Digitalcharta Wie jeder zur Verfassung fürs Internet beitragen kann
Die digitalisierte Gesellschaft ist längst Realität. Nur verbindliche Regelungen gibt’s nicht. Das soll sich jetzt ändern – mit einer "Internet-Verfassung". Und bei der kann jeder mitdiskutieren, was am Ende drinstehen soll.
Von: Miriam Harner
Stand: 01.12.2016
| Archiv
Die digitale Welt entwickelt sich super schnell. In vielen Bereichen gleicht das Netz nach wie vor einem digitalen Wilden Westen. Viele ganz grundsätzliche Spielregeln sind gar nicht festgehalten. Das sieht man zum Beispiel beim Thema Hetze im Internet: Wie kann man dagegen vorgehen? Oder beim Datenschutz: Wer darf mit meinen Daten was tun? Dafür gibt’s in der EU bislang keine einheitlichen Gesetze oder Regelungen. Geht’s nach Martin Schulz, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, soll sich das aber ändern. Er setzt sich gerade für ein Dokument ein, in dem drin steht, welche Grundregeln in Zukunft für die digitale Welt gelten könnten.
Bei diesem Dokument handelt es sich um einen Vorschlag für eine "Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union". Das klingt megahochgestochen, letztlich handelt es sich aber einfach um eine Art Verfassung fürs Internet. Es geht darum, welche Rechte jeder von uns gegenüber dem Staat, internationalen Großkonzernen und anderen Personen im Internet hat. Die 23 Artikel der Digitalcharta befassen sich zum Beispiel damit, was man gegen Hate Speech machen soll, wie sich Diskriminierung im Internet verhindern lassen kann oder wie weit der Staat bei der Massenüberwachung gehen darf. Bislang handelt es sich nur um einen Entwurf, am Ende soll das Regelwerk aber ein digitalgesellschaftliches Fundament der EU bilden.
Um zu checken, wie das Ganze am Ende dann aussehen könnte, hier mal ein Beispiel:
Artikel 1 im Grundgesetz lautet so:
"(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Artikel 1, GG
Zum Vergleich Artikel 1 im Entwurf der Digitalcharta:
"(1) Die Würde des Menschen ist auch im digitalen Zeitalter unantastbar. Sie muss Ziel und Zweck aller technischen Entwicklung sein und begrenzt deren Einsatz."
Artikel 1, Entwurf der Digitalcharta
Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments
Bild: picture-alliance/dpa
Jetzt ist Martin Schulz bisher nicht unbedingt als krasser Internetnerd auffällig geworden. Aber er hat den Text ja auch nicht selbst geschrieben. Initiiert wurde das Projekt nämlich von der gemeinnützigen ZEIT-Stiftung. Die hat sich 27 Experten und Prominente aus Medien, Wissenschaft, Politik und der Hackerszene ins Boot geholt, die in den letzten 14 Monaten bei der Ausarbeitung der Internet-Verfassung mitgeholfen haben. Dazu zählen zum Beispiel der Blogger Sascha Lobo, die Autorin Juli Zeh oder re:publica-Mitgründer Johnny Haeusler. Auch der Intendant des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm, zählt zu den Initiatoren des Projekts. Außerdem gibt’s jede Menge anderer Promis, die den Vorschlag unterstützen. Insgesamt haben 50 bekannte Leute ihr Servus unter die Charta gesetzt, unter anderem Jürgen Habermas, der weltberühmte deutsche Philosoph und Soziologe.
Noch handelt es sich bei der Digitalcharta aber nur um einen ersten Entwurf. Heute wurde er in den größten deutschen Tages- und Wochenzeitungen abgedruckt. Außerdem gibt's eine Internetseite, auf der jeder über die "Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union" mit den Experten diskutieren kann. Das oberste Ziel der Initiatoren ist nämlich, dass mit ihrem Verfassungsvorschlag eine europaweite Debatte über die Zukunft der digitalen Gesellschaft angestoßen wird und die Frage geklärt wird, wie man sie politisch gestalten kann.
An der Diskussion sollen wir uns möglichst alle beteiligen und unsere Ideen einbringen, so Michael Göring, Vorstandsvorsitzender der ZEIT-Stiftung:
"Diese digitale Welt ist unsere Welt der Zukunft und wir sind jetzt aufgerufen, hier in Gemeinschaft mit vielen Bürgerinnen und Bürgern zu diskutieren, wie wir sie gestalten wollen. Das ist unser Aufruf."
Michael Göring, Vorstandsvorsitzender ZEIT-Stiftung
Am 5. Dezember stellt Martin Schulz den Entwurf dann ganz offiziell nochmal im EU-Parlament vor. Wie genau die Internetverfassung dann am Ende aussieht und ob sie überhaupt irgendwann vom EU-Parlament verabschiedet wird, weiß noch niemand. Grundsätzlich ist die Diskussion darüber aber längst überfällig. Auch Freiheit braucht eben ein paar Regeln, ansonsten kann sie ganz schnell gegen uns verwendet werden. Und je pluralistischer, transparenter und offener der Prozess ist, mit dem allgemein verbindliche Grenzen festgesteckt werden, desto besser.