Alles Geschichte - Der History-Podcast

LEBEN VOR JAHRTAUSENDEN - Das Rätsel vom Tollensetal

Aus dem Flüsschen Tollense in Mecklenburg-Vorpommern bargen Archäologen viele tausend Menschenknochen: die Überreste einer mörderischen Schlacht vor gut 3000 Jahren. Doch wer kämpfte mit wem? Reichten damals Schockwellen aus dem östlichen Mittelmeer bis ins heutige Norddeutschland? Von Matthias Hennies (BR 2022)

LEBEN VOR JAHRTAUSENDEN - Das Rätsel vom Tollensetal | Bild: picture alliance/AP Photo | Markus Schreiber
23 Min. | 28.3.2025

VON: Matthias Hennies

Ausstrahlung am 28.3.2025

SHOWNOTES

Credits
Autor: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
Es sprachen: Thomas Birnstiel, Karin Schumacher
Technik: Michael Krogmann
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Joachim Krüger, Dr. Detlef Jantzen, Prof. Thomas Terberger, Prof. Lorenz Rahmstorf

Linktipps:

ZDF (2019): Tatort Steinzeit

Immer wieder stoßen Forscher auf die Spuren von Gewalt, die in diesem Ausmaß aus früheren Epochen unbekannt sind. Wer waren die Opfer und wer die Täter? JETZT ANSEHEN

BR (2024): Bewegter Mensch – Der neue Blick in der Archäologie

Was erzählen versteinerte Fußspuren über das Leben in der Steinzeit? Inwiefern haben Wege dazu beigetragen, dass sich Menschen ihre Umwelt zu Nutze machen und weiterkommen konnten? Eine neue Denkrichtung in der Archäologie versucht, sich homo sapiens als bewegtem Wesen zu nähern. Ein Podcast von Katharina Hübel. JETZT ANHÖREN

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:


Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
JETZT ENTDECKEN

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ATMO

Sprecher
In weiten Schleifen zieht sich ein Flüsschen durch das Grünland, im Schilf steht ein Graureiher. Nach dem letzten eisigen Schauer ist die Sonne wieder herausgekommen und über der Waldkante erscheint ein Regenbogen. Spätherbst im Tal der Tollense, im ländlichen Mecklenburg. 

1. OT Krüger_1 5:17
Das ist der Fundplatz, wo alles begann, Weltzin 20, das ist der Fundplatz, wo der berühmte Oberarmknochen mit der eingeschossenen Flintpfeilspitze herstammt, das ist der Fundplatz, wo die ersten eingeschlagenen Schädel gefunden worden sind und das ist der Fundplatz, der auch noch drei Holzkeulen geliefert hat. Also zu den eingeschlagenen Schädeln auch noch die entsprechenden Mordwerkzeuge.

MUSIK

Sprecher
Joachim Krüger ist fasziniert von diesem Ort – dem weiten stillen Tal, das ein großes Rätsel birgt. Krüger ist Taucher und Archäologe, er lehrt an der Uni Greifswald. Im Tollense-Tal hat er mit einem Team ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer mehr als 10.000 menschliche Knochen geborgen, bei Tauchgängen aus den Sedimenten des Flusses und bei Ausgrabungen an den Ufern.

MUSIK

2. OT Krüger_1 8:01
Da drüben die Fundstelle ist auch interessant, weil ich dort den Schädel mit der eingeschossenen Bronzepfeilspitze gefunden habe, aber wir gehen erstmal zum Hauptfundplatz.

3. OT Krüger_1 9:58
Hier sind insgesamt über 90 Individuen anhand des linken Oberschenkels nachgewiesen worden, das ist der Bereich an Land, der am intensivsten ausgegraben worden ist, und Sie sehen das vielleicht dort drüben, wo das Gras etwas grüner ist, da wurde damals festgestellt, dass eigentlich über den gesamten Bereich mit Knochen zu rechnen ist.

MUSIK

Sprecher
Ein makabrer Fundplatz in einer idyllischen Landschaft. Das Wasser des Flusses ist kristallklar und voller Fische. Durch die üppigen Wiesen geht mal ein Spaziergänger mit Hund, sonst ist es still. Wer wurde hier massakriert? Der Ausgräber zuckt die Schultern: Er weiß nur, wann es geschah: Zu Anfang des 13. Jahrhunderts vor Christus, in der späten Bronzezeit. Das verrieten die bronzenen Pfeilspitzen, die zahlreich ans Licht kamen, denn daran fanden sich noch winzige Reste des hölzernen Schafts – und das Holz ließ sich mit der C-14-Methode auf die Jahre um 1275 vor Christus datieren. Ein älteres Schlachtfeld kennt man in ganz Europa nicht. Doch wer hier die Sieger, wer die Besiegten waren, kann niemand sagen. Es gibt keine Aufzeichnungen über Götter und Helden, geschweige denn über reale Menschen dieser Zeit, denn vor gut 3000 Jahren kannte dieser Teil Europas die Schrift noch nicht.

ATMO

Sprecher
Mindestens auf 2 ½ Kilometern entlang des Flusses sind Menschenknochen verteilt, berichtet Krüger. Es war ein furchtbares Gemetzel. Bei jahrelangen Forschungen fanden die Archäologen Beckenschaufeln, Oberschenkelknochen, Wirbelsäulen, alle hervorragend erhalten, weil sie im feuchten Sediment des Flusses und im moorigen Boden an den Ufern nicht mit Sauerstoff in Berührung gekommen waren. Die Skelette waren zwar in Einzelteile zerfallen, doch oft überraschend vollständig.

4.OT Krüger_3 8:52
Das ist an dieser Stelle so, das ist da drüben so, da ist von Kopf bis Fuß noch alles vorhanden. Das ist dann nur die Aufgabe der Anthropologen, das zusammenzupuzzeln.

Sprecher
Die konnten bisher rund 150 Personen rekonstruieren – und die Archäologen haben einiges gefunden, was die Menschen bei sich hatten. Kleidung ist im feuchten Grund längst vergangen, aber Gegenstände aus Holz oder Edelmetall blieben erhalten.

5. OT Krüger _3 12:32
Wo die Individuen gut zugänglich gewesen sind, findet man fast nichts an Ausrüstungsgegenständen - was auf eine Plünderung hindeutet: Hier auf 90 Personen ein Fingerring und dann dieser massive Armring. Aber wo die Toten tiefer abgelagert waren, da haben wir auch tolle Metallfunde. Man hat ja in diesem Tal vier goldene Spiralringe gefunden – oder der Fundort da drüben an der Waldkante, da haben wir eine phantastisch erhaltene Gürteldose und Gewandschmuck, Nadeln, im Zusammenhang mit menschlichen Überresten.

Sprecher
Die Sieger haben sich beim Plündern offenbar viel Zeit gelassen: Sie nahmen den Toten alles ab, was sie zu fassen bekamen, sammelten sogar die Spitzen der verschossenen Pfeile ein. Zurück blieb nur, was an tieferen Stellen des Flusses im Wasser versunken war.

5a. OT Krüger_4 6:03
Da vorne ist ne kleine Brennnessel-Stelle, macht nix, ne?

Sprecher
Wenn man sich durchs feuchte, hohe Gras ein Stück flussaufwärts arbeitet, versteht man, warum es gerade hier zum Kampf kam. Joachim Krüger zeigt auf einige Holzpflöcke und einen helleren Grasstreifen am anderen Ufer: Dort verlief vor gut 3000 Jahren ein Dammweg, so breit, dass man mit Fuhrwerken darauf fahren konnte. Weil das Tal damals sehr sumpfig war, hatte man aus großen Rasensoden den Damm gebaut und an den Seiten aufwändig befestigt.

6. OT Krüger_5 3:21
An den Rändern mit Feldsteinen belegt im trockenen Bereich und im feuchten Bereich Eichenstämme hineingerammt und die Datierungen haben ja ergeben, dass diese Konstruktion in der frühen Bronzezeit 1800-1900 vC. errichtet wurde und anhand von Reparatur-Hölzern konnte man feststellen, dass der noch um 1300 in Betrieb gewesen ist.

MUSIK

Sprecher
Der Damm war schon mehr als 500 Jahre in Stand gehalten worden, als der Kampf entbrannte. Die Angreifer hatten eine günstige Stelle gewählt, denn der Weg führt hier herunter zur Tollense und ihre Gegner mussten den Fluss schutzlos auf einer Brücke überqueren. Holzreste der Brückenkonstruktion konnten die Archäologen im Wasser identifizieren. Ein über Jahrhunderte gepflegter Fahrweg und sogar eine Brücke: Diese Strecke hatte in der Bronzezeit offensichtlich große Bedeutung. Vermutlich war es eine weitreichende Handelsverbindung – und hier kreuzte sie den Fluss, der mit Einbäumen oder Booten ebenfalls für den Fernhandel genutzt werden konnte.

7. OT Krüger_3 16:28
Die Tollense ist zwischen 70 und 80 km lang, sie entspringt im Tollense-See bei Neubrandenburg, das ist in Richtung Süden, dort hinten, wo die Windräder stehen, und dann fließt sie hier ziemlich genau Richtung Norden und bei der Stadt Demmin mündet sie in die Peene – und über die Peene haben Sie Zugang zur Ostsee.

MUSIK

Sprecher
Diese Fernverbindungen waren wohl die Ursache für die Schlacht, denn sie hatten immense Bedeutung für die Menschen in Norddeutschland – und mehr noch für die florierende Kultur der „Nordischen Bronzezeit“ in Dänemark. Aus dem Süden kamen nämlich die Rohstoffe für die Bronze, den golden glänzenden, hochbelastbaren Schlüsselwerkstoff der Epoche: Bronze wurde aus etwa neun Teilen Kupfer und einem Teil Zinn hergestellt – und in Nordeuropa waren weder Kupfer noch Zinn verfügbar. Aber im heutigen Sachsen wurde viel Bronze verarbeitet und weiter südlich, im böhmischen und slowakischen Erzgebirge, baute man sowohl Kupfer- als auch Zinnerz ab. Wurde also an der Tollense-Brücke ein Transport von Zinn und Kupfer ausgeraubt, eine Handelskarawane? Oder trafen vielleicht die Truppen zweier Lokalfürsten aufeinander, die um die Kontrolle über eine Fernhandelsroute stritten? Dann konnten sie von jedem Händler, von jeder Karawane Abgaben eintreiben! Wer die Antwort sucht, muss ermitteln, ob die Menschen aus Siedlungen in der Umgebung stammten, die man bisher nicht kennt, oder von weit her kamen. Und wie viele waren es überhaupt?

ATMO

Sprecher
Um diese Fragen zu klären, hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein großes, interdisziplinäres Projekt gefördert. Die Funde, die dabei analysiert wurden, ruhen nun im Magazin des Landesamtes für Kultur und Denkmalpflege in Schwerin.

Sprecher
Detlef Jantzen ist der Landesarchäologe in Mecklenburg-Vorpommern. Er sitzt vor einem Stapel Fundkartons und fasst zusammen, was die Analysen ergaben. Aufschluss über die Waffen der Kämpfer haben die anthropologischen Knochenuntersuchungen geliefert:

9. OT Jantzen_1 2:22
Viele dieser Individuen haben Pfeiltreffer, wir haben Schnittverletzungen zwischen den Rippen, da ist dann mit Lanzenspitzen oder Dolchen gestochen worden, wir haben einige Hiebverletzungen, es gab also offenbar auch Schwerter, und wir haben Spuren stumpfer Gewalt, vor allem an den Schädeln in Form von Frakturen, die durch gezielte Keulenschläge im Nahkampf beigebracht worden sind.

V. Atmo Jantzen_1 11:15
Dann gucken wir uns mal die Langknochen an.

Sprecher
Im nächsten Karton zeigt Jantzen einen Oberschenkelknochen:

10. OT Jantzen_2 3:30
Knistern. Und an der tiefsten Stelle entdeckt man ein Loch, das ungefähr dem Querschnitt einer Pfeilspitze entspricht. Hier ist offensichtlich eine Pfeilspitze eingedrungen und dann ist diese Pfeilspitze wahrscheinlich wieder herausgezogen worden, das ist ein Phänomen, das wir an vielen Knochen feststellen können, dass eingedrungene Projektile wieder herausgezogen wurden.

Sprecher
Vielleicht hat ein Kamerad versucht, dem Verletzten zu helfen. Wahrscheinlicher ist aber, dass jemand den Pfeil beim Plündern herauszog, weil er die Spitze wiederverwenden wollte.

ATMO

11. OT Jantzen_2 16:35
Das hier ist eine Gürteldose, das ist ein kleines Gefäß aus gegossener Bronze, dessen Oberfläche sehr schön verziert ist mit einem strahlenförmigen Muster -

MUSIK

Sprecher
 - ein prachtvolles Stück, das nichts Kriegerisches an sich hat: Die eingetieften Kreise und Strahlen des sonnenähnlichen Musters sind mit schwarzem Birkenpech gefüllt worden und ergeben einen schönen Kontrast zur golden schimmernden Bronze. Solche Dosen trugen Frauen häufig am Gürtel. Tatsächlich sind unter den Opfern der Schlacht auch einige Frauen identifiziert worden – waren sie Kriegerinnen? Oder zogen sie mit den Truppen mit wie später die legendäre Mutter Courage? Sie könnten aber auch eine Handelskarawane begleitet haben – die Frage, welche Rolle die Frauen spielten, ist ebenfalls noch ein Rätsel. Die anderen naturwissenschaftlichen Analysen blieben unergiebig. Hinweise auf die Herkunft eines Toten kann das Mischungsverhältnis von Strontium-Atomen geben, die sich in der Jugend in den Zähnen anlagern. Doch das Rätsel der Tollense-Schlacht ließ sich damit nicht lösen: Die Messungen deuteten auf Landschaften quer durch Europa hin.
Auch Genetiker konnten nicht helfen: DNA-Spuren aus den Skelettresten zeigten nur, dass die Toten nicht miteinander verwandt waren. Daher stützt sich Detlef Jantzen bei seiner Interpretation vor allem auf anthropologische Erkenntnisse: Durch anhaltende Belastungen verursachte Veränderungen an den Knochen deuten darauf hin, erläutert er, dass die Menschen in ihrem Leben viel gelaufen waren und dass sie schwere Lasten getragen haben.

12. OT Jantzen_2 44:45
Wir haben dort also eine Menschengruppe vor uns, weit überwiegend Männer, einige Frauen, regionale Herkunft ist sehr unterschiedlich, sie sind offenbar nicht mit einander verwandt und sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie weite Strecken gelaufen sind und dass sie teilweise auch schwere Lasten trugen. Und das Bild passt nicht wirklich zum Bild eines Kriegerbundes, sondern führt zu der Notwendigkeit, in Betracht zu ziehen, ob man dort nicht eine Gruppe vor sich hat, die für Warentransport zuständig war?

MUSIK

Sprecher
An den Ufern der Tollense wurde eine Karawane überfallen, die auf der Fernhandelsroute unterwegs war, glaubt Detlef Jantzen. Die Angreifer überraschten sie mit einem Hagel von Pfeilen, dann kam es zum Nahkampf mit der bewaffneten Bedeckung der Händler. Wer den Kampf gewann? Ungeklärt. Wer die Sieger auch waren, sie nahmen alles mit: Die Wertgegenstände der Gefallenen und das Handelsgut – doch was war das Handelsgut? Vielleicht Zinn, meint der Landesarchäologe: Bei den Ausgrabungen sind zwei kleine Zinn-Objekte von normierter Größe ans Licht gekommen. Oder Pferde, denn auch Knochen von fünf Pferden sind gefunden worden.
Dieses Szenario ist jedoch auf entschiedene Kritik gestoßen. Thomas Terberger, Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Göttingen, hat das DFG-Projekt zusammen mit Detlef Jantzen geleitet.

13. OT Terberger 36:01
Erst mal stimmen ja die Hypothesen darin überein, dass wir hier ein Gewalt-Level sehen und eine Opferzahl, wie wir sie noch nie gehabt haben in der Bronzezeit – aus ganz Mitteleuropa und darüber hinaus!

Sprecher
Doch aus den Erkenntnissen zieht Terberger andere Schlüsse. Er betont:

14. OT Terberger 36:01
Dass, wenn wir 150 Opfer kennen, wir davon ausgehen müssen, dass mindestens noch mal so viele, möglicherweise noch mehr, dort im Boden liegen – und dann haben wir eine Anzahl von Individuen, die mir für eine Handelskarawane schon als sehr groß erscheinen würde.

Sprecher
Terbergers Rechnung: Da nur kleine Abschnitte in der 2 ½ Kilometer langen Kampfzone ausgegraben wurden, liegen im Boden weitere Opfer. Und die Sieger haben ihre Toten wahrscheinlich mitgenommen, um sie würdig zu bestatten: Daher könnten an der Tollense insgesamt 300 bis 600 Menschen gefallen sein – wie viele Kämpfer standen sich demnach bei Beginn des Gefechts gegenüber?

15. OT Terberger 2:16
Ich halte es nicht für übertrieben, dass wir durchaus auf weit mehr als 1000 Individuen kommen. So dass es nicht unrealistisch ist, von bis zu 2000 Personen auszugehen.

Sprecher
Auch andere Forscher halten die Kalkulation für plausibel. Terberger schließt daraus, dass sich zwei Heerhaufen in einer Feldschlacht gegenüberstanden. Er bezweifelt, dass es schon reguläre Armeen in der Bronzezeit gab. Eher waren es kleinere Kriegergruppen, die sich zusammengeschlossen hatten, weil es um eine attraktive Beute ging - wie die Kontrolle über eine wichtige Rohstoff-Handelsroute. Thomas Terberger hebt einen anderen Punkt hervor:

17. OT Terberger 36:46
Was sehen wir denn, was tatsächlich auf Handel hinweist? Wenn eine Handelskarawane überfallen wird, dann würde ich zumindest teilweise erwarten, dass sich Handelsgüter in unserem Fundmaterial widerspiegeln. Natürlich wird geplündert und alles mitgenommen, was man in die Hände bekommt, aber es sieht ja so aus, als seien Opfer in den Fluss gelangt und nicht mehr zugänglich gewesen. Und die Funde, die im Fluss liegen, zeigen uns von Menge und Charakter her eher kleine Mengen. Das ist eher persönliche Ausstattung als nun Handelsgut.

Sprecher
Die Archäologen fanden beispielsweise 250 Gramm Bronzebruch und die beiden Zinnobjekte zu je 22 Gramm: Darin sieht Jantzen Reste von Handelsgut. Doch für professionelle Händler auf einer langen, gefährlichen Reise wären das allzu kleine Mengen. Überdies haben sie nicht die Form von Handelsgut, die Terberger für die späte Bronzezeit erwartet:

18. OT Terberger 39:33
Typisch sind zum Beispiel Barren, also Kupfer-, Zinn-Barren – die müssen ja nicht gleich 50 Kilo wiegen, aber Fragmente davon, also irgendetwas, was auf eine standardisierte Form des Handels mit Rohstoffen hinweist. Wir wissen, dass in dieser Zeit Glasperlen in den Norden gelangen – dann würde ich doch mal Glas erwarten. Alles, was als Handelsgut in größerem Stil zu erwarten wäre, sehe ich im Tollense-Tal nicht. Ich sehe, dass unsere Funde aus Metall oder Bronze-Waffen sind oder zur persönlichen Ausstattung von Männern passen.

MUSIK

Sprecher
Der Streit ist nicht entschieden, das Rätsel ungelöst. Eine eindeutige Antwort liefern die Funde nicht, deswegen plädieren die beteiligten Wissenschaftler für weitere, vor allem naturwissenschaftliche Auswertungen des vorliegenden Materials. Einig sind die Forschenden nur darüber, dass die Toten aus dem Tollense-Tal letztlich zu den Opfern einer überregionalen Umwälzung gehören, eines großen politischen und auch ideologischen Wandels. Detlef Jantzen:

19. OT Jantzen_2 57:47
Die Zeit um 1300 vor Christus ist nun eine Zeit des Umbruchs, da passiert eine ganze Menge, es gibt im religiösen Bereich einen Wandel, man geht weg von der Körperbestattung hin zur Brandbestattung und man stellt fest, dass die Metallversorgung ins Stocken gerät, also der Metallzufluss, der bisher offensichtlich problemlos geklappt hat, wird jetzt schwieriger. Man fängt noch mehr an zu recyceln, als man das vorher getan hat. Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Ereignisse im Tollense-Tal mit diesem Umbruch etwas zu tun haben, dass sie mit einer Neustrukturierung oder Kämpfen um die Handelswege zusammenhängen.

MUSIK

Sprecher
Es waren die Schockwellen einer Katastrophe im östlichen Mittelmeerraum, die das norddeutsche Flüsschen erreichten. Dort entwickelte sich im 13. Jahrhundert vor Christus in den reichen Hochkulturen eine existenzielle Krise: durch eine Reihe schlechter Ernten, soziale Unruhen und Angriffe fremder Völker. Nur die ägyptischen Pharaonen konnten sich behaupten. Die anderen Reiche fielen wie die Dominosteine: Das Imperium der Hethiter in Anatolien, die Herrschaft der Mykener in Griechenland, das Königtum auf der Kupfer-Insel Zypern. Damit endete die Bronzezeit – und man weiß heute davon, weil die Schrift im östlichen Mittelmeerraum seit langem bekannt war: Auf Tontäfelchen und in Inschriften ist eine Vielfalt schriftlicher Zeugnisse erhalten.
Die Staaten dieser Region waren untereinander wirtschaftlich und diplomatisch eng vernetzt – und unterhielten auch Handelsbeziehungen nach Mittel- und Nordeuropa. Der Umfang ist unklar, nachgewiesen nur der Austausch von Luxusgütern: Bernstein von der Ostsee erfreute sich bei Eliten des Südens großer Beliebtheit. In nordeuropäischen Gräbern wiederum kam Schmuck aus den südlichen Kulturen ans Licht, berichtet Professor Lorenz Rahmstorf, Spezialist für die europäische Ur- und Frühgeschichte an der Universität Göttingen:

20. OT Rahmstorf_1  3:18
Zum Beispiel Glasperlen, das können wir direkt nachweisen, dass sie bestimmte Formen aufweisen, die wir aus dem Ostmittelmeerraum kennen, das ist nach Norden gekommen, die mykenische Keramik ist zumindest bis nach Norditalien gekommen. Die Glasperlen können wir auch analysieren, da hat sich gezeigt, dass dieses Glas, das sogar in dänischen Gräbern als Perlen gefunden wurde, aus dem Ostmittelmeerraum stammen muss, möglicherweise sogar aus mesopotamischen Werkstätten, es gibt auch ägyptische Werkstätten. Aber sicher war Bernstein und Glas auch nur ein Beiprodukt des Austausches, weil das Neue in der Bronzezeit war, dass die jetzt Metalle in sehr großem Umfang getauscht haben.

Sprecher
Ein Austausch drängt sich auf, denn die Hochkulturen hatten Bedarf und Mitteleuropa die Ressourcen. Seit langem bekannt ist der frühgeschichtliche Zinnabbau in Cornwall:

21. OT Rahmstorf_1 6:45
Es gab mehr Lagerstätten als nur in Cornwall, Europa ist da vergleichsweise gut gesegnet mit Zinnlagerstätten, auch das Erzgebirge, in den letzten Jahren ist das tatsächlich sehr wahrscheinlich geworden, dass bronzezeitlich hier dies Metall auch schon abgebaut wurde.

MUSIK

Sprecher
Und Bergbau auf Kupfer ist im Erzgebirge wie auch in den Alpen nachgewiesen worden. Wenn die Abnehmer am Mittelmeer aber plötzlich vom Thron gestürzt wurden oder die Herrscher nicht mehr ihre schützende Hand über die Händler hielten, geriet das ganze Netzwerk in Unordnung. Dann wurden Karawanen ausgeraubt und neue Herren sicherten sich die Kontrolle über die Fernhandelsrouten. Doch was an der Tollense genau geschah, liegt noch immer im Dunkel. Die Toten, ihre Anführer und ihre Heimat werden erst einmal namenlos bleiben.

Neueste Episoden