Hörbuch der Woche Hermynia Zur Mühlen: "Unsere Töchter, die Nazinen"
In der Weimarer Republik nannte man sie die "Rote Gräfin": Hermynia zur Mühlen, geboren 1883 in Wien. Selbst aus einer adeligen Familie stammend rebellierte sie gg. die Aristokratie u. wurde in den 1930er Jahren zu einer erbitterten Gegnerin der Nationalsozialisten. 1933 flüchtete sie nach Österreich, später emigrierte sie in die Tschechoslowakei u. dann nach England, wo sie 1951 starb. In ihrem 1935 in Österreich erschienenen u. kurz darauf auch verbotenen Roman "Unsere Töchter, die Nazinen" beschreibt sie aus der Sicht dreier Mütter, welche Faszination der Faschismus auf ihre Töchter ausübt.
"Alle Parteien haben uns enttäuscht. Wir müssen den Nationalsozialisten Gelegenheit geben zu zeigen, was sie können. Sie werden dem deutschen Arbeiter helfen. Sie werden das raffende Kapital beseitigen, sie werden die großen Betriebe verstaatlichen, sie werden uns von den Friedensverträgen befreien und unser Land wird wieder stark werden, ein mächtiger Arbeiterstaat."
Zitat aus Hörbuch
Toni Gruber ist überzeugt – die Nationalsozialisten kennen einen Ausweg aus der Misere vieler Arbeiterinnen und Arbeiter, die wegen der Weltwirtschaftskrise ihren Job verloren haben und nun nur noch von der Hand in den Mund leben. Toni selbst musste ihre Arbeit in einer Fabrik aufgeben und hängt nun frustriert in der Luft. Ihre Mutter hingegen, selbst Arbeiterin und eine überzeugte Sozialdemokratin, ist entsetzt, als ihre Tochter ankündigt, bei der anstehenden Wahl des Reichspräsidenten die NSDAP zu wählen.
"'Das ist doch nicht Dein Ernst, Toni. Das kannst Du nicht, das darfst Du nicht tun.'
'Lass mich Mutter' hat sie erwidert. 'Das muss ein jeder mit sich selbst ausmachen' Die Wut ist mich angekommen und ich hab ganz laut geschrien: 'Du gehst mir in keine Nazi-Versammlung mehr! Du wirst nichts mehr mit dem Pack zu tun haben.'"
Zitat aus Hörbuch
Was passiert in einer Beziehung zwischen Mutter und Tochter, wenn sich das Kind den eigenen Werten und Überzeugungen entzieht? Wieviel Entfremdung hält sie aus? Das ist eine der Grundfragen in Hermynia Zur Mühlens 1934 verfasstem Roman: "Unsere Töchter, die Nazinen". Zur Mühlen, in den 1920er Jahren eine erfolgreiche Schriftstellerin, deren Bücher dann von den Nazis verboten wurden, porträtiert darin drei Frauen, deren Töchter den Versprechungen der Nationalsozialisten erliegen. Zwei der Frauen, die allesamt aus einer idyllischen Kleinstadt am Bodensee stammen, die Arbeiterin Kathi Gruber und die Gräfin Agnes, blicken voller Abscheu und Entsetzen auf die Wandlungen ihrer Töchter und kämpfen gegen ihre neuen Gesinnungen an. Die Arztgattin Martha Feldhüter dagegen ist stolz auf den Eintritt ihrer Tochter in die NSDAP und findet Gefallen an den brutalen Aktionen der SA und SS. Voller Kalkül nutzt sie den politischen Umbruch für ihren eigenen gesellschaftlichen Aufstieg.
"Es ist eine Lust zu leben. Ein Glück, das uns allen vergönnt wurde, das Werden des neuen Deutschland zu schauen, das Erwachen einer Nation."
Zitat aus Hörbuch
Drei Frauen, drei extrem unterschiedlich gezeichnete Figuren. In der Hörbuchausgabe werden alle drei von der gleichen Sprecherin interpretiert: Julia Cortis. Engagiert und leidenschaftlich schlüpft sie in die verschiedenen Rollen und verleiht den drei Figuren, mal vornehm und zart, mal gerade heraus und entschieden, mal bissig und überheblich, die nötige Kontur.
Auf angenehme Weise unterbrochen wird die insgesamt 6-stündige Lesung immer wieder von Musiksequenzen der Komponistin Ilse Fromm-Michaels, deren Werke während der Nazi-Herrschaft ebenfalls verboten waren.
Was passiert in einer sozial gespaltenen Gesellschaft? Wer profitiert davon? Wer wird zum Mitläufer? Wer bleibt widerständig? Der Roman "Unsere Töchter, die Nazinen" hinterfragt aus weiblicher Sicht die weibliche Beteiligung und Haltung zum Nazi-Aufschwung und macht damit eine neue, und vor allem zum Zeitpunkt seines Entstehens, außergewöhnliche Perspektive auf. Die ungekürzte Lesung ist auf einer mp3-CD beim Verlag "Gelesenes Sach- und Fachbuch", kurz GESAFA, erschienen.