Ehrenamt in München Die Entwicklung der "Willkommenskultur"
Tausende freiwillige Helfer unterstützten im vergangenen September am Münchner Hauptbahnhof zehntausende Flüchtlinge nach der Ankunft. Die spontane Hilfsbereitschaft wurde zur „Willkommenskultur“. Wie viel ist davon geblieben?
Von: Christian Orth
Stand: 27.08.2016
Der Turm der Wasserflaschen glänzt in der Sonne. Neben ihm parken fünfzehn große Wagen, vollgepackt mit T-Shirts, Hosen, Blusen, Jacken und Pullis. Auf dem Boden sitzen ein paar braune Teddybären, verstreut sind hunderte Zahnbürsten. Drumherum das orangegelbe Meer der Helfer. Willkommen auf der Insel der Hilfsgüter.
Helferin der ersten Stunde
Bild: picture-alliance/dpa
Der September 2015 ist keine gewöhnliche Zeit am Münchner Hauptbahnhof. Es herrscht Ausnahmezustand. Allein zwischen dem 31. August und dem Start des Oktoberfests am 19. September kommen rund 80.000 Schutzsuchende aus Syrien und Afrika nach langer Reise in der Landeshauptstadt an. Teilweise zehntausend Menschen an einem Tag. Hunderte Münchner überlegen gar nicht lange, fahren zum Bahnhof, helfen.
Marina Lessig ist vom ersten Tag an dabei. Sie liest im Internet davon, dass tausende Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Deutschland am Budapester Bahnhof festgehalten werden. Als klar wird, dass die ungarische Polizei nicht mehr lange dagegenhalten wird, macht sie sich sofort auf den Weg. Vor Ort stellt die 27-Jährige schnell fest, was am stärksten gebraucht wird: Struktur. Denn so bereitwillig auch viele Münchner die Spenden zum Hauptbahnhof bringen – es gibt viel zu wenige Informationen darüber, was aktuell benötigt wird und was nicht.
Hilfe durch Eigeninvestition
Spontanhelferin Marina Lessig.
Bild: privat
Marina ist durch ihre ehrenamtliche Tätigkeit beim Kreisjugendring gut vernetzt. Sie spricht mit dem Stadtjugendamt, das bereits in einem Stab mit Vertretern verschiedener Initiativen und der Polizei über das Krisenmanagement diskutiert – und wird kurzerhand zur inoffiziellen Helfer-Koordinatorin ernannt. Von ihrem eigenen Geld kauft sie Zelt, Laptop, Flipchart und Diensthandys mit Prepaid-Funktion, um in der Nacht einen Infostand am Starnberger Flügelbahnhof zu errichten. Als am nächsten Tag rund 10.000 Flüchtlinge ankommen, beginnt ein Leben im 24-Stunden-Einsatz.
Warnwesten als Helfer-Symbol
Sie informiert Bürger, nimmt Spenden entgegen und an Sitzungen des Krisenstabs teil. Gleichzeitig erstellt sie Schichtpläne für die Flüchtlingshelfer. Zwischendurch schreibt sie auf den Flipchart, wie viele Menschen aktuell ankommen, welche Formen von Spenden benötigt werden. Und sie verteilt eben auch jene orangen und gelben Warnwesten, die zum Symbol der Helfer geworden sind. Maximal 20 Freiwillige dürfen gleichzeitig helfen, polizeiliche Anweisung. Vier Stunden dauert eine Schicht. Das hat sie so festgelegt.
"Es gab viele Leute, die sich völlig aufgearbeitet hätten. Die musste ich vor sich selbst schützen."
Marina Lessig, ehrenamtliche Helferin
Die spontane Hilfe funktioniert. Allerdings wird die Organisation bereits nach wenigen Tagen schon wieder um einiges komplizierter.
"In der ersten Woche gab es ein paar richtig tolle Standort- und Schichtleiter, die dann gesagt haben: Das war schön, aber ich bin jetzt dann weg."
Marina Lessig
Ehrenamtliche Hilfe trotz Vollzeitjob
Die Unverzichtbaren versucht sie mit einer ehrenamtlichen Aufwandsentschädigung zum Bleiben zu überreden. Aber viele winken ab: Der Urlaub ist vorbei, das Studium geht los, die Familie braucht Zeit – oder es wird ihnen einfach zu viel. So wie Mira Meier (Name von der Redaktion geändert). Die 31-jährige Münchnerin mit pakistanischen Wurzeln hilft von Anfang an freiwillig mit, denn sie weiß, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein.
In der Unterkunft in der Messestadt arbeitet sie in den ersten Wochen – neben ihrem 40-Stunden-Job – als Übersetzerin, in der Kinderbetreuung, beim Einsortieren von Kleidung – im Prinzip ist sie das Mädchen für alles. Doch obwohl ihr vor allem die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen großen Spaß macht, merkt sie nach einigen Monaten, wie kräftezehrend freiwillige Flüchtlingshilfe sein kann. Auch persönlich verlangen ihr einige Flüchtlinge zu viel ab, kontaktieren sie ununterbrochen, bis sie nicht mehr will - im März 2016 ist Schluss.
Dass nicht jeder freiwillige Helfer dabei geblieben ist, findet Marina Lessig nicht schlimm. Rückblickend lobt sie alle Helfer in den höchsten Tönen. Doch auch den Zeitpunkt der Flüchtlingskrise hält sie für glücklich.
"Viele Münchner sind gerne in den Ferien hier. Die hatten Zeit und es war mal was los."
Marina Lessig
Bild: picture-alliance/dpa
Das belegen auch die Zahlen der Caritas München, die im Namen der Stadt die Webseite „Willkommen in München“ und eine Telefonhotline betreut. Allein über die Webseite meldeten sich im August und September 2015 rund 1.000 Ehrenamtliche. Das entspricht rund einem Drittel der Anfragen des gesamten Jahres. Über die kostenlose Hotline waren es sogar noch ein wenig mehr.
Verlässliche Zahlen gibt es nicht
Wie viele Menschen in München letztlich geholfen haben, ist unbekannt. Wie viele aktuell noch helfen ebenfalls, denn das ehrenamtliche Engagement wird von der Stadt bisher nicht erfasst. Laut Margit Waterloo-Köhler, Leiterin des Bürgerschaftlichen Engagements für Flüchtlinge bei der Caritas München, hat das vor allem zwei Gründe: Zum einen ist schwer zu definieren, was eine ehrenamtliche Tätigkeit überhaupt ist, also in welchem Rahmen und Zeitraum sie stattfinden muss. Zum anderen sind viele der aktiven Helferkreise lose Netzwerke mit wechselnden Personen. Hier den Überblick zu behalten, ist praktisch unmöglich. Rund 60 Initiativen sind aktuell in einem „Kompetenz-Netzwerk“ organisiert. Doch die Flexibilität der Helfer ist für sie kein Nachteil.
"Wir haben uns da super ergänzt. Die Jungen haben über Social Media innerhalb kürzester Zeit so viele Leute erreicht. Und wir konnten unsere Erfahrung einbringen."
Margit Waterloo-Köhler, Leiterin des Bürgerschaftlichen Engagements für Flüchtlinge bei der Caritas München
Helferzahlen steigen stetig
Auch Elif Beiner, Ehrenamtskoordinatorin des Münchner Flüchtlingsrats, erinnert sich gerne zurück: "Das war schon der Hammer damals! Da haben die Leute ja wirklich geholfen, ohne zu schlafen." Zwei Informationsabende hat sie im letzten Herbst pro Woche geben müssen, rund 60 Interessenten haben jeweils daran teilgenommen. Normalerweise sind es 25 Personen – im Monat. Allein 500 Menschen hätte der MFR im vergangenen Jahr an Flüchtlingsprojekte im Stadtgebiet vermittelt. Bis zum November 2015 sei die Zahl der Ehrenamtsanfragen für den MFR „absolut nicht bezwingbar“ gewesen.
Bei Sprachpartnerschaften beispielsweise warteten mehr als hundert Ehrenamtliche auf einen Flüchtling. Das frustrierte viele. Sie meldeten sich nicht mehr. Inzwischen ist die Situation bei den Sprachpartnerschaften wieder umgekehrt. Das liegt für Elif Beiner auch am veränderten gesellschaftlichen Klima.
"Es ist nicht mehr so angesagt, sich für Flüchtlinge zu engagieren. Doch die Probleme der Flüchtlinge fangen gerade erst an. Die Integration auf dem Arbeitsmarkt, die Jobsuche, da gibt’s so viele Sachen, bei denen man mithelfen kann."
Elif Beiner, Ehrenamtskoordinatorin des Münchner Flüchtlingsrats
Aus Spontanhilfe wurde Helferverein
Das sieht Spontanhelferin Lessig genauso. Sie hilft immer noch. Aus dem Engagement am Starnberger Flügelbahnhof wurde inzwischen ein Verein, der „Münchner Freiwillige – Wir helfen e.V.“. Er hat inzwischen rund 30 Mitglieder. Die 27-Jährige ist die Vorsitzende. Geld erhält der Verein von der Stadt, 100.000 Euro im Jahr ist ihr die Selbstorganisation der Spontanhelfer wert. Zwei halbe Stellen werden davon bezahlt, der Rest ist flexibel einsetzbar. Marina hat aus diesem Topf auch ihr Geld für die Investitionen am Starnberger Flügelbahnhof zurückerhalten.
Seinen Sitz hat der Verein inzwischen in der Tumblingerstraße, langfristig soll es aber wieder an den Hauptbahnhof gehen. Dort planen die Helfer einen dauerhaften Infostand, um Asylbewerber aus der Region die Orientierung zu erleichtern, falls diese für einen Termin in München sind. Die orange-gelben Warnwesten werden sie dann als Erkennungszeichen wohl nicht mehr brauchen. Aber was, wenn es noch einmal zu so einem Ausnahmezustand kommen sollte? Lessig ist gelassen: „Wir haben eine Datenbank mit 4000 Personen, die wir im Notfall per SMS kontaktieren können.“