Hilary Mantel "Geister als Erkundung von Möglichkeiten"
Mit ihrer Tudor-Trilogie gewann Hilary Mantel zwei Mal den Booker-Preis. Jetzt ist ihre Autobiografie in deutscher Sprache erschienen: "Von Geist und Geistern". Die wichtigste Schriftstellerin Großbritanniens im Porträt.
Liebe – und Tod. Darum geht es. Die Tudor-Rose. Gründungsmythos einer Nation. Die Loslösung von Rom. Unabhängigkeit der Insel. Unter Heinrich VIII. war das. Nie war englische Geschichte mythenhafter als zur Zeit der Tudors – so bigger than life.
"Das ist die ultimative Story: Adel, Sex und Gewalt. Das ist unschlagbar. Und wir haben diesen König. Dieses Monster. Wie aus einem Mythos oder einem Märchen. Er hat sechs Frauen und lässt zwei von ihnen hinrichten. So was kann man sich nicht ausdenken oder erfinden."
Hilary Matel
Eine schwierige Kindheit
Mantels Werke sind keine bloßen Historienromane, sondern brillante Abhandlungen über Gier und Intrige – die Chemie der Macht.
Mit Despotismus kennt sich Hilary Mantel aus. Sie hat das erlebt. In ihrer Kindheit. Das beschreibt sie in ihrer Autobiografie "Von Geist und Geistern". Ihre Mutter lebt mit Hilarys Vater und ihrem Stiefvater unter einem Dach. Die Tochter ist eine Gefangene.
"Ich wuchs in einer Familie auf, die viele Probleme hatte; viele Geheimnisse. Gelenkt von zwei äußerst mächtigen Persönlichkeiten: meiner Mutter und meinem Stiefvater, die sich ständig stritten. Für Kinder schafft das eine angespannte Atmosphäre. Immer versuchst du dich zu schützen, vor etwas, das du nicht richtig verstehst. Du kennst die Regeln nicht. Sie scheinen sie laufend zu ändern. Und deshalb fühlst du dich nie sicher."
Hilary Mantel
Von den Nachbarn wird Hilarys Familie argwöhnisch beobachtet. Im Haus herrscht permanent eine Atmosphäre latenter Furcht und Bedrohung. Das Mädchen merkt: auch den Erwachsenen geht es nicht anders. Auch sie haben Angst. Nur spricht keiner mit ihr darüber. Sie weiß: niemand hier kann sie schützen.
Geister in Form von verpassten Möglichkeiten
Das Leben als eine Kette von Traumata. Umso erstaunlicher ist diese Autobiografie. Klar, voll bösem Witz. Und frei von Sentimentalität. Mit 19 wird Hilary krank. Unerträgliche Schmerzen. Jahrelang wird sie falsch behandelt. Bekommt Psychopharmaka. Tatsächlich leidet sie unter Endometriose – Unterleibswucherungen. Operation. "Von Geist und Geistern" ist auch ein Buch über Phantomschmerzen.
"Die gesamten Lebenserinnerungen beschäftigen sich sehr damit, was Geister sind. Und dabei geht es nicht um Tote, die in weißen Laken erscheinen. Es geht um deine Geister – die verpassten Möglichkeiten in deinem Leben. Die Kinder, die du nicht bekommen hast. Den Weg, den du nicht gegangen bist. Die Wahl, die du nicht getroffen hast. All diese Dinge können wieder auftauchen und uns heimsuchen. Man könnte sagen: Es ist die Erkundung von Möglichkeiten."
Hilary Mantel
Gefühle, die man ausspricht, verlieren dadurch an Kraft. Sagt Hilary Mantel. Als sie ganz klein war, bei ihrer Großmutter, habe es nach Vanille gerochen. Später vor allem nach feuchten Wänden. Und dann: nach Tinte. Da hatte sie begonnen, ihre eigene Welt zu schaffen.
BUCH-TIPPS
Hilary Mantel
"Von Geist und Geistern"
DuMont Verlag
Hilary Mantel
"Wölfe"
DuMont Verlag
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"Falken“
DuMont Verlag