Superkraft statt Behinderung Ist Kanye West jetzt die Gallionsfigur der bipolaren Community?
Auf seinem neuen Album "Ye" outet sich Kanye West als bipolar und bezeichnet seine Erkrankung als Superkraft. Kann er im Alleingang die Stigmatisierung von bipolaren Menschen abschaffen?
"I hate being Bi-polar its awesome" - schon das Albumcover von "Ye" macht klar: Kanye West bezeichnet sich selbt als bipolaren Menschen. Also als jemanden, der unter einer schweren psychischen Erkrankung leidet, bei der sich manische und depressive Phasen abwechseln - und die bis zu extremer Selbstzersötrung oder sogar Selbstmord führen kann. Ob Kanye Wests Krankheit tatsächlich ärztlich diagnostiziert ist, weiß gerade niemand, aber die Zeichen sprechen dafür, dass er tatsächlich krank ist: seine Einweisung in eine Klinik wegen "Schlafstörungen", so gut wie jedes Interview, das er nach 2005 gegeben hat und eben dieses Album "Ye", auf dem er von angsterregenden Zuständen spricht, die er erlebt hat.
Ermutigende Botschaft an Betroffene
Kann Kanye West mit seinem Outing zu einer Stimme der bipolaren Community werden? Kann er möglicherweise auch die Art und Weise verändern, in der wir mit bipolaren Menschen umgehen? Gerade die letzten Zeilen des zweiten Tracks "Yikes" werden im Moment heftig diskutiert.
"See, that's my third person
That's my bipolar shit, nigga, what?
That's my superpower, nigga, ain't no disability
I'm a superhero! I'm a superhero!"
- Kanye West auf Yikes
Kanye West will die bipolare Störung nicht als Behinderung verstanden wissen, sondern als Superkraft. Er bietet also eine potive Lesart der Erkrankung an. Bei Twitter haben sich daraufhin Betroffene gemeldet, die diese Zeilen inspirierend und tröstlich finden.
if Kanye say my bipolar disorder is a superpower then gahdammit it's a superpower
— CENSORED🏳️🌈dialogue (@censoredialogue) 1. Juni 2018
'Here’s hoping that years down the line we’ll be able to credit Kanye West’s ye as the record that brought with it a new way of talking about #mentalhealth.' #tuesdaymotivation#bipolar#ye#yeneratorhttps://t.co/x33hy04YNx
— thoughtclimber (@thoughtclimber) 5. Juni 2018
Auch Professor Peter Brieger, Experte für Bi-Polare Erkrankungen vom Isar Amper Klinikum, glaubt, dass das einen positiven effekt haben kann:
"Natürlich ist Kanye West, wie viele andere Künstler auch, eine Identifikationsfigur. Und wenn man merkt: So eine Krankheit kann jeden treffen, das kann auch ganz berühmte Menschen treffen - dann ist es vielleicht gar nicht so schlimm, wenn es dann jemanden im Umfeld trifft."
- Professor Peter Brieger, Isar Amper Klinikum München
Als Prominenter über seine Erkrankung zu sprechen, kann also schon einen entstigmatisierenden Effekt haben und nicht betroffene Menschen im Umgang mit bipolaren Menschen ein bisschen entspannen. Zumal Kanye West seine Krankheit nicht verherrlicht, sondern auf "Ye" auch die Schattenseiten der Erkrankung in den Blick nimmt. Schon beim ersten Hören des neuen Albums wird man direkt in die dunklen Ecken seines Kopfes mitgenommen. Im Intro erzählt er minutenlang von seinen Selbstmordgedanken, moduliert seine Stimme, erzeugt das Gefühl, dass da mehrere Kanyes im Studio gewesen sind: ein glücklicher - und ein tief verstörter.
Spricht Kanye für eine Community oder nur für sich selbst?
An Kanyes Darstellung der bipolaren Störung gibt es aber auch Kritik. Zum Beispiel von bipolaren Menschen, die sich in keinster Weise wiederfinden können.
Bipolar is not a superpower and when not treated it will at the very minimum stress your personal relationships and your finances. At worst it will kill you. If you feeling it, please seek help. Mania and depression is not something you want to handle by yourself. #YE#bipolar
— Albert Cane (@AlbertCane8) 1. Juni 2018
As someone with bipolar disorder, Kanye’s depiction of it on his album is cheap & not translated well.
— Daytona (@HunterReddeh) 1. Juni 2018
Never once in my 19 years of living has a manic or depressive episode turned me full MAGA. It’s a weak artistic concept & no amount of soul samples can make me think otherwise
Für Professor Thomas Schulze von der LMU München sind die Texte von Kanye West mit Vorsicht zu genießen.
"Die Mehrzahl der Menschen sind Menschen wie du und ich, die ihrer Arbeit nachgehen wollen, die ihrem Studium nachgehen wollen - und das aber durch die Erkrankung nicht machen können. Und die sind eben nicht Popstars oder irgendwelche Künstler. Wenn die dann hören: Ja, das ist so toll, weil man kreativ ist, dann kriegen die noch eins drauf. Sie sind dann diejenigen, die die Erkrankung haben - aber nicht mal kreativ sind."
- Professor Thomas Schulze, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie LMU
Dass Kanye West sich auch auf "Ye" trotz seiner Ehrlichkeit gnadenlos selbst darstellt, ist klar. Kritisiert wird darüber hinaus auch, dass er das Label "bipolar" jetzt für sich vereinnahmt, um auch Leute in die Läden zu bringen, die von seinen wirren Tweets und Interviewaussagen in den Wochen vor dem Albumrelease abgeschreckt worden sind. Damit ist natürlich keinem geholfen.
Trotzdem ist es wichtig, dass psychische Erkrankungen nicht verschwiegen werden. Auch von Kanye West nicht.
Sendung: Filter, 05.06.2018 - ab 15.00 Uhr