Estland Angst vor Russland
Seit einer Stunde liegt Marianne jetzt auf ihrem Wachposten, beobachtet die Umgebung. Plötzlich Schüsse, von irgendwo her aus dem Wald. Und niemand weiß so recht, von wo.
Dann hat das Gewehr der jungen Frau eine Ladehemmung, die Übungsmunition verhakt sich im Magazin. Seit mehr als 24 Stunden trainiert Marianne schon mit ihrer Einheit im Osten Estlands. Immer wieder werden sie angegriffen: laut Drehbuch des Manövers sind britische Soldaten heute ihre Gegner.
"Soweit wir wissen, sind da drüben 15 Briten. Mal schauen, was passieren wird. Eigentlich sind wir ja in der Überzahl."
Marianne Kikas
Die Kaitseliit, Estlands Bürgermiliz, übt in den Wäldern. Sie soll bei einem Angriff von außen die kleine reguläre Armee unterstützen. Der Staat finanziert die Freiwilligen-Truppe: 25.000 Wochenendsoldaten, die mindestens fünfmal pro Jahr ins Manöver ziehen müssen – Vorschrift bei den Kaitseliit.
Marianne ist seit zwei Jahren dabei:
"Ich mache es aus Pflichtgefühl fürs Vaterland. Jeder muss doch etwas beitragen. Estland ist ein kleines Land. Unser Wunsch, dass es ein unabhängiges Land bleibt, das motiviert mich."
Marianne Kikas
Nicht alle von Mariannes Freunden verstehen, warum die 25-Jährige ihre Wochenenden im Matsch verbringt.
Häufig ist es ihr Vater Indrek, der sich die Abenteuer seiner Tochter anhören darf. Er war anfangs skeptisch, als sie ihm erzählte, bei der Bürgermiliz mitmachen zu wollen.
"Ich hab mir gedacht: Das muss sie selbst wissen."
Andrek Kikas
"Beim ersten Mal hast Du gesagt, das ich mit meinen hohen Absätzen im Boden versinken würde und dass mein Handy viel zu schnell leer wäre."
Marianne Kikas
"Sie war halt ein richtiges Mädchen. Ich konnte sie mir im Wald kaum vorstellen, sie ist ja ein Stadtkind. Aber inzwischen geht es wohl besser."
Andrek Kikas
Die Miliz – ein Querschnitt durch die estnische Gesellschaft: Handwerker sitzen hier auf der Ladefläche, Lehrer, Angestellte, Unternehmer.
Wer keinen Krieg will, der muss sich darauf vorbereiten, so erklärt uns Marianne, warum sie sich diesen Strapazen immer wieder antut. Die Esten sind Patrioten. Seit der Ukrainekrise fühlen sich viele durch den russischen Nachbarn bedroht. Diese Angst motiviert so manchen zusätzlich.
"Ich stamme aus der Generation, die noch die Sowjetunion erlebt hat, die alte Staatsordnung. Daher gebe ich mich keinerlei Illusionen hin. Wir leben hier, das ist unsere Heimat. Und ist es ja nicht zu bestreiten, dass es seit den Ereignissen in der Ukraine viel Aufregung hier in der Region gibt."
Janus Peet, Kompanieleiter
Aber könnten die Freizeitsoldaten überhaupt etwas ausrichten, wenn es ernst würde? Selbst der Kompaniechef ist da skeptisch:
"Wir können uns nicht mit richtigen Soldaten vergleichen. Das sind Profis, wir sind nur Amateure."
Janus Peet, Kompanieleiter
Alle, die hier dabei sind, fühlen sich unsicher in diesen Zeiten und üben deshalb immer häufiger direkt an der Grenze, an diesem Wochenende am Peipussee. Auf der anderen Uferseite liegt Russland. Es sind nur ein paar hundert Meter von hier bis zur Grenzlinie in der Mitte des Sees. Nicht nur die estnischen Freizeitsoldaten trainieren in diesen Wochen an der Ostgrenze; die NATO führt ihre Herbstmanöver durch. Die lässigen GIs mit ihrem schweren Kriegsgerät – Marianne und ihre Kameraden sind beeindruckt.
Nach zwei Tagen im Wald ist sie erstmal erleichtert, als die Übung am Sonntagmittag zu Ende ist:
"Wenn gleich alles vorbei ist, dann will ich nur noch Ruhe haben. Aber wir müssen ja erst zurückfahren und unsere Ausrüstung reinigen. Ich bin immer froh, wenn wir wieder nach Hause fahren."
Marianne
Am nächsten Morgen dauert es länger, bis Marianne es aus dem Bett schafft. Nur drei Stunden hat sie am Wochenende geschlafen. Der Abenteuerurlaub bei der Miliz – anstrengender als jedes Partywochenende.
"Es ist aber auch wie Urlaub vom Alltag. Man kommt aus seinen Routinen raus, vergisst alles und kümmert sich nur darum, was vor Ort passiert. Deshalb ist es nie langweilig."
Marianne
Ihr Geld verdient sie bei einem Onlineversand, da sind die Arbeitszeiten flexibel. Wichtig an Tagen wie diesen, wenn es länger dauert, sich für den Job zu Recht zu machen.
Schon in zwei Wochen wird Marianne Kikas wieder ins Manöver ziehen, weil sie überzeugt ist, damit einen wichtigen Einsatz für ihr Land zu leisten.