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Lektüreschlüssel: POP Kay One und Pietro Lombardis "Señorita" als zeitgenössische Gedichtinterpretation

Ist "Señorita" von den Gute-Laune-Raketen Kay One und Pietro Lombardi ein harmloser Feel-Good-Sommerhit oder das brutale Psychogramm eines brandgefährlichen Stalkers? Der "Lektüreschlüssel: POP" nimmt sich der Sache an!

Von: Stefan Sommer, Niklas Fazler

Stand: 27.09.2017 | Archiv

Kay One fertig | Bild: Screenshot / YouTube

Romeo und Julia, Siegfried und Kriemhild, Tristan und Isolde... Pietro Lombardi und Kay One: Die Literaturwelt hat ein neues Traumpaar. Wie einst bei den Schwengel-Schwagern Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe brennt auch in den schwärmerischen Seelen des neuen Dream-Teams der deutschen Gegenwartsliteratur ein Feuer für die großen, bedeutenden Geschichten und Dramen des Lebens. Gemeinsam stehen die heißblütigen Latin-Lover aus Friedrichshafen und Karlsruhe so mit ihrer Single "Señorita" seit letzter Woche auf Platz 1 der deutschen Single-Charts.

Wer bisher blauäugig vermutete, die schwülstige Nummer sei die Feel-Good-Hymne für all diejeningen, die gerade mit einem Sex-On-The-Beach in der Hand auf Balkonien den sexuellen Abenteuern des alljährlichen Ballermann-Urlaub nachsinnierten, täuscht sich gewaltig. "Señorita" ist weit, weit mehr als die Sauerkraut-Edition von "Despacito" - es ist das schockierende Psychogramm eines brandgefährlichen Stalkers - eines Mannes, der einer Frau bis in die intimsten Zonen ihres Lebens nachsteigt.

"Ich folge dir auf Instagram und check' deine Storys ab
Flieg' über die Kommis, jeder wird bei deinem Body schwach
Ich geb' dir Doubletap und like alle deine Bilder."

Kay One, Señorita

Durch das Schlüsseloch

Besessenen wie Hotelbesitzer Norman Bates, der in Alfred Hitchcocks Meisterwek "Psycho" eine junge Frau durch ein Loch in der Wand beobachtetet, folgt auch das lyrische Ich in "Señorita" dem Objekt der Begierde auf Schritt und Tritt im Internet:

"Ich check' auf Snapchat, was du machst, was du machst
Ich check' deine Instastory und like jedes Bild von dir."

Kay One - Señorita

Das lyrische Ich ist regelrecht besessenen:

"Señorita, sei meine Adriana Lima
Du machst süchtig, so wie FIFA."

Kay One - Señorita

Das Objekt der Begierde

Im letzten Abschnitt überwindet das lyrische Ich die räumliche Distanz und ändert das Muster: Aus der Observation im Internet, wird Stalking - in der realen Welt. Das beobachtende Subjekt scheint mit einem Fernglas die mit "Du" direkt im Paarreim angesprochene Frau ins Visier genommen zu haben, um dann körperlich auf Tuchfühlung zu gehen.

"Das Versacekleid steht dir am besten,
Aber du trägst lieber Shorts von More Money More Fashion. (...)
Deine Haut riecht nach Kokos."

Kay One - Señorita

Eine deutsche "Amour Fou"

Das Motiv einer "Amour Fou" aus der französischen Hofdichtung des 16. Jahrhunderts deutet sich an. Der liebeskranke Mann, der seiner Geliebten hinterherstellt, taucht schon in den Romanen von Gustave Flaubert auf. Kay One und Pietro Lombardi adaptieren das klassische Leitmotiv geschickt - betrachtet man das Musikvideo erneut, fällt auf, dass schon in der allersten Szene die Kamera der jungen Protagonistin wie ein Detektiv folgt.

"Señorita" ist eine literarische Expedition in die tiefsten Tiefen des menschlichen Wesens - in Bedürfnisse und Wünsche, die doch jeder von uns kennt. Kay One und Pietro Lombardi gelingt ein meisterlicher Blick in unsere Psyche, sie erwischen uns bei unseren innersten, voyeuristischen Sehnsüchten, die wir im Internet ausleben. Hola!