Haben Schülerinnen und Schüler in Deutschland unabhängig des Bildungsgrades und des Einkommens der Eltern die gleichen Chancen, ihr Potenzial zu entfalten? Das ifo-Institut (Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e. V.) hat die Chancengleichheit bei der Bildung in Deutschland untersucht. Das Ergebnis der im Mai 2024 veröffentlichten Studie: Die Ungleichheit der Bildungschancen ist in allen Bundesländern sehr stark ausgeprägt. Dennoch variiert die Chancengerechtigkeit zwischen den Bundesländern.
Bildungserfolg hängt von der Herkunft der Eltern ab
Für manche Kinder gibt es gute Gründe, nicht aufs Gymnasium zu gehen. Dazu zählen Interessen, Leistung, räumliche Nähe oder Wünsche der Eltern. Die ifo-Studie weist jedoch auf ein großes Problem hin: Die Chancen aufs Gymnasium zu kommen, hängen offenbar weniger vom einzelnen Kind ab als vom sozialen Status der Eltern.
Der ifo-Studie zufolge besuchen in Deutschland nur etwa ein Viertel der Kinder aus benachteiligten Verhältnissen ein Gymnasium. Aber über die Hälfte der Kinder, deren Eltern einen höheren sozialen Status haben, gehen aufs Gymnasium. Das gilt für Deutschland im Ganzen. Beim Blick auf die einzelnen Bundesländer zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede.
Studie vergleicht Bildungsgerechtigkeit in den Bundesländern
Für die Studie wurden die Aufstiegschancen von Schülerinnen und Schülern aus zwei Gruppen untersucht: Kinder, deren Elternteile beide ohne Abitur sind und/oder mit einem Einkommen, das nicht im oberen Viertel der Haushaltseinkommen liegt, wurden als mit "niedrigem Hintergrund" eingestuft. Kinder mit mindestens einem Elternteil mit Abitur und/oder einem Einkommen im oberen Viertel der Haushaltseinkommen wurden als mit "höherem Hintergrund" bezeichnet. Die Studie stützt sich auf die Daten des Mikrozensus [externer Link], der größten Haushaltsbefragung in Deutschland, und analysiert eine Stichprobe von mehr als 100.000 Kindern aus den Erhebungsjahren 2018 und 2019.
Bildungsgerechtigkeit in Bayern besonders niedrig
Zunächst wurde das "Chancenverhältnis", die Wahrscheinlichkeit für einen Gymnasialbesuch, für beide Gruppen berechnet. Je näher der Wert an 100 Prozent liegt, desto ausgewogener sind die Chancen. Demnach hat in Deutschland ein Kind mit "niedrigerem Hintergrund" nicht einmal eine halb so hohe Wahrscheinlichkeit ein Gymnasium zu besuchen wie ein Kind mit "höherem Hintergrund". Das Chancenverhältnis in Deutschland liegt bei 44,6 Prozent, in Bayern aber sogar nur bei 38,1 Prozent. Damit liegt Bayern bundesweit auf dem letzten Platz.
Aber: in Bayern besuchen insgesamt weniger Kinder ein Gymnasium
Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder von Eltern ohne Abitur und geringem Einkommen ein Gymnasium besuchen, ist in Bayern mit 20,1 Prozent bundesweit am niedrigsten. Aber auch Kinder mit "höherem Hintergrund" besuchen in Bayern im Vergleich mit den anderen Bundesländern seltener ein Gymnasium. Berechnet man das mit ein, liegt Bayern bei der Chancengerechtigkeit im Mittelfeld, so die ifo-Bildungsexperten.
Bayerische Kultusministerin: Studie fragwürdig und einseitig
Die ifo-Bildungsexperten hätten die Situation einseitig betrachtet, beklagt Bayerns Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler). Im Interview mit BR24 kritisiert sie, dass die Studie Chancengerechtigkeit einzig mit dem Besuch eines Gymnasiums gleichsetzt. Das greife zu kurz. "Chancengerechtigkeit ist für mich in allererster Linie, alle Kinder nach ihren Talenten und Fähigkeiten auch individuell zu fördern und zu unterstützen", so Stolz. Gesellschaftspolitisch halte sie die Studie auch für fatal, weil die Studie damit auch andere Schularten, andere Bildungswege herabsetze. "Wir brauchen nicht nur Akademiker, wir brauchen Handwerker, Erzieher, Pfleger usw. in unserem Land." Außerdem bemängelt sie, dass nicht berücksichtigt wurde, "dass rund 50 Prozent der Hochschulzugangsberechtigungen in Bayern nicht über das Gymnasium kommen, sondern beispielsweise über die Realschule und die FOS/BOS".
Was begünstigt die Chancenungerechtigkeit in Deutschland?
Die Bildungsexperten räumen ein, dass sie andere Wege zum Abitur nicht berücksichtigt hätten, da es hier zu wenige Vergleichsdaten gebe. Trotz der Kritik aus Bayern sind sie überzeugt, dass auch der Freistaat über Änderungen nachdenken sollte. In Berlin und Brandenburg, die verhältnismäßig gut abschnitten, wurden die Schulkinder nicht schon nach der vierten, sondern erst nach der sechsten Klasse auf verschiedene weiterführende Schularten aufgeteilt. "Es ist schon so, dass die Ungleichheit in allen Bundesländern sehr groß ist. Aber es gibt einige Bundesländer, die kriegen das ein bisschen besser hin und andere weniger gut", fasst Ludger Wößmann, Bildungsexperte am ifo-Institut, die Ergebnisse zusammen.
Chancengleichheit und Bildungserfolge: Mehr frühkindliche Bildung
"Wenn man weniger Schularten im weiterführenden Bereich hat, führt es zu eher ausgeglichenen Chancen. Und da ist es eben so, dass sehr viele Bundesländer nur noch zwei Schularten haben, die haben das Gymnasium und eine weitere Schulart. Und hier in Bayern haben wir noch das dreigliedrige Schulsystem. Und ein weiterer Punkt ist, dass in Bundesländern, die ein größer ausgebautes frühkindliches Bildungssystem haben, dieses auch dazu beiträgt, dass die Kinder aus benachteiligten Schichten später bessere Chancen haben", erklärt Wößmann.
Bildungsungerechtigkeit: Entscheidung für Bildungsrichtung zu früh
Auch Wößmann hebt hervor, dass eine länger dauernde Grundschule wie in Berlin und Brandenburg die Chancenungleichheit etwas ausgleichen könnte. Das wird auch von Bildungswissenschaftlern wie Andreas Hartinger von der Uni Augsburg immer wieder gefordert. "Zum jetzigen Zeitpunkt bin ich auch ganz klar der Meinung, dass es sehr sinnvoll wäre, nicht in einem Alter von 9 Jahren zu entscheiden, in welche Bildungsrichtung die Kinder gehen sollen. Die prognostische Validität ist definitiv gering, [bei Kindern] mit 9 Jahren zu entscheiden, ob jemand mit 17, 18 Jahren geeignet ist, ein Studium zu machen oder nicht", sagt der Bildungsforscher. Eine Wendung zum Positiven gibt es aber auch in Bayern: Der Wechsel zwischen Realschule, Mittelschule und Gymnasium gehe inzwischen auch in Bayern leichter als früher, sagt Hartinger.
Migrationsanteil und Ost-West-Unterschiede kaum relevant für Bildungsgerechtigkeit
In der ifo-Studie wird mehr Unterstützung von Familien benachteiligter Kinder gefordert. Außerdem müssten noch mehr Nachhilfe- und Mentoringprogramme geschaffen werden und die besten Lehrkräfte an Schulen mit benachteiligten Kindern unterrichten. Keine große Rolle spiele hingegen, dass manche Länder einen höheren Migrationsanteil oder einen höheren Anteil an benachteiligten Kindern haben. Auch ein Ost-West-Unterschied oder die Wirtschaftskraft der einzelnen Bundesländer sei nicht besonders relevant für die Bildungsgerechtigkeit.
Warum die Herkunft beim Bildungserfolg eine Rolle spielt
Laut der aktuellen PISA-Studie [externer Link] betrifft Bildungsgerechtigkeit im Sinne von "Fairness" aber nicht nur den Bildungshintergrund und das Einkommen der Eltern. Ein Migrationshintergrund spiele ebenso eine Rolle wie beispielsweise das Geschlecht und die daran geknüpften stereotypen Vorstellungen. Eine Vielzahl von Aspekten könne zu Vorteilen oder Hindernisse führen und auch die Motivation von Schülerinnen und Schülern beeinflussen. Diese Mechanismen führten dazu, dass manche Kinder bessere Ergebnisse erzielen als andere.
ifo: Hohes Leistungsniveau soll mit Chancengleichheit einhergehen
Die ifo-Studie untersuchte nur die Chancengleichheit in der Bildung, nicht aber das jeweils angestrebte Bildungsniveau. Den Forschern zufolge sollte ein hohes Leistungsniveau aber mit Chancengleichheit einhergehen. Auch der aktuellen PISA-Studie zufolge sollte eine gerechte Bildungspolitik alle Schülerinnen und Schülern dabei unterstützen, beste Leistungen zu erzielen – ohne jedoch das allgemeine Niveau zu senken. Weltweit zeichnen sich unter anderem Dänemark, Finnland, Hongkong, Irland, Japan, Kanada, Korea und Lettland durch ein Bildungssystem aus, das von Leistung und Fairness geprägt ist.
"Es ist selbstverständlich so, dass es nicht für jedes Kind die beste Bildungsentscheidung ist, aufs Gymnasium zu gehen. Aber darum geht es nicht. Es geht eigentlich darum, ob die Chance, aufs Gymnasium zu gehen, von der Herkunft des Kindes abhängt. Und das sollte es möglichst nicht. Und das ist doch in sehr starkem Maß der Fall", erläutert Ludger Wößmann, Bildungsexperte am ifo-Institut.
Im Video: Bayern laut ifo-Studie Schlusslicht bei der Bildungsgerechtigkeit
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