Plädoyers der Nebenklage Das Netzwerk des NSU und die Schuld des Staates
Im NSU-Prozess in München sind heute die Plädoyers der Nebenklage fortgesetzt worden. Dabei sind auch neue Details über die Verbindungen der Neonazi-Terroristen nach Nürnberg bekannt geworden - die Stadt, in der der NSU die meisten Mordtaten beging.
Von: Thies Marsen
Stand: 29.11.2017
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Der NSU war keine abgeschottete Dreier-Zelle, sondern hatte ein Unterstützer-Netzwerk. Und: Geheimdienste und Polizei wussten mehr über die Neonazi-Terroristen, als sie bis heute zugeben wollen. Vermutlich hätten die staatlichen Behörden sogar Anschläge und Morde verhindern können. So lauten die zentralen Thesen vieler Nebenkläger, die Anwältin Antonia von der Behrens heute mit zahlreichen Details unterfütterte. Die Nebenklage will so die Auffassung der Bundesanwaltschaft widerlegen, der NSU habe nur aus Beate Zschäpe sowie den verstorbenen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bestanden und habe weitgehend isoliert von der Neonaziszene agiert. Die Opferanwälte sind sich vielmehr sicher: Der NSU hatte Helfer an den Tatorten seiner Verbrechen, Helfer, die immer noch frei herumlaufen.
Tatort Nürnberg: Drei Morde, ein Anschlag
Nebenklage-Vertreterin von der Behrens widmete sich in ihrem Plädoyer heute insbesondere Nürnberg, wo der NSU drei Morde und einen Anschlag verübte. Dass die Terroristen enge Verbindungen zu fränkischen Neonazis hatten, ist schon länger bekannt - insbesondere zur zentralen Figur der Szene, Matthias Fischer aus Fürth. So stand Fischers Name auf einer Adressenliste, die der NSU-Terrorist Uwe Mundlos zusammengestellt hatte, mutmaßlich für den Fall einer Flucht vor der Polizei. Dass diese Liste nie adäquat ausgewertet wurde, obwohl sie von Ermittlern bereits am 26. Januar 1998 sichergestellt worden war, also dem Tag des Untertauchens von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, ist eines der großen Rätseln der NSU-Affäre. Auf der Liste fanden sich nämlich auch die Namen jener Personen in Chemnitz, die die drei Untergetauchten in ihrer ersten Zeit im Untergrund mit Wohnungen, Ausweisen, Geld und mutmaßlich auch Waffen versorgten. Es wäre also problemlos möglich gewesen, das Trio binnen kürzester Zeit dingfest zumachen - und damit zehn Morde, drei Anschläge und 15 Raubüberfälle zu verhindern, so Antonia von der Behrens.
Die erste Bombe des NSU
Auf der Fluchtliste taucht außerdem der Name eines aus Thüringen stammenden Neonazis auf: Jens H. Dieser wohnte Ende der 1990er Jahre in Nürnberg, wie von der Behrens heute enthüllte und zwar in der Nürnberger Südstadt, im Nachbarhaus der Pilsbar "Sonnenschein". Auf dieses Lokal verübte der NSU im Juni 1999 sein mutmaßlich erstes Attentat - mit einer als Taschenlampe getarnten Bombe. Der deutsch-türkische Betreiber wurde bei dem Anschlag erheblich verletzt.
"Es ist kein Zufall, dass Nürnberg als Tatort ausgewählt wurde", so von der Behrens. "Vielmehr spricht alles dafür, dass Neonazis aus Nürnberg den NSU auf den konkreten Anschlagsort aufmerksam gemacht haben."
Der Blumenstand, an dem der NSU sein erstes Mordopfer Enver Şimşek erschoss, sei der Nürnberger Neonaziszene ebenfalls bekannt gewesen: Ein Aktivist habe dort nachweislich mehrfach Blumen gekauft. Und auch in anderen Städten, in denen der NSU mordete, gebe es zahlreiche Hinweise auf Unterstützer vor Ort.
Was wussten die Behörden über die Terrorzelle?
Ausführlich widmete sich die Anwältin aber auch der Rolle staatlicher Behörden. Insbesondere die Verfassungsschutzämter seien keinesfalls auf dem rechten Auge blind gewesen, sondern hätten frühzeitig die Gefahr erkannt, die von der rechten Szene ausging, insbesondere von der besonders militanten und radikalen Szene in Thüringer, aus sich der NSU entwickelte. Statt adäquat zu reagieren, habe man jedoch vornehmlich auf V-Leute gesetzt, über diese massiv Geld in die Szene gepumpt und so rechtsextreme Strukturen gestärkt. "Das V-Mann-System führte nicht zur Verhinderung der Entstehung des NSU und seiner Taten, sondern sicherte vielmehr seine Existenz."
Bis zum Jahr 2003, als der NSU bereits mehrere Morde und Anschläge begangen hatte, hätten die Behörden über V-Leute und Überwachungsmaßnahmen den NSU durchaus im Blick gehabt. Wie viel der Staat konkret wusste und wie groß die staatliche Verwicklung in den NSU-Komplex tatsächlich war, sei allerdings nicht mehr nachprüfbar, weil Verfassungsschutz und Polizei ihre Akten dazu weitgehend vernichtet hätten. Warum die Behörden so gehandelt hätten, sei unklar. Die zahlreichen Versäumnisse von Geheimdiensten und Polizei machten es jedoch höchst unwahrscheinlich, dass es sich dabei nur um „Pannen“ gehandelt habe, so von der Behrens. Nichts spreche für Fehler, sondern alles für gezieltes Handeln.