Oversexed und underinformed Warum wir offener über Sex reden müssen
Wir haben Geschlechterunterscheidungen wie LSBTTIQ und nackte Menschen in jeder Werbepause. Wir haben BDSM, Fetischpornos, Frauenpornos und verstörende Pornos. Eines fehlt uns aber: der Mut, offen über Sex zu sprechen.
Beim Aufklärungsgespräch geht es meist um Verhütung und wie das Ganze technisch funktioniert. Wenn man nicht drum rum kommt, spricht man mit Mutti über Sex. Sie sagt "Wenn man jemanden ganz doll lieb hat…" und da macht man schon dicht. Ohren zu, innerlich brechen, an was anderes denken. Über gleichgeschlechtlichen Sex, Selbstbefriedigung oder darüber, wie unrealistisch Sex in Pornos dargestellt wird, reden wir so gut wie nie. Nicht mal unter Freunden.
Der Kinsey Report – endlich sagt’s mal einer
In den frühen 50ern startete der Wissenschaftler Alfred Charles Kinsey den Versuch, offen über Sexualität zu sprechen. Kinsey hat schon damals über das geforscht, was heute noch Thema ist. Nämlich: Wie läuft eigentlich Sexualität bei Frauen und Männern ab?
Der Kinsey Report gilt als – wenn auch umstrittener – Meilenstein in der Sexualforschung. Kinsey hat nicht nur mit weißen Heterosexuellen gesprochen, sondern auch mit Prostituierten, Strafgefangenen und Homosexuellen. Dabei hat sich unter anderem herausgestellt, dass Frauen masturbieren und Homosexualität kein Mythos ist.
"Man darf die Welt nicht in Böcke und Schafe einteilen. Nur der menschliche Geist führt Kategorien ein. Die Welt ist ein Kontinuum in all ihren Aspekten. Je eher wir uns dessen in Bezug auf menschliches Sexualverhalten bewusst werden, umso eher werden wir zu einem wirklichen Verständnis der Realitäten gelangen." – A.C.Kinsey
Mit seinen Ergebnissen hat Kinsey die erste wissenschaftliche Lanze für sexuelle Diversität und das Reden darüber gebrochen. Und T.C. Boyle hat ihm mit "Dr. Sex" sogar einen Roman gewidmet.
Porno oder Blümchensex – anything goes. Von wegen!
Und heute? Da spricht laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) die Hälfte aller Jugendlichen zuerst mit ihren Eltern über Aufklärung, also auch über Sex. Der Sexualunterricht an der Schule steht an zweiter Stelle und das wichtigste Medium, um sich über Sex zu informieren, ist natürlich das Internet.
Was dabei herauskommt, zeigt der Report zur Jugendsexualität, den die BZgA 2015 veröffentlicht hat. Jugendliche zwischen 14 und 25 Jahren haben berichtet, wie sie aufgeklärt wurden und woher sie sich Infos zum Thema Sex holen. Aber auch, was sie über Homosexualität wissen und für wie aufgeklärt sie sich halten. Das sind einige der Ergebnisse:
- Ein Drittel der 14-jährigen Jungen informiert sich mit Pornos über Sex.
- Bei nicht mal der Hälfte der Befragten wird Homosexualität in der Schule besprochen.
- Vor allem bei den Themen Verhütung und Geschlechtskrankheiten fühlen sich junge Leute insgesamt zu wenig informiert.
Wenn also mit den Eltern reden eher peinlich ist, in der Schule kaum über Homosexualität gesprochen wird, die mediale Hauptbezugsquelle das Internet ist und sich 14-Jährige mit Pornos über Sex informieren - dann ist es kein Wunder, dass es nur so mittel gut läuft mit der sexuellen Offenheit. Denn welche Vorstellung von sexueller Realität hinterlässt das? Eine unvollkommene.
Sex läuft nicht wie in Pornos ab, Menschen sehen nicht perfekt aus (vor allem nicht beim Sex), Heterosexualität ist nicht die einzige Art, sich zu lieben, Selbstbefriedigung ist nicht peinlich und über seine Vorstellungen im Bett zu sprechen, sollte auch niemandem peinlich sein. Wenn das Sprechen über solche Dinge unangenehm bleibt, dann festigen wir als Eltern, Freunde oder Partner damit ein unnötiges Tabu.
Lasst mal drüber reden
In den ersten neun Monaten des Jahres 2016 ist die Zahl der Straftaten gegen Schwule und Lesben um 15 Prozent gestiegen. Auch das zeigt, dass eine selbstbestimmte, offen gelebte sexuelle Orientierung längst nicht respektiert ist.
Wenn Sexualkundeunterricht weiterhin nur der peinliche Versuch ist, Kondome auf Bananen zu stülpen und Homosexualität immer noch ein Tabuthema ist, dann geht das meilenweit an der Realität vorbei. Dann müssen sich diejenigen, die homosexuell sind, selbst durchschlagen. Und 14-Jährige müssen weiterhin "Sex" googeln, weil sie mehr wissen wollen als "Wie verhütet man richtig?".
In den 70 Jahren seit Kinsey wurde einiges erreicht. Aber es hat sich weniger getan als nötig wäre. Denn mal ehrlich: Wie viele von uns reden schon wirklich offen mit Freunden über ihre sexuellen Phantasien oder Probleme?
Sexuelle Offenheit ist etwas anderes als das schiere Angebot an Möglichkeiten. Was wir brauchen, ist: Keine Angst vor offener Kommunikation.