschen hätten weniger Einkommen als Ende der 90-er Jahre. "Gehört für Sie fast die Hälfte der Bevölkerung nicht zu Deutschland? Was ist denn das für eine Anmaßung!" Wegen solcher Sätze wird Gerda Hasselfeldt später übrigens doch noch, bei aller Zufriedenheit, der Kragen platzen.

"In welchem Land leben Sie eigentlich? Von welchem Land reden Sie?"

Gerda Hasselfeldt, Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag

Gerda Hasselfeldt Bild: picture-alliance/dpa

Dabei lässt auch die Union keinen Zweifel daran, dass es "viel zu tun" gebe, wie Merkel es immer wieder sagt in diesem Wahlkampf. Als wichtigste Aufgaben hatte sie in ihrer Rede aber nicht die Geringverdiener genannt, sondern die Digitalisierung beschrieben und den Einstieg in die Zukunft des Automobils.

Norbert Lammert äußert zwei dringliche Bitten zum Abschluss

Norbert Lammert Bild: picture-alliance/dpa

Während Merkel sprach, saß hinter ihr, wie so oft in den letzten zwölf Jahren, Norbert Lammert. Seit 2005 ist der Christdemokrat Parlamentspräsident. Jetzt tritt er nicht mehr für den Bundestag. In seiner Abschiedsrede platzierte er zwei dringliche Bitten: Die Abgeordneten sollten ihre Kompromissfähigkeit auch künftig über den üblichen Konkurrenz-Reflex stellen. Und an die Bürger richtete Lammert den Aufruf:

"Nehmen Sie bitte das Königsrecht einer Demokratie, aller Demokraten, in regelmäßigen Abständen selbst darüber befinden zu können, von wem sie regiert werden wollen, so ernst, wie es ist!"

Norbert Lammert, Bundestagspräsident (CDU)

Er hätte auch sagen können: Gehen Sie wählen am 24. September! Aber Lammert gilt nicht umsonst als einer der besten Redner des Landes.