„Re-Entry Anxiety“ Macht Corona mich zu einem Sozial-Phobiker?
Kinos, Restaurants, Biergärten: das öffentliche Leben wird langsam „hochgefahren“. Aber was, wenn man selbst noch gar nicht so weit ist? Unser Autor fühlt sich vom Tempo der Lockerungen und der Relaxtheit seiner Mitmenschen überfordert.
Ein sonniger Nachmittag. Ich fahre mit dem Rad in einen nahegelegenen Park – nach dem ganzen drin sitzen habe ich Lust auf ein bisschen frische Luft. Da bin ich nicht der einzige. Die Bürgersteige sind voller Menschen: entweder sitzen sie dicht an dicht an Café-Tischen, leere Bier- und Weingläser vor sich, oder cornern im Stehen vor den Eingängen. Manche haben schon sichtbar einen sitzen. Alle feiern es, dass man nach den Corona-Einschränkungen wieder unter Leute kann – aber ich kann mich nicht mitfreuen. Stattdessen habe ich das Gefühl, die Welt ist mir durch Corona irgendwie fremd geworden.
Innerer Konflikt: „Alles wieder normal“ oder „Bin noch nicht soweit“?
Geht es nur mir so? Bin ich in der Isolations-Zeit ein Weirdo geworden? Eine nicht-repräsentative Umfrage in meinem Freundeskreis zeigt, dass die meisten sich auch viele Gedanken über ihre Rückkehr ins Sozialleben außerhalb der eigenen vier Wände machen: ein Freund spricht z.B. von einer „inneren Schutzmaske“, die er mit sich herumträgt. Eine Freundin hat festgestellt, dass es sich in ihrem Bekanntenkreis normalisiert hat, sich nicht gegenseitig zu umarmen – und findet das, obwohl sie es selber genauso macht und für wichtig hält, etwas traurig.
Wir tragen einen Konflikt in uns aus: einerseits ist nach drei Monaten Ausgangsbeschränkungen (und in vielen Fällen Einsamkeit und Existenzängsten) die Aussicht darauf, einander wieder näher kommen zu können, verlockend. Andererseits ist das Coronavirus noch längst nicht aus unserem Alltag verschwunden – auch wenn das viele nicht einsehen wollen. Ich habe das Gefühl, alle außer mir können mit diesem Konflikt umgehen.
Ich merke, dass es mir gar nicht so sehr um die Lockerungen spezifischer Regeln geht. Ich habe ehrlich gesagt schon seit Wochen keinen Überblick mehr darüber, wie viele soziale Kontakte wann wo und wie erlaubt sind. Angst davor, selbst krank zu werden, habe ich ehrlich gesagt auch kaum. Viel mehr stresst mich, dass sich die Welt einfach so weiter dreht – als wäre nichts gewesen.
Corona verstärkt Ungerechtigkeiten
Für mich hat Corona extrem deutlich gemacht, wie ungerecht unsere Gesellschaft ist. Geflüchtete z.B. müssen auf engstem Raum zusammenleben. Wohnungs- und Obdachlose müssen zusehen, dass sie überhaupt irgendwo schlafen können, weil viele Schlafunterkünfte schließen mussten. Diese Probleme wird es auch dann noch geben, wenn die akute Bedrohung durch das Virus vorbei ist – auch, wenn man in den letzten Wochen darüber vielleicht nicht viel in den Nachrichten gesehen hat. Das ist kein „Normalzustand“ oder „Alltag“, auf den ich mich freuen kann.
Aber wenn ich sehe, wie Menschen vorm H&M Schlange stehen oder sich die Spritz-To-Go-Plastikbecher auf den Mülleimern stapeln, ist das für mich ein Zeichen dafür, dass andere genau diese Probleme einfach ignorieren – weil sie ja jetzt endlich wieder saufen und shoppen gehen können. Das macht mich traurig und wütend.
Das „Time“-Magazin hat neulich von „re-entry anxiety“ geschrieben. So nennen Psycholog*innen das Gefühl, das manche Menschen nach mehreren Monaten Corona-Isolation haben, wenn z.B. Freund*innen fragen, ob man sich nicht mal wieder auf einen Kaffee treffen möchte. Das kenne ich gut. Obwohl viele Arten von Treffen und Aktivitäten wieder erlaubt sind, spüre ich beim Gedanken daran keine große Freude, sondern eher Hemmung. Wenn „das Leben nach Corona“ bedeutet, dass alle wieder fleißig sorgenfrei konsumieren, dann möchte ich damit nichts zu tun haben.
Wir alle haben unsere eigene Schmerzgrenze
Aber kann ich meinen Mitmenschen überhaupt einen Vorwurf machen? Wenn Leute mit ihren Freund*innen in der Sonne sitzen, heißt das ja nicht, dass sie nur an sich selbst und ihre Bedürfnisse denken, sondern dass sie sich auch wieder irgendwie ins Leben rein tasten. Und wenn mir noch nicht danach ist, mich unter Menschen zu mischen, dann ist das auch in Ordnung – aber nicht unbedingt moralisch besser.
„Wir alle haben unsere eigene Schmerzgrenze“, schreibt mir meine gute Freundin, als ich sie zu ihrem Corona-Sozialleben befrage. „Und die muss jeder für sich definieren. Ebenso sollte man die Grenzen der anderen akzeptieren und respektieren.“ Ich glaube, das ist es: Mitte März mussten wir alle schlagartig unser Verhalten ändern, und jetzt ist es wieder soweit. Manche von uns brauchen länger, um sich auf die neue Situation einzustellen – und wollen vielleicht auch gar nicht zu dem Zustand, in dem die Welt vor Corona war (Menschen, die flüchten müssen, Klimawandel, struktureller Rassismus, etc.) zurückkehren. Das sollten wir im Kopf behalten, wenn wir einander auf der Straße begegnen.
Sendung: PULS am 23. Juni 2020 - ab 10 Uhr