Subgenres Wie die Musikindustrie die Facetten von Rap ignoriert

Über die Jahre sind viele Rap-Subgenres entstanden, wie Trap, Cloudrap, Grime, Drill oder Crunk. Grenzen lassen sich da oft nicht klar abstecken. Umso wichtiger wäre es, dass die Musikindustrie auf die Komplexität von Rap eingeht.

Von: Jan Limpert

Stand: 08.07.2020 | Archiv

Grafik | Bild: BR

Ist "Freeee (Ghost Town Pt. 2)" von Kanye und Kid Cudi nicht streng genommen ein Rock-Song? Kann man Post Malone überhaupt konsequent als Rapper bezeichnen? Ist Lil Nas X’s "Old Town Road" mit Billy Ray Cyrus mehr Country als Trap?

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Hip-Hop's Subgenre Problem | Bild: HipHopMadness (via YouTube)

Hip-Hop's Subgenre Problem

Gerade in der Musikindustrie, in der Kategorien wichtig sind, um Künstler*innen zu vermarkten und den Konsument*innen einen Überblick zu verschaffen, sollten solche Fragen im Vorfeld diskutiert werden - gerade weil Rap immer komplexer und facettenreicher wird. Doch dafür scheint sich die Musikindustrie nicht zu interessieren.

Genres und Artists entwickeln sich kontinuierlich weiter

Songwriting am Laptop, kostenlose Software und Streaming-Plattformen: es gibt viele Möglichkeiten Musik zu produzieren und zu veröffentlichen, ohne als Künstler*in Unsummen auszugeben - auch ohne Plattenvertrag und Label. Für Hörer*innen bedeutet das: Wir können Unmengen an Songs, Alben und auch Genres kostenlos konsumieren. 

Im Rap war es schon immer Gang und Gäbe sich bei anderen Genres zu bedienen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Entsprechend groß ist mittlerweile die Zahl der Subgenres, also der stilistischen Unterschiede. Wenn sich neue Genres weiterentwickeln, werfen sie auch immer wieder neue Fragen auf, sagt Dr. Sina Nitzsche, Gründerin des European HipHop Studies Network:

"Genres sind Produkte des Zeitgeistes. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist es interessant zu fragen: warum ist ein Genre populär? Was macht z.B. den Cloudrap zum Cloudrap? Wo ist der Cloudrap anders als z.B. der Trap. Was macht ein Genre zum Genre? Welche gesellschaftlichen Fragen werden in Genres aufgegriffen und verarbeitet? Was sagt ein Genre über unsere Zeit aus?"

 Dr. Sina Nitzsche, European HipHop Studies Network

Leider geht die Musikindustrie mit Genre-Bezeichnungen nicht ansatzweise so reflektiert um, wie die Wissenschaft. Obwohl Genre-Bezeichnungen zur Orientierung für die Fans wichtig sind, bringen sie auch gravierende Nachteile für Künstler*innen mit sich. Vor allem dann, wenn Sie oberflächlich und unbedacht verwendet werden. 

"Die Gefahr von Genres ist auch, dass ein Künstler in eine Box gesteckt wird. Das ist DER Gangster-Rapper, das ist DER Conscious-Rapper, das ist DIE Cloudrapperin. Und dass es für den Künstler und die künstlerische Entwicklung schwierig sein kann, aus dieser Box wieder herauszukommen."

Dr. Sina Nitzsche, European HipHop Studies Network.

Die Genre-Zwangsjacke der Grammys

Bei den Grammys wird die Musik der Nominierten in groben Kategorien zusammengefasst: Rap, Pop, Latin, Alternative, Blues, Country, R’n’B, Gospel, Urban, Jazz. Darunter kann man alles und nichts verstehen. Damit wird die vielfältige Musik einzelner Künstler*innen stark verallgemeinert.

Dass Nuancen und stilistische Besonderheiten der nominierten Künstler*innen großflächig ignoriert werden, wurde auf der Grammy-Verleihung 2020 deutlich. Tyler The Creator bekam den Grammy in der Kategorie "Best Rap Album" für "IGOR" verliehen, ein Album auf dem hauptsächlich gesungen und nicht gerappt wird und das sich hörbar extrem an Soul, Funk und R’n’B orientiert.

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IGOR'S THEME - Tyler, The Creator | Bild: TopicRumba (via YouTube)

IGOR'S THEME - Tyler, The Creator

Die Entscheidung der Grammy-Jury "IGOR" dennoch als "Rap-Album" zu bezeichnen, zeigt wie eindimensional Künstler*innen oft betrachtet werden und wie sich bestimmte Genreinordnungen festfahren, frei nach dem Motto: einmal Rapper, immer Rapper.

Im Anschluss an die Verleihung kritisierte Tyler The Creator übrigens die Grammys dafür, dass sie Künstler*innen wie ihn, die genreübergreifende Musik machen, gerne aufgrund ihrer Hautfarbe in die Kategorien "Rap" oder "Urban" stecken - anstatt sie als Pop-Artists zu sehen. Für Tyler The Creator hat das einen faden Beigeschmack, weil "Urban" für ihn eine vermeintlich politisch korrekte Beschreibung für Musik von schwarzen Künstler*innen ist.

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Tyler, The Creator TV/Radio Room Interview | 2020 GRAMMYs | Bild: Recording Academy / GRAMMYs (via YouTube)

Tyler, The Creator TV/Radio Room Interview | 2020 GRAMMYs

Aussagelose Spotify-Playlisten

Modus Mio ist laut Spotify "die wichtigste HipHop-Playlist Deutschlands". Künstler*innen, die hier reinkommen, können sich auf steigende Klickzahlen und Streaming-Fame freuen. Modus Mio wurde damit zum geflügelten Wort für "Mainstream-Einheitsbrei" und wird auch in Rap-Tracks thematisiert, zum Beispiel von LGoony:

"Rapper ändern für den Algorithmus ihren Sound,
Playlisten-Rassismus,
wenn du anders bist, dann bist du raus
(Modus Mio)"

LGoony 'Allein Gegen Alle'

Hier reihen sich die Reggaeton-Vibes von Capital Bra und Bozzas "Ich weiß noch nicht mal wie sie heißt" an RINs Trap lastigen Track "Das Rennen" und Dardans Song "FAVELA", der sich stark an Electro- und Club-Sounds orientiert. Das ist Spotify aber egal, Hauptsache die Tracks sind auf Deutsch, generieren Klicks und die Interpret*innen gehen als Rapper*innen durch.

Anstatt plumper Verallgemeinerungen wären detaillierte, musikalische Differenzierungen angebracht. Wie wäre es zum Beispiel endlich mal mit kuratierten Subgenre-Playlisten, die zumindest versuchen, die musikalische Vielfalt im Rap abzubilden - unabhängig vom Hit-Potenzial und der Beliebtheit der Artists? Doch das umgeht Spotify oft geschickt, indem es alternative, grobmaschige Bezeichnungen wählt, wie zum Beispiel "UK Rap". Dass man darunter aber mal wieder alles und nichts verstehen kann, steht außer Frage.

Major-Labels setzen auf Namen statt Genres

Welche Acts nun ganz genau welche Musik machen, ist für die großen Musiklabels kaum relevant. Diskussionen um Genre-Grenzen und -zuweisungen überlassen sie den Fans, Blogs und Journalist*innen. Major-Labels wie Warner, Sony und Universal Music ordnen ihre Acts auf ihren Websites in alphabetischer Reihenfolge - und nicht nach Genres. So sparen sich die drei größten Musiklabels der Welt Diskussionen um vermeintlich falsche Kategorisierungen, schaffen dadurch aber mitunter absurde Bilder, wenn beispielsweise die Punkrock-Band Betontod auf Beyoncé folgt.

Ein möglicher Grund für das Weglassen von Genres könnte die Überforderung der Fans und Plattenlabels mit den unterschiedlichen Subgenres sein, die nicht nur im Rap existieren. 

"Ein Nachteil von diesem Genre-Pluralismus kann die Übersichtlichkeit sein, sprich, dass sich das Rap-Genre zu sehr in Subströmungen verästelt. Aus der Perspektive der Musikindustrie führt das noch mehr zu Nischenmärkten, die immer noch kleiner sind. Für die Industrie ist es wahrscheinlicher schwieriger, daraus ihren Gewinn zu ziehen."

Dr. Sina Nitzsche, European HipHop Studies Network. 

Was wir von der Wissenschaft lernen können 

Anders als die Musikindustrie setzt sich die Wissenschaft differenzierter mit Genres auseinander, so zum Beispiel Dr. Stefan Meier, Medienwissenschaftler an der Universität Koblenz/Landau:

"In der Regel nimmt man nie einen Genrebegriff, sondern man kombiniert sie, um das Einzelphänomen beschreiben zu können. Das ist besser, als wenn es nur eine grobe Genre-Einteilung gibt und man unheimlich viele, unterschiedliche Phänomene hat, die man eigentlich gar nicht individuell beschreiben kann."

Dr. Stefan Meier, Universität Koblenz/Landau

Von dieser Herangehensweise könnte sich die Musikindustrie ruhig eine Scheibe abschneiden, denn Schwarz-Weiß-Denken ist 2020 auch in der Musikbranche nicht mehr angebracht. Man muss nicht jedem Track gleich den Rap-Stempel aufdrücken, nur weil es sich gerade gut verkauft. Und am Ende sind doch auch die Songs am spannendsten, die man nicht sofort in eine Box packen kann.

Sendung: PULS am 07.07.2020 - ab 19.00 Uhr