Bildungsgerechtigkeit in Deutschland "Wir begegnen uns nur an der Supermarktkasse"
Deutschland ist immer noch eine Zwei-Klassen-Gesellschaft - zumindest was das Bildungssystem angeht, sagt Marco Maurer in seinem Buch "Du bleibst was du bist". Warum das so ist und was man dagegen tun sollte, hat er uns im Interview erklärt.
Marco Maurer ist freier Journalist und hat schon mehrere Preise für seine Arbeit gewonnen - und er hat sich diesen Werdegang als Kind einer Arbeiterfamilie hart erkämpfen müssen. Da er feststellen musste, dass er mit dieser Erfolgsgeschichte immer noch eine Ausnahme im deutschen Bildungssystem bleibt, hat er sich in seinem ersten Buch "Du bleibst, was du bist: Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet" mit der Frage beschäftigt: Wie chancengleich ist das deutsche Bildungssystem eigentlich heute wirklich? Dafür traf er eigene Lehrer wieder, besuchte finnische Schüler und interviewte Prominente wie Außenminister Steinmeier und Bahnchef Rüdiger Grube. Wir wollten alles über sein Herzensprojekt wissen und haben mit ihm telefoniert.
PULS: Wie kommst du dazu, zum Thema Bildungsgerechtigkeit in Deutschland ein ganzes Buch zu schreiben?
Marco Maurer: Ich habe eine Studie gelesen, die sagt, dass von 100 Akademikerkindern etwa 80 Prozent studieren und von sogenannten Nicht-Akademikerkindern nur 20 Prozent. Das ist eine riesige Lücke und ich habe mich gefragt, woher das kommt. Und dann habe ich mich an meinen Hauptschullehrer erinnert. Ich wollte damals auf die Realschule und habe die Empfehlung nicht bekommen. Und der Lehrer sagte zu meiner Mutter an einem Elternabend: "Das hat doch keinen Wert bei ihm."
Den Lehrer hast du für das Buch wieder getroffen. Wie hat der auf deinen Werdegang reagiert?
Er hat sich bei mir entschuldigt.
Wie hat er denn begründet, dass er dir damals diese Laufbahnempfehlung nicht gegeben hat?
Er sagte, das sei ein schwacher Moment gewesen und sollte eigentlich nicht passieren.
Du hast lange für das Buch recherchiert, zwei Jahre warst du insgesamt unterwegs. Welche Begegnungen haben dich am meisten bewegt?
Das Buch ist aus einem Dossier in der ZEIT entstanden, deswegen habe ich viele Leserbriefschreiber getroffen. Und deren Offenheit hat mich umgehauen. Außerdem habe ich auch prominentere Persönlichkeiten getroffen. Frank-Walter Steinmeier und Rüdiger Grube zum Beispiel. Vor allem Rüdiger Grube ist mir durch seine Offenheit hängen geblieben. Er ist auf einem Bauernhof groß geworden, Scheidungskind und jetzt Chef der Deutschen Bahn. Den Weg, den er zurücklegen musste, beschreibt er als unglaublich schwer. Nachdem ich ihn gefragt habe, ob er verstehen kann, dass Arbeiterkinder doppelt so wahrscheinlich an Burnout erkranken, erzählte er mir, dass er selbst nach seinem ersten Studium in einen Erschöpfungszustand verfallen ist. Diese Offenheit fand ich einfach Wahnsinn.
Welchen Tipp hast du für junge Leute, die Angst haben, sich Träume zu verwirklichen, die fernab ihrer elterlichen Realität liegen?
Ich habe mit all diesen Menschen gesprochen, die es geschafft haben. Da könnte man jetzt sagen: "Die haben es doch geschafft, was lamentiert der denn noch." Aber alle hatten mit wahnsinnigen Hürden zu kämpfen, die unsere Kinder heute noch haben. Innerhalb eines Schulsystems oder einer Familie funktioniert dieser Aufstieg wahrscheinlich oft nicht. Deswegen ist mein Tipp, Helfer zu finden, die aus einem anderen Milieu sind und sagen: "Hey, du bist begabt. Mach Abitur, geh studieren!" Das hilft sehr.
Was sollte sich deiner Meinung nach im Bildungssystem ändern?
Ich war für das Buch auch in Finnland und da ist das Schulsystem sehr viel solidarischer. Dort wird in der Schule zum Beispiel erst nach neun Jahren "aufgesplittet" und nicht wie bei uns bereits nach vier Jahren. So entsteht dort viel eher eine Gesellschaft als bei uns.
Wie meinst du das?
Unser System führt dazu, dass Kinder schnell denken: "Ich bin auf der Realschule, ich bin der Gute. Die Gymnasiasten, das sind die Snobs und die Hauptschüler sind die Asis." Dieses Denken habe ich bei vielen Schülern entdeckt und das trägt sich im Erwachsenenleben häufig fort. Wir begegnen uns heute nur noch an der Supermarktkasse. Und ich glaube, daran ist unser Schulsystem und die frühe Trennung Schuld.