Ratlos durch die Nacht Wie ich drei Helene-Fischer-Konzerte in einer Woche besuchte – ein Selbstversuch
Da ist das Triple: Unser Autor hatte die Idee, drei Helene-Fischer-Konzerte in München hintereinander anzugucken und eine böse, böse Kritik zu schreiben. Doch seinen Plan hatte er ohne Helene Fischer gemacht.
Freunde, Familie, Arbeitskollegen, Nachbarn, völlig Fremde – sie alle hatten mich gewarnt. "Das wird dich verändern, du wirst nicht mehr derselbe sein!" hatten sie gesagt. Es ist Samstagmorgen, der Morgen nach dem dritten Helene-Fischer-Konzert in einer Woche – und ich glaube ihnen.
Von der Tür bis zum Bett zieht sich eine Spur aus Kleidungsstücken. Auf dem Nachttisch fällt mir ein Plastikbecher auf. Der stand hier gestern noch nicht. Ihr Gesicht ist darauf abgebildet. Ich kann nicht genau sagen was, aber ich spüre, dass etwas nicht stimmt. Vielleicht habe ich Fieber. Wo ist mein Handy? Wo ist mein Geldbeutel? Auf der Kommode liegen sie nicht. Selbst wenn, wäre das eine Entfernung, die ich so nicht bewältigen kann. Momentan gleicht selbst blinzeln einem Marathon.
Das Poster von David Bowie hängt noch an der Wand. Das beruhigt mich kurz. Aber: Auf dem Sessel neben dem Bett liegt ein Berg von Klamotten, der mir jetzt unbekannt vorkommt. Wie bin ich eigentlich nach Hause gekommen? Ich habe ein ungutes Gefühl. Etwas Furchtbares muss passiert sein. Langsam bekomme ich Panik: Ich habe doch nicht? Nein, das kann nicht sein. Ich werde doch nicht...
Tag 1 – Dienstag (drei Tage zuvor)
Mein Nebensitzer trinkt eine Coca Cola Zero "San Tropez". Nervös schauen er und ich abwechselnd auf seine Armbanduhr und auf die Eintrittskarte. Beginn: 20 Uhr. Bei ihm ist es Vorfreude, bei mir schlichte Angst. Gegen 20.02 Uhr – mein Nebensitzer ist über die Verspätung nicht amused – tut sich dann endlich etwas. Auf der Bühne der Olympiahalle öffnet sich eine gigantische Videowand, die offenbar einen Sternenhimmel abbilden soll. An Seilen schwebt Helene Fischer in einem kurzen blauen Kleid mit Stacheln an den Schultern durch die schmale Öffnung aus einigen Metern Höhe in die Halle.
Mit ausgebreiteten Armen fliegt sie gen Bühnenmitte und begrüßt die ausverkaufte Olympiahalle: "Servus München!" Sie schiebt ein grünenparteitagstaugliches: "Ihr Lieben! Das wird unser Abend!" nach. So viel Nähe und Herzlichkeit freut uns, die Lieben, natürlich: Sie ist zwar ein Engel, der gerade aus dem Himmel zu uns herabgestiegen ist, aber eben auch eine von uns: Servus, Helene!
Ich denke an die allweihnachtliche Inszenierung des Krippenspiels des Obstbauvereins meines Heimatorts – mein Nebensitzer beginnt mit leuchtenden Augen euphorisch einen "Helene, Helene"-Sprechchor anzustimmen, als wäre die Erlösung nahe. Frauen und Männer in Lederhosen und Dirndln springen von ihren Sitzen auf. Ein Bauchladenverkäufer geht durch die Reihen. Er bietet in tiefstem Bayerisch "Gaibirinjas" für neun Euro an – auf dem Geschirr, das er um den Hals trägt, steht "O ritme de Brazil". Erste Fluchtreflexe kommen auf.
"Du hast schon ganz anderes überstanden", sage ich mir und versuche mich unauffällig zu verhalten. Erste Dorffest-Traumata aus meinen Teenagerjahren kommen hoch. Jetzt gilt es sich an den Match-Plan zu halten. Ich hatte mich auf diesen Abend natürlich akribisch vorbereitet, mich eingelesen und darauf eingeschworen sachlich und nüchtern, ja sogar "offen" darauf einzulassen, was passieren könnte – in einer Jack-Wolfskin-Jacke getarnt. Aber bereits der nächste Song, der eine bisher geheime Verbindung zwischen Avicii-EDM und deutschem Volkslied aufmacht, schockiert mich in Grund und Boden.
Als sich Helenes Seeigel-Outift als Samba-Uniform entpuppt und La Fischer über die Bühne bootyshaked als stünde sie auf einem der Karnevalswägen in Rio de Janeiro, muss ich mich einen Moment sammeln. Was könnte da besser helfen als ein Blick in den Live-Ticker der Kollegen des Münchner Merkur, die sich nach G20 oder Bundestagswahl heute entschieden haben, das Konzert von Helene Fischer für die gebannte Weltöffentlichkeit einzuordnen:
"20.24 Uhr: Oh! Am Ende zollt die sonst so perfekte Helene der Akrobatik einen kleinen Versinger. Kein Wunder bei diesen Moves."
Live-Ticker, Münchner Merkur
Auf der Bühne tut sich was: Was Michael Jackson der Moonwalk war, ist Helene der "Ich-bin-eine-Powerfrau"-Galopp. Denn bei Gott – bei aller Schlager-Prolligkeit – keine stolziert wie Helene Fischer! Mit der Grazie einer Lady Di und der Energie eines Detlef D! Soost in den besten Zeiten geht, nein, schreitet sie voran. Vor und dann wieder zurück und wieder vor – es ist mehr ein Promenieren, ein Stolzieren, ein Schaulaufen. Dieses neckische über die Schultern lächeln, diese dauerhafte Andeutung von erster Liebe und Sehnsucht, ihre gnadenlose Abiköniginnen-Schönheit – sie inszeniert das so echt, dass ich mich für einen Moment beim verliebten Mitklatschen ertappe. Mein Nebensitzer atmet mittlerweile in eine Papiertüte.
Jetzt kommt der Moment, auf den alle Red-Carpet-Experten im Saal gewartetet haben: der erste Kostümwechsel! Motto: Venus 2018. Die aufgesexte Stimmung eines letzten Abends im Robinson-Club, wenn Animateure und unglücklich Verheiratete sich bei einem Sex-On-The-Beach tief in die Augen schauen, ist jetzt am Limit. Ein Bühnenelement, das wie die Schaufenster-Bordelle in Amsterdam konzipiert ist, bietet in neun Kammern Platz für acht leicht bekleidete Tänzerinnen und Helene Fischer im kleinen Goldenen.
Im zentralen Fenster – Sexy-Mode auf volle Power – zeigt die Femme Fatale des deutschen Schlagers jetzt, was sie beim Pole-Dancing-Kurs so gelernt hat. Das Kleid rutscht immer wieder gefährlich hoch. Oh! Oh! Die ersten Sanitär müssen liebestolle Männer aus den ersten Reihen tragen. Und jetzt wird es erst richtig dirty: Zu "Ich will es spüren"-Stöhnern räkelt sich die Sängerin, was das Zeug hält. Die Ausbruchsfantasien der deutschen Hausfrau auslebend, imitiert die sonst doch nur mit ihrem "Flori" brav Turtelnde, jede nur menschenmögliche Stellung.
Leute, die ihrem Partner mit den Worten "Schatz, komm doch heute früher nach Hause, ich habe da etwas für dich" ihre neuen Dessous präsentieren wollen und/oder "Fifty Shades Of Grey" gelesen haben, haben jetzt Oberwasser. Innerlich gehe ich durch, welche Geburtstagsgeschenke ich in den nächsten Monaten kaufen muss – und ob ein Caipirihna vorher nicht doch die richtige Entscheidung gewesen wäre.
Bei aller Zynik merke ich in der zweiten Hälfte des Konzerts: Gegen die rohe, brutale Physis, diese unbrechbare Herzlichkeit einer Helene Fischer kann man sich kaum wehren. Die Produktion ist dabei so präzise getaktet, so dicht choreographiert, dass ich bei der nächsten Flugeinlage nachempfinden kann, warum die ganze Halle beseelt strahlt, wie beim Erweckungsgottesdienst einer Freikirche. Ich frage mich, wann endlich ein Mann mit gebrochenem Bein auf die Bühne humpelt und nach einer göttlichen Berührung von ihr geheilt die Krücken von der Bühne wirft und losschuhplattelt.
Natürlich ist die Musik ("Ich will das Leben leben, wie ein Tanz auf dem Vulkan") völlig Gaga, aber als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, ist es kurz nach 23 Uhr. Als Helene Fischer dann für die Zugabe "Atemlos durch die Nacht" im Kirschblütenregen auf einer weißen Schaukel, in einem weißen Kleid, in fünf Metern Höhe segelt, realisiere ich, dass ich dieser Sache mit ironischen Witzeleien nicht gerecht werde. So platt das auch klingen mag: Es geht bei Helene Fischer um große Gefühle, das große Glück, die große Liebe, die große, pathetische Geste. Und darum, genau das ernst zu meinen. Ich gehe, bevor mein Nebenmann mir vor Glück um den Hals fällt.
"23.31 Uhr: Und das war es mit dem ersten von fünf Helene-Fischer-Konzerten in München. 'Des woar der Wahnsinn' ruft die Sängerin in etwas gekünsteltem Bayerisch in die tobende Olympiahalle."
Live-Ticker - Münchner Merkur
Tag 2 – Mittwoch (zwei Tage zuvor)
Auf dem Weg von der U-Bahn-Station "Olympiazentrum" zur Halle spielt ein Mann auf einer Melodica den "Ententanz". Spätestens jetzt bin ich wieder mittendrin: Tag 2. Heute gibt es kein Verstecken, kein Durchmogeln – ich habe einen Stehplatz. Jetzt beginnt die K.O.-Phase, Crunch-Time: Gleich wird jedes Nicht-Klatschen, jedes Nicht-Mitsingen auffallen – und jeder weiß, was in diesen Kreisen mit Spitzeln passiert: Straf-Polonaise!
20.02 Uhr, selbstverständlich, sie schwebt ein: "Servus München!". Servus Helene! Ich fühle mich heute mental stark und versuche gleich zu Beginn des Konzerts das sehr enthusiastische, asiatische Pärchen neben mir mit meinem Fachwissen auf meine Seite zu ziehen. Es seien mittlerweile rund 70 Shows auf ihrer Tour, gebe ich den Experten. Zu den Akrobatik-Nummern hätte Helene sich von einer Circque-De-Soleil-Gala in Las Vegas inspirieren lassen, lege ich nach. Die beiden lächeln mir milde zu wie einem Verrückten, der in der U-Bahn erzählt, dass er früher mit Romy Schneider verheiratet gewesen wäre.
Auf der Bühne passiert exakt dasselbe wie gestern: Nach dem Seeigel-Outfit, das Sexy-Outfit und alles mit einer Hingabe vorgetragen, als wäre es eben nicht die siebzigste Show, sondern wieder die erste. Ich fühle mich ganz gut unterhalten, auch wenn dieses bigotte Bauerntheater zwischen dauerwilliger Nymphohausfrau und rührender Mutter Teresa nur schwer erträglich ist. Helene Fischer ist einfach für alle da: Wie in einer dieser großen Samstagabend-Revues aus Zeiten, in denen es im Fernsehen nur drei Programme gab, soll hier jeder im Saal "auf seine Kosten" kommen: "Ihr Lieben, ihr habt euch diesen Abend so verdient!"
Um endgülitg in die Gemeinschaft der Atemlosen aufgenommen zu werden, versuche ich ein zweites Mal das Paar neben mir in ein Gespräch zu verwickeln – ich habe noch so einige HF-Facts im Köcher! Ich gehe strategisch vor und werfe mal ein vorsichtiges: "Wow!" in ihre Richtung. Keine Reaktion. Zweiter Versuch: "Wow! Oder?" – dazu schaue ich begeistert und nicke mit dem Kopf. Sie lächeln und nicken zurück. Helene Fischer fliegt wie Jesus in einem dieser Auferstehungsbilder wenige Meter über unseren Köpfen durch die Luft – und ich habe ein Nicken bekommen. Wow!
Wie sie mir kurz darauf mit Händen und Füßen zu verstehen geben, kommen beide aus "Bejing". Sie zeigen mir Fotos ihrer Europa-Reise und da sie weder Deutsch noch Englisch sprechen, machen wir unsere Sympathie füreinander mit einem nach oben gestreckten Daumen und Kichern klar. Die beiden singen jedes Lied mit, auch wenn sie wirklich keine Ahnung haben können, welche lyrischen Monströsitäten sie da aus tiefstem Herzen schreien. Aber sie tun es: "Und morgen früh, küss ich dich wach, da dadadadaaaa."
Als Helene sich gegen Ende der Show an die Halle richtet und dafür plädiert, dass bei ihren Konzerten egal sei, wo jemand herkomme und wen er liebe, kann man nur noch schwer böse sein. An diesem Ort, in dieser Zeit ist das eine echte Ansage. Meine neuen Freunde aus Fernost sind damit einverstanden.
Tag 3 – Freitag
Es geht an die Kraftreserven. Wie auch immer Helene Fischer das macht, ich bin am Rande des Menschenmöglichen. Heute also Finale grande, der große Endspurt, der letzte Akt. Es ist Freitagabend und das Publikum ist in Wochenendstimmung – leere Jägermeisterflaschen weisen den Weg zur Halle. Für diesen Abend habe ich Karten in der Arena, direkt an der Laufsteg-Bühne, also MITTENDRIN! Wie mittendrin das sein sollte, war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.
20.02 Uhr: "Servus, München!". Seeigel. Amsterdam. Dirty. Powerfrauen-Galopp. Luftgitarren. Springbrunnen. Spagat. Neben mir sitzt ein Mann mit einem leuchtenden Handschuh. Wie er mir erklärt, hat er selbst die Leuchtdioden in die Finger eingearbeitet: "So kann sie mich besser erkennen." Er trägt ein Fan-Shirt von der Stadion-Tour 2015, sein Smartphone-Hintergrund ist das Gesicht von Helene Fischer. Auch wenn die Plätze als "Sitzplätze" deklariert sind, stehen alle immer wieder auf, um einen besseren Blick auf die Bühne zu haben. Mein Nachbar animiert mich höflich, mitzumachen. Wo bin ich da nur reingeraten?
Sein Betreuer, habe ihm geholfen ein Zugticket zu buchen – er wollte nämlich schon ganz pünktlich heute vor Ort sein. Er erklärt mir, dass er aus Villach komme und unbedingt dabei sein wolle. Bei den "Special Olympics" in Schladming sei "seine Helene" auch aufgetreten und sie hätte so liebe Worte für alle Behinderten gehabt. Dieses eine Lied, das käme jetzt gleich. Das wäre sein Lied. Aus den letzten Tagen weiß ich: Besagtes Lied kommt erst kurz vor Schluss. Das verschweige ich aber. "Ich habe sieben DVDs und vier CDs von ihr", er grinst über das ganze Gesicht – das ist sein Abend, zweifellos.
Spätestens jetzt ist es mit meinem Zynismus vorbei: Er setzt den Discokugel-Handschuh ein. Während sie dynamisch an uns vorbeisaust, winkt er und das Ding leuchtet wie ein Christbaum. Er dreht sich zu mir um und sagt: "Die Zeitungen sind so gemein gewesen zu ihr." Ich bin etwas überrascht und überlege, ob er weiß, was ich hier mache. "Die haben geschrieben, sie sei schwanger. Und darum sind die Konzerte in Berlin ausgefallen. Aber die war doch einfach krank. Man darf doch einfach krank sein." Ich nicke und bevor mir irgendetwas Schlaues einfällt, rettet mich Helene Fischer: "Ich weiß, ihr alle seid Kämpfer." Jetzt kommt sein Lieblingslied.
Im Kirschblütenregen geht mit "Atemlos" wenig später mein drittes Helene-Fischer-Konzert in dieser Woche zu Ende. In den letzten Tagen habe ich besser verstanden, warum so so viele hierher kommen und wie wichtig sie für viele Menschen ist. In der Welt von Helene Fischer würde dieser Text jetzt zum Anfang zurückführen, die Streicher würden einsetzen und ich würde in meinem Zimmer die Bettdecke hochziehen und ein Fan-Shirt von ihr tragen. Aber ich habe mir selbstverständlich kein T-Shirt gekauft – es gibt kein großes Happy-End für diese Geschichte, keinen Kreis der sich magisch schließt. Die Welt funktioniert so nicht. Eigentlich schade.
Sendung: Filter, 05.03.2018 - ab 15 Uhr