Estland Angst vor den Russen
Estlands Hauptstadt Tallinn verfügt über einen der größten noch erhaltenen mittelalterlichen Stadtkerne Europas. Das kleine Land an der Ostsee musste sich immer wieder gegen Feinde zur Wehr setzen – davon zeugt die mächtige Stadtmauer. Und auch heute fühlen sich wieder viele Esten bedroht.
"In der Ukraine hat sich Russland sehr unverschämt benommen und deshalb ist es auch für uns so unberechenbar."
Straßenumfrage
"Es ist Russlands Strategie, uns mit unserer russischen Minderheit Probleme zu schaffen."
Straßenumfrage
"Ich habe russischstämmige Bekannte. Die unterstützen alle Putins Politik."
Straßenumfrage
Die baltischen Staaten wurden 1945 von der Sowjetunion besetzt und konnten erst 1990 ihre Unabhängigkeit wieder erlangen. Vor allem in Estland und Lettland wurde während der Sowjetzeit eine große russische Minderheit angesiedelt. Außerdem hat Estland eine über 300 Kilometer lange gemeinsame Grenze mit Russland. Lange kein Grund zur Sorge.
Aber jetzt, seit der Ukrainekrise ist die Angst vor den Russen wieder da.
Die estnische Bürgerwehr hat derzeit einen rasanten Mitgliederzuwachs. Etwa 40 Männer und eine Frau sind auf dem Weg zu einer Wehrübung am Stadtrand von Tallinn. Wie etwa tausend andere auch ist Indrek Tamberg nach der russischen Annexion der Krim dazu gestoßen. Einmal im Monat trainiert der Umweltingenieur seitdem seine Kampfbereitschaft. Zwar ist Estland NATO-Mitglied, aber diese freiwilligen Mitglieder der Bürgerwehr wollen im Ernstfall selbst eine Waffe in die Hand nehmen; das, so ihre Meinung, sind sie ihrem Land schuldig.
"Eigentlich mag ich keine Waffen und für Kriegsspiele habe ich auch nichts übrig. Aber anders ist es nun mal nicht möglich, uns und unser Land zu verteidigen."
Indrek Tamberg, Bürgerwehr Kaitseliit
Indrek Tamberg wohnt in Nõmme, einem grünen Stadtteil im Nordosten Tallinns. Er will, dass seine beiden Töchter weiterhin in einem unabhängigen Estland aufwachsen. Die Besetzung durch die Sowjetunion, in deren Folge über 10.000 Esten nach Sibirien deportiert wurden, war eine traumatische für das Land. So etwas darf nicht noch einmal geschehen, meint Indrek Tamberg:
"Die Ukraine und Russland waren einmal zwei befreundete Staaten und nun plötzlich dieser Krieg so nah vor unserer Haustür. Wenn man bedenkt, wie schlecht die Beziehungen zwischen Estland und Russland gerade sind, dann ist es einfach an der Zeit, sich auf die Verteidigung der Heimat vorzubereiten."
Indrek Tamberg
Von Tallinn nach Narva: Hier im Nordosten Estlands treffen zwei Welten aufeinander. Das russische Iwangorod auf der linken Flussseite und die Hermannsfeste von Narwa auf der anderen. In der estnischen Grenzstadt sprechen fast alle Bewohner im Alltag Russisch. Die rigide Integrationspolitik Estlands seit der Unabhängigkeit konnte daran nichts ändern. Nun geht die Angst um, dass die russische Minderheit Putin als Vorwand dienen könnte, um nach der Ukraine nun auch in Estland einzugreifen.
In einigen Tagen wird eine neue russisch-orthodoxe Kirche eingeweiht. Kulturmanager Grigorij Malyschkin ist für die Technik bei der Feier verantwortlich. Er bespricht die letzten Details mit seinen Kollegen - auf Russisch, denn die Landessprache Estnisch kann er nicht. Grigorij ist ein sogenannter Nichtbürger. Um die estnische Staatsbürgerschaft zu erhalten, müsste er eine Sprachprüfung in Estnisch ablegen. Das kränkt ihn:
"Die Sprache ist ziemlich kompliziert. In der Schule wurde sie mir nicht beigebracht, weil es nicht genügend Estnisch-Lehrer gab. Und jetzt, wo ich schon relativ alt bin, fällt es mir sehr schwer, sie zu lernen. Vielleicht bin ich auch selbst ein bisschen schuld daran, weil ich zu faul bin. Aber ich bin doch hier geboren und aufgewachsen. Ich finde es ungerecht, dass man mir die estnische Staatsbürgerschaft vorenthält."
Grigorij Malyschkin, 'Nichtbürger'
So wie Grigorij sind in Narwa 15 Prozent der Einwohner staatenlos. 36 Prozent haben einen russischen Pass und nur 47 Prozent besitzen die estnische Staatsbürgerschaft.
Der baltische Staat wurde wegen seines strengen Einbürgerungsgesetzes oft kritisiert, auch von der EU. Und jetzt rächt es sich, dass viele Russischstämmige sich als Bürger zweiter Klasse fühlen. Insgesamt leben in Estland rund 350.000 ethnische Russen.
Die Universität in Narva wurde Ende der 90 Jahre gegründet, um die jungen Menschen in der Stadt zu halten. Vorher zog es viele zum Studieren ins nahe St. Petersburg. Die Unterrichtssprache ist vor allem Russisch. Jekaterina Kolesowa hat einen russischen Pass, weil es ihre Eltern so für sie entschieden haben. Inzwischen ist sie froh darüber:
"Ich kann mir vorstellen, die die Russen hier sich irgendwann Russland anschließen wollen. Die Esten wollen natürlich, dass die Stadt estnisch bleibt. Mit meinem russischen Pass kann ich jedenfalls in Russland leben und bin dort in Sicherheit."
Jekaterina Kolesowa, Sozialpädagogikstudentin
Andere fühlen sich hier in Narva zwischen den Welten ganz wohl: Auch die Kulturmanagerin der Universität ist eine sogenannte Nichtbürgerin. Zwar kann sie keine Beamtin werden und nicht wählen, aber mit ihrem grauen Pass, der sie als Staatenlose kennzeichnet, ist sie trotzdem zufrieden:
"Ich habe ihn seit meiner Geburt und er hindert mich nicht daran, hier zu leben und zu arbeiten. Außerdem kann ich ohne Visum in die EU und auch nach Russland fahren Ansonsten ist es ein Pass wie jeder andere auch."
Anna Markova, Kulturmanagerin Universität Narva
Grigorij Malyschkin wohnt mit seiner Familie im typischen Plattenbau aus der Sowjetzeit.
Mangels Alternativen schaut er – wie fast alle in Narva – die russischen Fernsehsender an und setzt sich so täglich deren Staatspropaganda und der Stimmungsmache gegen den Westen aus. Grigorij glaubt nicht alles, was er hier zu hören bekommt, doch Spuren hinterlässt die Desinformationskampagne des Kremls schon.
In Tallinn hat man nun endlich erkannt, wie gefährlich es ist, den russischen Medien nichts entgegenzusetzen. Seit September ist ein russischsprachiger Kanal des estnischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens auf Sendung. Junge, zweisprachige Journalisten versuchen durch regionale Informationen die Verbundenheit der russischen Minderheit mit Estland zu fördern. "Das hätten wir schon vor 25 Jahren machen sollen", ist inzwischen die einhellige Meinung, "nicht nur hier im Sender."
Ob jetzt die Gräben noch überbrückbar sind?