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Estland Angst vor Putin?

Neben der alten Festung von Narva weht die estnische Flagge. Und doch beginnt Russland nicht erst auf der anderen Seite der Brücke, die die Grenze zwischen beiden Staaten markiert.

Von: Christian Sieh

Stand: 04.05.2014 | Archiv

Die Festung von Narva | Bild: BR

Denn über 90 Prozent der Einwohner sind russischer Abstammung. Auf den Straßen Narvas wird Russisch gesprochen. Die Entwicklung in der Ukraine verfolgen die meisten in den russischen Medien. Die Meinungen gehen dennoch auseinander:

"Was Putin in der Ostukraine macht, ist schon in Ordnung. Es ist gut, dass er etwas gegen die Faschisten in der Ukraine unternimmt."

Straßenumfrage

"Russland hat doch eh schon große wirtschaftliche Probleme. Wozu brauchen sie noch die arme Ostukraine?"

Straßenumfrage

"Wenn ich sehe, was dort geschieht, muss ich weinen. Hier in Narva wird so etwas nichts passieren. Die Menschen hier sind nicht so heißblütig."

Straßenumfrage

Die Grenze zwischen Estland und Russland

Rund die Hälfte der Russischstämmigen in Narva sind keine estnischen Staatsbürger. Sie dürfen an den Kommunal-, nicht aber an den Parlamentswahlen teilnehmen. Mit ihrem sogenannten "Grauen Pass" dürfen sie sich im Schengenraum frei bewegen, und auch überall dort arbeiten.

Nina Zaitseva

Das ist viel Wert in einer Stadt wie Narva, wo fast jeder Dritte arbeitslos ist. Die Textilfabrik Kreenholm machte vor vier Jahren dicht – zu Sowjetzeiten ein Vorzeigekombinat, das den Menschen in Narva Lohn, Brot und Anerkennung gab. So auch Nina Zaitseva, die 37 Jahre ihres Leben in der Fabrik gearbeitet hat.

"Das war eine schöne Zeit. Wir waren stolz hier zu arbeiten. Wir waren überall in der Sowjetunion hoch angesehen, weil wir hier gearbeitet haben."

Nina Zaitseva, Russischstämmige

Die sowjetische Vergangenheit – sie ist allgegenwärtig in Narva. Zwar musste die Leninstatue aus dem Stadtzentrum weichen, in eine Ecke des Festungsplatzes. An seinem Geburtstag am 22. April ehren die Menschen ihn auch heute noch mit Blumen.

Die Studenten am Narva-College kennen die Sowjetunion nur aus dem Geschichtsunterricht. Die meisten von ihnen kommen aus der Region Narva, haben russische Wurzeln.

Für junge Menschen, beklagt die 23-jährige Sascha, sei die Stadt alles andere als attraktiv:

"Narva ist anders als der Rest Estlands. Hier ist alles unterentwickelt. Die Straßen, die gesamte Infrastruktur, alles ist heruntergekommen. Und es tut sich nur sehr langsam etwas."

Sascha Gorohhova, Studentin

Die meisten ihrer Freunde sind weg aus Narva, in die Hauptstadt Tallinn oder nach Westeuropa. Sascha hat für kurze Zeit in England gearbeitet. Wegen der Ausbildung ist sie dann zurückgekommen. Jetzt studiert sie Estnisch und Sozialpädagogik. Auch wenn es in Narva nur langsam vorrangehe, zieht es sie nicht weg, schon gar nicht nach Russland.

"Ich bin mir sicher, dass auch die anderen Russischstämmigen in Narva nicht Russland beitreten wollen. Wir sind bereits in der EU und in der NATO. Wir wollen keine Probleme. Alle hier wollen normal leben, ihre Kinder erziehen, arbeiten."

Sascha Gorohhova, Studentin

Katri Raik leitet das Narva-College. Sie ist eine von etwa 2000 Esten in der Stadt, die nur knapp vier Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die Esten in Narva: Eine Minderheit im eigenen Land.

"Ich bin etwas aufgeregt wie ganz viele Menschen in Estland. Wenn wir sehen, wie viele Nato-Flugzeuge im Moment in Estland sind und was in unserem Militär zurzeit los ist, wie viele Gäste wir im Moment haben aus den USA oder aus Großbritannien, dann verstehen wir alle, dass wir müssen vorsichtig sein. Etwas Angst ist da. Aber das ist in dieser Situation natürlich normal."

Katri Raik, Leiterin Narva College

Die estnische Gemeinde in Narva, die von Pfarrer Villu Jürjo geleitet wird, umfasst gerade mal 50 Mitglieder. Die Esten bleiben meistens unter sich. Im Kirchenchor seiner Frau singen aber auch Russen. Mit ihnen kommt es hin und wieder zu Diskussionen über die Lage in der Ukraine.

"Einer meiner russischen Sänger beschwerte sich, dass Estland der Ukraine medizinische Hilfe gegeben hat. Aber wir haben das Thema schnell beendet, sonst hätte es nur Streit gegeben."

Tuuliki Jürjo, leitet den Kirchenchor

Und wenn der Konflikt von draußen nach Narva getragen werden würde? Was wäre, wenn die Menschen auch hier auch über ihre Zugehörigkeit zu Russland abstimmen wollten?

"Wenn jetzt in Narva so etwas durch irgendeine Bewegung in Gang gesetzt werden sollte, würde hier die Mehrheit darüber lächeln. Das würde hier niemand ernst nehmen."

Villu Jürjo, Pfarrer der estnischen Kirchengemeinde

Ants Liimets

Als Russischstämmiger kann man ohne große Probleme nach Russland reisen. St. Petersburg ist nicht weit. Das Leben dort ist im Vergleich zu Estland sehr teuer. Für den Vorsitzenden der estnischen Gemeinschaft in Narva ist das nur ein Grund, warum es die Einwohner Narvas nicht nach Russland drängt.

"Ich halte es für unwahrscheinlich, dass es in Narva zu Abspaltungsbewegungen kommt. In Estland sind die Renten höher, die Qualität der Waren und Dienstleistungen besser als in Russland. Außerdem haben wir eine funktionierende Bürokratie und spürbar weniger Korruption. Das sagen selbst die Russen, die zu uns über die Grenze kommen."

Ants Liimets, Vorsitzender Estnische Gesellschaft Narva

Den Russen in Narva sei es damals in der Sowjetunion vielleicht besser gegangen als heute. Ihre Heimat ist aber nicht das heutige Russland, sagt Nina Zaitseva. Ihre Heimat, das sei nun mal Estland.

"Hier bin ich aufgewachsen, hier lebe ich fast seit 70 Jahren. Wir haben hier studiert und gearbeitet. Und wir können durch ganz Europa reisen. Narva ist unser Zuhause, auch wenn wir es momentan schwer haben."

Nina Zaitseva

Wenn der estnische Pfarrer Jürjo dieser Tage auf seinen Kirchturm steigt, blickt er ohne Sorge auf Russland. Die Ukraine ist weit weg und die Lage hier in Narva nun mal eine vollkommen andere.

"Wir Esten in Narva sind ja nur eine kleine Minderheit. Und wenn uns von außen Gefahr droht, werden uns unsere russischstämmigen Mitbürger schon davor beschützen. Auch wenn sie aus Russland selbst kommt."

Villu Jürjo, Pfarrer der estnischen Kirchengemeinde

Die Menschen in Narva lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, auch wenn sie in unruhigen Zeiten leben.


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