0

Hörbuch der Woche "Die Gouvernanten" von Anne Serre

Die Französin Anne Serre hat bereits 14 Romane veröffentlicht und bekam 2020 den renommierten Prix Goncourt de la Nouvelle für "Im Herzen eines goldenen Sommers", doch in Deutschland ist sie noch nicht sehr bekannt. Ihr Debüt-Roman "Die Gouvernanten" erschien 1992 und wurde in Frankreich mit großer Begeisterung aufgenommen. Trotzdem hat es über 20 Jahre gedauert, bis er ins Deutsche übersetzt wurde. Jetzt gibt es ihn auch als Hörgenuss, wunderbar eingelesen von Therese Hämer. Für Silke Wolfrum ist das das Hörbuch der Woche.

Von: Silke Wolfrum

Stand: 26.09.2023

B5 aktuell: Das Hörbuch der Woche | Bild: colourbox.com/#257659; Montage: BR

Bei den "Gouvernanten" geht es weder um Selbstfindung noch Gesellschaftskritik und schon gar nicht ist der Stoff historisch – obwohl man sich ins 19. Jahrhundert versetzt fühlt -  nein dieser Text ist ganz anders. Er hat etwas von einer Satire, viel vom erotischen Roman, ist vielleicht feministisch zu verstehen, vielleicht auch ganz existenziell und es geht irgendwie auch ums Schreiben selbst. Kurz, dieses Hörbuch ist genauso schillernd und schwer zu greifen wie seine Hauptpersonen, die Gouvernanten.

"Sie sind unwiderstehlich. Eleonore ist die edelste. Ihre Kopfhaltung, das hochgesteckte, glatte braune Haar, ihr griechisches Profil mit den ausgeprägten blassen Nasenflügeln machen aus ihr eine Frauengestalt von Ingres und dann belebt sich das Ganze, errötet, die Frisur löst sich in Locken auf, der Leib rundet sich anmutig und aus ihr wird eine neckische Figur wie bei Boucher. Der Hintern ist mal blass und majestätisch, mal rund und voller fröhlicher Grübchen."

Zitat aus Hörbuch

Die Handlung spielt sich auf engstem Raum ab: In einem abgelegenen Park und dem Herrenhaus darin. Wie Spielfiguren agieren hier Eléonore, Laure und Inès, die drei Gouvernanten. Ihnen sind die "kleinen Jungen" anvertraut. Dann gibt es noch M. und Mme Austere, ihre Auftraggeber, die "Fremden" und den "greisen Mann", der vom Haus gegenüber alles mit seinem Fernrohr betrachtet. Kurz könnte man meinen, M. Austere sei der Dreh- und Angelpunkt der merkwürdigen Geschehnisse in dieser Welt, doch auch das stellt sich als Trugbild heraus.

"Er äußerste seinen Unmut und forderte ein wenig mehr Ordnung, er benutzte sogar das Wort Anstand. Aber sie hörten ihn nicht. Sie gingen weiter blind und emsig ihren Beschäftigungen nach, wichen ihm aus, wenn sie ihn kreuzten, ließen ihn somit spüren, dass er im Weg stand, keinen Nutzen hatte, eine Art Hinkelstein – dessen ursprüngliche Bestimmung längst vergessen war."

Zitat aus Hörbuch

Genauso wie einem Autor - hat seine Geschichte einmal Fahrt aufgenommen - die Figuren aus den Händen gleiten und ein Eigenleben entwickeln, genauso werden die drei Gouvernanten unkontrollierbar. Sie tun und lassen, was ihnen gefällt. Klettern nackt auf Bäume, schwingen Peitschen, verschlingen Männer, springen in eiskaltes Wasser. In ihrer überbordenden Erotik und Impulsivität erinnern sie bisweilen an Mänaden.

"Es kommt nicht alle Tage vor, dass hier gejagt wird, allzu oft fehlt es an Wild. Dieses hier wird nach allen Regeln der Kunst gepackt, geleckt, gebissen und aufgefressen werden und wenn er sich restlich verausgabt hat, werden sie von ihm ablassen."

Zitat aus Hörbuch

Doch die drei Gouvernanten, so allmächtig und unabhängig sie zunächst auch erscheinen - sind es nicht. Auch sie hängen wie alle anderen Figuren wie Puppen an dünnen Fäden, sind merkwürdigen Mechanismen ausgeliefert und haben keinen freien Willen. Das "goldene Tor" des Parks hält sie gefangen und obwohl sie immer wieder vom Leben "draußen" träumen, bleiben sie stets das gleiche Drei-Gespann am selben Ort. Wer mag, kann darin ein Bild menschlicher Bedingtheit sehen.

"Warum sollten sie auseinander gehen? Um zu leben? Und wo? In einem Haus, in dem mehr Trubel herrscht als hier? Auch dort würde jemand die Züge von M. Austere annehmen, jemand anderes die des greisen Herren, der Fremden, der Heiratskandidaten. Überall das selbe Gartentor, der selbe Park, überall die selbe Welt."

Zitat aus Hörbuch

Die Geschichte lebt von sprachlicher Finesse und Sprachlust. Als Hörbuch gewinnt sie eine 3. Dimension hinzu. Denn Therese Hämer gelingt es, das Schillern der Sprache, ihren Witz, ihre kleinen oft spöttischen Nuancen zum echten Hörgenuss zu machen. "Die Gouvernanten" sind aber keine reine Spielerei, sondern stecken voller Anspielungen, scharfer Beobachtungen und überraschender Gedanken. Ein Hörbuch, das man unbedingt mehr als einmal anhören sollte.

"Die Gouvernanten" von Anne Serre – übersetzt von Patricia Klobusiczky und gelesen von Therese Hämer - ist auf 1 MP3-CD bei Der Diwan erschienen, ET 4.9.2023.


0