Interview mit Romanautor Johannes Böhme Was haben unsere Großeltern im Zweiten Weltkrieg gemacht?

Hitler-Biografien gibt es hunderte. Über unsere Großeltern, also die ganz normalen Menschen, die zur NS-Zeit gelebt haben, gibt es kaum was. Johannes Böhme hat seine Familie durchleuchtet. Wir wollten wissen: Hatte er keine Angst, Dinge zu entdecken, die er lieber nicht wissen möchte?

Von: Katja Engelhardt

Stand: 25.03.2019 | Archiv

Bild aus dem Roman "Das Unglück schreitet schnell" | Bild: @privat

Angefangen hat alles mit Briefen, die zwischen seiner Oma und ihrem damaligen Lebensgefährten Hermann hin und her geschickt wurden - vom Beginn der Romanze bis hinein in den Zweiten Weltkrieg, in dem Hermann gekämpft hat. Anderthalb Jahre lang hat Johannes Böhme recherchiert, Fakten gesammelt, mit Experten gesprochen und um die Fakten herum versucht zu ergründen, was in seiner Oma, Herrmann und anderen vorgegangen sein muss. Damit gibt der 32-Jährige denen eine Stimme, die sonst in der Geschichtserzählung kaum zu finden sind: unseren Großeltern.

Der Generation unserer Großeltern sind wir noch sehr nah. So nah wird keine kommende Generation mehr sein können. Findest du das wichtig, dass jemand in deinem Alter so ein Buch schreibt, auch stellvertretend für andere?

Ich glaube schon, dass das wichtig ist. Wir wissen ja ein bisschen, wie Gedächtnis in Familien funktioniert. Das familiäre Gedächtnis reicht etwa drei Generationen zurück und das bleibt ungefähr 80 bis 100 Jahre bestehen und dann zerfallen im Grunde persönliche Erinnerungen so ein bisschen. Dann wird das zu Geschichte, die man aus Büchern kennt. Ich gehöre zur letzten Generation, die Kriegsteilnehmer noch kennengelernt hat, die mit ihnen geredet hat, wo diese Erinnerungen auch noch sehr präsent waren. Ich glaube, ja, wir müssen diesen Punkt noch einmal so kraftvoll wie nur irgendwie möglich machen.

Wenn ich ehrlich bin, würde ich das nicht anhand meiner Familie nachvollziehen wollen. Hattest du nicht ein bisschen Schiss?

Ich hatte diese Angst nicht, Dinge zu finden, die unangenehm sein könnten, weil ich von Anfang an damit gerechnet hab, dass es unangenehme Dinge und dass es irgendeine Involvierung in die Durchführung des Holocaust durchaus geben könnte.

Warum?

Weil es bei Hermann, dem ersten Ehemann meiner Großmutter, der im Buch vorkommt, es durchaus Geschichten in meiner Familie gab, dass er in der SA oder der SS gewesen wäre. Was nicht gestimmt hat und eine Deformierung der Erinnerung war - er war "nur" in der Wehrmacht. Insofern hatte ich fast mit schlimmerem gerechnet, dass ich eine noch direktere Beteiligung an Verbrechen herausfinden würde. Insofern war mir klar, wenn man dieses Buch schreibt, muss man hart mit sich selbst und der eigenen Familie sein. Ansonsten braucht man das nicht machen.

Das verzwickte an Familien ist ja, einerseits sucht man sie sich nicht aus. Was die getan haben, hat mit einem eigentlich nichts zu tun. Gleichzeitig kann man sich trotzdem nicht komplett von dem distanzieren, was Angehörige tun oder getan haben.

Es gibt ja immer noch diesen witzigen Effekt, dass selbst in unserer Generation, der Enkelgeneration, ganz viele sehr bereitwillig sind, diese Kollektivschuld anzuerkennen, zu sagen: Natürlich waren die Deutschen schuld am Zweiten Weltkrieg, natürlich waren sie schuld am Holocaust, natürlich ist das alles passiert und natürlich gibt es da eine deutsche Verantwortung. Gleichzeitig - wenn man die Leute fragt, was sie darüber wissen, was in ihren Familien passiert ist - sind sich mehr als zwei Drittel sicher, dass ihre Angehörigen gar nichts getan haben. Das ist ja eine Gewissheit, die die meisten nicht haben können. Das verlangt sehr viel Recherche, das herauszufinden.

Natürlich gibt es die Familien, in denen klar ist, dass jemand im Widerstand war oder die Nachkommen von Zwangsarbeitern - natürlich ist da klar, dass die nicht beteiligt waren. Aber viele wissen, dass der Großvater in der Wehrmacht war. Und sie kennen die Geschichten, die er erzählt hat und er hat im Zweifelsfall erzählt, dass er das ganz grausam fand. Aber natürlich kann der auch in irgendeiner Form an Verbrechen beteiligt gewesen sein, obwohl er das im Nachhinein ganz grausam fand. Sehr wenige glaube ich, haben ihren Enkeln davon vorgeschwärmt, wie toll sie das alles fanden, als es 1942 so schnell nach vorne ging und dass es sich vielleicht auch wie ein Rausch angefühlt hat, Gebiete zu erobern.

Diese Stimmung in dieser Armee am Anfang des Krieges, das is nichts, was man den Enkeln erzählt hat. Aus gutem Grund hat man das denen nicht mehr erzählt. Und das ist etwas, was Enkel sich glaube ich nicht so richtig vorstellen können, dass die Großeltern das gefühlt haben. Es ist ja auch ein Ausdruck einer gewissen Phantasielosigkeit, dass man sich nicht vorstellen kann, dass die eigenen Großeltern an Kriegsverbrechen beteiligt waren.

Es gibt wahnsinnig viele Bücher und Biografien über Hitler, Göring, KZ-Aufseher. Aber kaum etwas aus dem Alltag. Wolltest du diese Wissenslücke schließen?

Das ist so die Hoffnung, sehr normale durchschnittliche Menschen zu Protagonisten in einem Roman werden zu lassen, den die Leute auch gerne lesen. Es gibt sehr viele Bücher, die von Familienangehörigen geschrieben wurden, die sicher mit besten Intentionen zusammengestellt wurden, sich aber häufig mühsam lesen. Die Idee war, eigentlich unspektakuläre, sehr normale Leben lesenswert zu machen. Ich finde das eigentlich immer sehr interessant, wenn man das sehr Gewöhnliche erzählen kann, so dass es anschaulich wird und man das Gefühl hat, etwas mitzunehmen, das vielleicht auch über die Personen und ihre "kleinen Leben" hinausgeht.

Es gibt ein paar sehr lustige Stellen. Wenn es um deutsche Regeln geht zum Beispiel oder wenn Hermann deine Großmutter auf eine Art beschreibt, die einfach falsch ist. Mitten im Roman verschluckt man sich fast an dem Witz, obwohl das Thema so ernsthaft ist. Ist das unfreiwillig komisch oder gewollt?

Wenn ich etwas absurd finde, dann schreibe ich es auch gerne so auf, dass es ein bisschen absurd ist. Es gab Anleitungen dafür, wie der Verkehr auf den Vormarschstraßen zu regeln ist, die sich wirklich sehr deutsch lesen, mit sehr detaillierten Anweisungen dazu, wer was zu regeln hat und wie schnell zu fahren ist und in welchem Abstand und mit welcher Beleuchtung. Das hat natürlich irgendwie Sinn gemacht, aber das ist dann auch der sehr geordnete Einzug des Chaos. Das ist eine Truppe, die einfällt und erobert und riesige Zerstörung hinterlässt, aber sie tut es in sehr strenger Ordnung. Das hat so ein absurdes Element.

Genauso diese Beschreibung, dass Hermann meine Großmutter offensichtlich die ganze Zeit etwas komisch sieht. Er beschreibt sie als blond, weil er sie so sehen wollte. Da hat es dann keinen Unterschied gemacht, dass sie eigentlich dunkelbraune Haare hat. Das ist auch ein Hinweis darauf, wie sehr das Politische ins Private eindringt, wie sehr die ästhetischen Normen des NS-Regimes alles verfärben, was er so sieht. Das hat natürlich auch eine unfreiwillige Komik.

Ich habe mich mehrmals dabei erlebt - und das will man ja nicht -  wie ich mit den deutschen Soldaten mitgefühlt habe. Wenn du beschreibst, wie viel Gewicht sie mit sich schleppen, wie auch sie überleben wollen, wie ihnen in fremden Gegenden völlig die Orientierung fehlt. Ist das ein negativer Effekt, weil du so viel poetisierst oder ist das ein gewollter Effekt?

Es ist ein gewollter Effekt. Ich wollte auch, dass man ein bisschen mit den Soldaten mitfühlt, weil man glaube ich nur dann ein bisschen versteht, wie einfach es war, so viele Leute zum Mitmachen zu bekommen. Die Idee dieses Buchs ist auch ein bisschen, diesen Schock des Mitfühlens mit Männern, die an einem verbrecherischen Unternehmen beteiligt sind, herbeizuführen. Dass der Leser sich vielleicht für einen kleinen Moment ertappt und merkt, dass es möglich gewesen wäre, dass er auch mitmarschiert wäre. Das war mir sehr wichtig, dass man nicht nur in Distanz zu diesen Leuten bleibt, sondern dass man zumindest kurzzeitig sehr dicht an sie herankommt.

Der Roman "Das Unglück schreitet schnell" von Johannes Böhme ist im Ullstein Verlag erschienen.

Sendung: Hochfahren, 30.01.2019 - ab 7 Uhr.