Türkei Ende des Friedensprozesses
Es sieht aus wie eine Völkerwanderung: Ein ganzes Stadtviertel scheint auf den Beinen. Jeder nimmt mit, was er irgendwie tragen kann – Massenflucht…
Wir sind in der Altstadt von Diyarbakir - vor noch nicht allzu langer Zeit ein Touristenziel. Seit zwei Monaten tobt hier, wie in mehreren Städten im Südosten der Türkei, ein blutiger Konflikt: Militär und Polizei auf der einen Seite, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und deren Jugendorganisation "YDG-H" auf der anderen Seite. Zwischen den Fronten: Zehntausende Kurden. In vier Stunden wird auch hier Ausgangssperre herrschen. Nun flieht, wer kann - mit so vielen Habseligkeiten wie möglich. Geschätzt 100.000 Menschen sollen insgesamt in den kurdischen Gebieten ihre Häuser verlassen haben.
Einmal verhängte Ausgangssperren können Wochen andauern. Aus Wohngebieten werden dann Kampfzonen. Zum Einsatz kommen dabei auch schwere Waffen. Wer zu Hause bleibt, ist eingesperrt, abgeschnitten von jedweder Versorgung, meist ohne Wasser, Heizung und Strom sowie in ständiger Lebensgefahr, selbst in seinen eigenen vier Wänden…
"Ich bin schon einmal geflohen, als in meinem Wohnort Ausgangssperre verhängt wurde. Jetzt muss ich schon wieder fliehen. Ich konnte nur die Kleider mitnehmen, die ich anhabe. 5000 Wohnungen müssen diesmal verlassen werden. Wo sollen deren Bewohner nun irgendwo was Neues finden?"
Bewohner auf der Flucht
"Das ist ein zweites Syrien hier. Es geht dabei nicht um die Bevölkerung, denn die ist denen, die die Fäden ziehen, völlig einerlei."
Ein anderer Bewohner auf der Flucht
Szenen wie diese sind es, die in vielen kurdischen Städten seit Wochen Angst und Schrecken verbreiten. Selbst die Beisetzung von Getöteten – laut türkischer Menschenrechtsstiftung sollen es inzwischen etwa 200 Zivilisten sein – ist lebensgefährlich.
Bilder des Grauens, nach Jahren der Hoffnung. Zwischen 2012 und dem Sommer letzten Jahres gab es im Lande Atatürks den sogenannten "Friedensprozess". Nach 30 Jahren Kampf zwischen türkischen Sicherheitskräften und der kurdischen Guerilla mit mehr als 40.000 Toten ging die Regierung Erdogan auf den inhaftierten PKK-Führer Öcalan zu. Es gab Verhandlungen und Übereinkünfte. Im Kern einigte man sich auf schrittweise Entwaffnung und Rückzug der PKK gegen mehr Selbstbestimmungsrechte für Kurden.
Die türkische Wirtschaft jubilierte. Sie sah große Potentiale, ist doch jeder fünfte Inhaber eines türkischen Passes Kurde. Der Frieden lockte Investoren. Der Südosten erlebte ein kleines Wirtschaftswunder.
Doch bereits im Herbst 2014 geriet der "Friedensprozess" ins Stocken: Die kurdisch-syrische Grenzstadt Kobane wurde vom selbsternannten "Islamischen Staat“ angegriffen. Über Wochen drohte sie erobert zu werden, ehe es mit Hilfe von US-Luftschlägen gelang, Kobane zu befreien. Die türkische Armee sah dabei tatenlos zu, und die Regierung verweigerte jede Hilfe für die kurdischen Verteidiger. Türkeiweit kam es zu Massendemonstrationen. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte.
Das endgültige Aus erfuhr der "Friedensprozess" schließlich durch den Bombenanschlag von Suruc im Juli 2015.
Danach kommt es zu großangelegten Bombardements der türkischen Armee von PKK-Stellungen im Nordirak und im Südosten des Landes. Kritiker unterstellen der islamisch-konservativen AKP-Regierung dabei ein Kalkül: Nach der verlorenen Wahl vom Juni 2015 habe man im rechten Wählerspektrum Mehrheiten für sich gewinnen wollen. Beweisen allerdings läßt sich das nicht. Gleichwohl: Im November gewinnt die Regierungspartei im zweiten Wahlgang klar.
Das harte Durchgreifen türkischer Sicherheitskräfte in vielen kurdischen Städten im Südosten des Landes in diesen Wochen, es ist ein weiterer Schritt eines großangelegten Kampfes gegen die PKK. Und der macht auch zehntausende von Zivilisten zu Opfern.
Der Geschäftsmann Yilmaz Acu versucht Helfer in der Not zu sein. Er sammelt Geld und Kleider für Flüchtlinge. Denn zum Beispiel in der Altstadt von Diyarbakir sind viele schlicht zu arm, um sich einen Umzug leisten zu können. Die Mieten in den noch friedlichen Außenbezirken der Stadt sollen sich in den letzten Wochen verdoppelt haben.
"Um es in aller Offenheit zu sagen: Es ist die Zivilbevölkerung, die zwischen die Fronten gerät! Es ist eine Sünde von beiden Seiten, die hier stattfindet."
Yilmaz Acu
Der ungleiche Kampf zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK-Gruppen: Er frisst sich regelrecht durch kurdische Städte. Schlagen Polizei oder Armee an einem Ort mit der Übermacht ihrer Waffen hart zu, zieht sich der Gegner zurück und eröffnet andernorts ein neues Schlachtfeld – mit neuen zivilen Opfern. Denn keine der Konfliktparteien scheint auf die normalen Bürger Rücksicht zu nehmen.
Nach zwei Monaten bewaffneter Auseinandersetzung ist die medizinische Versorgung an vielen Konfliktplätzen katastrophal. Der Müll bleibt auf den Straßen liegen. Es gibt kein fließendes Wasser, keinerlei Versorgung. Ärzte schlagen Alarm.
"Egal ob Guerilla oder Polizist: Oft liegen sie wegen gegenseitigem Beschuss tagelang tot auf den Straßen. Es drohen Seuchen."
Cengiz Günay, Ärztekammer Diyarbakir
Auch die Tochter dieser Frau liegt tot auf der Straße. Rozerin wurde gerade mal 16 Jahre alt. Seit mehr als drei Wochen kann sie nicht beigesetzt werden.
"Rozerin trug ihre Schuluniform, als sie erschossen wurde. Mit Politik hat sie nichts zu tun!"
Fatima Cukur
Seit Monaten hat es keine ernsthaften Versuche, auf dem Verhandlungsweg die Waffen zum Schweigen zu bringen gegeben. Nun droht der Konflikt noch mehr zu eskalieren.
Viele politische Beobachter halten eine Ausweitung des Konflikts in die westtürkischen Städte, zum Beispiel Istanbul, für nicht unwahrscheinlich. Untergliederungen der PKK haben entsprechende Drohungen ausgesprochen.
Auf die Türkei dürften weitere unruhige Wochen zukommen…