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Hörbuch der Woche "Das Ereignis" von Annie Ernaux

Annie Ernaux, die französische Literatur-Nobelpreisträgerin von 2022, blickt in ihren Büchern auf ihre eigene Vergangenheit zurück. Sie selbst bezeichnet sich als "Ethnografin ihrer selbst", wobei aus persönlicher Erinnerungsarbeit ein politisches Buch entsteht. So auch in dem autobiografischen Roman "Das Ereignis", in dem Ernaux 57 Jahre nach einer illegalen Abtreibung von 1964 auch die Rolle der Frau in der französischen Gesellschaft reflektiert. Kurz nach Erscheinen des Romans 2021 wurde die Geschichte verfilmt - für Isabelle Auerbach ist es das Hörbuch der Woche.

Von: Isabelle Auerbach

Stand: 11.08.2023

B5 aktuell: Das Hörbuch der Woche | Bild: colourbox.com/#257659; Montage: BR

"Seit Jahren umkreise ich dieses Ereignis in meinem Leben. Wenn ich in einem Roman von einer Abtreibung lese, stürzt mich das in eine bild- und gedankenlose Erstarrung als würden die Worte sofort zu einem heftigen Gefühl werden."

Zitat aus Hörbuch

In der literarischen Rückschau gelingt es Annie Ernaux, die eigene Erstarrung zu überwinden und Worte für ihr heftiges Gefühl zu finden. Sie beschreibt die Abtreibung als eine Erfahrung, die ihr Leben in extremer Weise verändert habe. Den Titel "Das Ereignis" hat sie bewusst gewählt, da es ein Leben vor und nach dieser körperlichen Erfahrung gibt. Durch das Schreiben legt sie anhand von kurzen Kalendereinträgen Erinnerungsschichten frei und dringt ins Innere vor.

"Die Dinge sind mir passiert, damit ich davon berichte. Das Ziel meines Lebens ist vielleicht einfach dies: dass mein Körper, meine Gefühle und meine Gedanken zu Geschriebenem werden, zu etwas Verständlichem und Allgemeinem also. Dass meine Existenz vollkommen im Leben der Anderen aufgeht."

Zitat aus Hörbuch

Annie Ernaux hat mehr als einen persönlichen Erfahrungsbericht verfasst. Stets ist sich die Schriftstellerin der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung bewusst, die ihre Geschichte als kollektive Erfahrungswirklichkeit von Frauen aus den 1960er Jahren begreiflich werden lässt. Die verzweifelte und ausweglose Suche nach Ärzten für den Schwangerschaftsabbruch, die brutalen Selbstversuche mit Stricknadeln oder Seifenlauge und schließlich das Aufsuchen einer sogenannten "Engelmacherin", einer Hebamme – eine Geschichte der Ängste und Demütigungen. Das gesellschaftliche Tabu spiegelt sich auch in der Sprache. Die 23-jährige Hauptfigur und ihr Freund, der sie geschwängert hat, vermeiden, es auszusprechen:

"Weder er noch ich hatten das Wort „Abtreibung“ in den Mund genommen. Es war etwas, was keinen Platz in der Sprache hatte."

Zitat aus Hörbuch

Unter dieser Verschwiegenheit und Geheimhalterei leidet die junge Ich-Erzählerin besonders.

Maren Kroymann, eine hervorragende Besetzung für dieses Hörbuch, klingt ruhig, erfahren und stark. Sie trifft mit ihrer klaren Altstimme den nüchtern sezierenden Ton ebenso wie den warmen empathischen. Selbst bei erschütternden Passagen, die neben den sachlichen Kalendernotizen stehen, wie etwa der des Schwangerschaftsabbruchs zuhause mit der Freundin O., klingt Maren Kroymann ruhig und bedacht. So wird das Ganze erträglicher, ohne die Handlung zu verharmlosen.  

"Wir wissen beide nicht, was wir tun sollen. Sie nimmt eine Schere, wir wissen nicht, an welcher Stelle wir schneiden, aber O tut es trotzdem. Wir betrachten den winzigen Körper mit dem großen Kopf unter den durchsichtigen Lidern sieht man die Augen, zwei blaue Flecken – wie bei einer Sorgenpuppe."

Zitat aus Hörbuch

"Das Ereignis" - eine schonungslose, ehrliche und mutige Erinnerungsarbeit. Sie wühlt auf und sensibilisiert für das Schicksal von Frauen, die ungewollt schwanger werden und keine seriöse Hilfe bekommen können – noch heute ein aktuelles Thema.

Das zweieinhalbstündige Hörbuch "Das Ereignis" von Annie Ernaux, gelesen von Maren Kroymann, übersetzt von Sonja Finck, ist im Audio-Verlag erschienen.


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