Das Corona-Tagebuch Die Subkultur wird neue Wege finden

In der Popkultur wurden schon viele Weltuntergänge besungen. Bisher waren solche Endzeitstimmungen vor allem geprägt von einer Party-Laune, die das böse Erwachen am nächsten Morgen schon darum nicht zu fürchten brauchte. Das hat sich geändert, sagt Konzertkritiker Dirk Wagner.

Von: Dirk Wagner

Stand: 01.04.2020 | Archiv

Bild: Peter Wagner

Wegen des Corona-Virus wurde nicht nur das 'Morgen' in Frage gestellt. Es wurde zu unserer Sicherheit auch das 'Jetzt' ausgeschaltet. Also sitze ich, der immerhin den Vorzug hat, alleine zu leben und darum keine Launen von anderen ertragen muss, quasi in Einzelhaft. Wobei man sich meine Zelle eher wie eine Mischung aus Herberge und Schallarchiv vorstellen kann. Darin komm ich mir derzeit vor wie ein Schatzsucher, der in Ermangelung von Alternativen einen verborgenen Schatz nach dem anderen birgt. Nicht nur Tonträger im Übrigen, sondern auch wertvolle Bücher, die offensichtlich mal wichtig genug waren, um sie zu kaufen, aber nicht wichtig genug, um sie gleich aus ihrer Zellophan-Verpackung zu befreien. Sprich: ich könnte wochenlang auch ohne Internet meine Pandemie-bedingte Arbeitslosigkeit kaschieren.

Kultur im Netz

Doch zum Glück gibt es ja das Internet, wo ich mit Freunden nicht nur Online-Schach spiele und Popmusik diskutiere, sondern vor allem bieten dort Künstlerinnen und Künstler Programme an, die in den realen Veranstaltungsorten aktuell nicht stattfinden dürfen. Zumindest nicht mit Zuschauern vor Ort. Stattdessen genossen zum Beispiel über 6000 Menschen an ihren Rechnern sitzend den ersten der Theatermitschnitte, die die Münchner Kammerspiele ins Netz stellten. Und als das Münchner Marionettentheater am internationalen Tag des Puppenspieles seine Figurentheater-Version von Mozarts Zauberflöte zeigte, ermöglichte die Kamera den Zuschauern eine Nähe zu den Figuren, wie sie sie im Zuschauerraum des Theaters nie erfahren. Nicht, dass das dauerhaft einen richtigen Theaterbesuch ersetzen könnte, aber für den Augenblick genoss ich gerade dieses Marionettenspiel als einen Gewinn.

Live-Konzerte im Intenet: Wer will kann dort auch ein virtuelles Bier trinken

Weill ich sonst ja auch mehr Zeit in Konzerten verbringe, zappe ich mich derzeit vom Theater-Virus infiziert, durch die hiesigen Bühnen, werde zum Fan der Montags-Konzerte des Nationaltheaters und erlebe endlich auch die großartigen Inszenierungen der Schauburg für Kinder und Jugendliche. Und plötzlich erlebe ich diese oft als entschleunigt beschriebene Zeit deutlich weniger entschleunigt. Nimmt man noch die Filme und Hörspiele aus den Mediatheken hinzu, fange ich selbst schon an, mich darüber zu wundern, wie viele Konzerte und Theateraufführungen ich online am Tag regelrecht aufsaugen kann. Dekadenterweise genieße ich darum vor allem die kurzen Shows, die mir genügend Gelegenheit lassen, noch in andere Angebote einzutauchen. Etwa das halbstündige Konzert des Gitarren-Duos Zwinkelman, das kommenden Montag um 20 Uhr auf den Internet-Seiten der Münchner Glockenbachwerkstatt eine darin ebenfalls ohne Publikum aufgezeichnete konzertreihe startet. Wer will, kann dort dann auch ein virtuelles Bier kaufen. Das Geld wird dann auf die beteiligten Künstler verteilt. Wegen der tatsächlichen Konzertausfälle verdienen die aktuell nämlich gar nichts.

Wie zarte Blumen durch den Asphalt brechen

Gene, der die Konzerte aus der Glocke auch noch mit Visuals anreichern wird, erzählte mir am Telefon, das seine Aufträge bis Ende Mai komplett "gecancled" wurden. Mir als freiberuflichen Konzert-Kritiker geht es da freilich nicht besser. Doch anders als Gene muss ich zu meinem Lohnausfall nicht auch noch Kinder versorgen. So gesehen tu ich mich vielleicht auch leichter, wenn ich gerade jetzt dazu anregen mag, die lokalen Schallplatten- und Buchhändler zu unterstützen, statt Amazon als den großen Sieger aus dieser Krise hervorgehen zu lassen. Und ich tu mich vielleicht auch leichter mit der Möglichkeit, Gutscheine für spätere Konzertbesuche oder Getränkebestellungen zu kaufen, um damit zu verhindern, dass die aktuelle Situation den kleineren Club-Betreibern und Veranstaltern das Genick bricht.

Denn wenn wir die Welt nach Corona nur den Unternehmen überlassen, die den mehrwöchigen Verdienstausfall verkraften, werden wir absehbar mit deren gewinnorientierten Mainstream-Programmen leben müssen. Für spannende kulturelle Experimente ist da meist wenig Platz. Nicht, dass ich jetzt pessimistisch den Niedergang der Kultur befürchte. Wie zarte Blumen letztlich auch den Asphalt brechen, wird auch die Subkultur neue Wege finden, einen wie auch immer gearteten Mainstream aufzubrechen. Allerdings fände ich es sehr undankbar, die jetzigen Protagonisten solcher Subkultur jetzt hängen zu lassen.